Europa aus dem All

Europa aus dem All betrachtet. © Przemek Pietrak under cc

Dass in unserer Nähe Krieg ist, ist im hypermedialen Zeitalter nicht zu übersehen, die große Gefahr in der Europa steckt ist aber kaum thematisiert.

Es ist das identische Bild, wie bei den anderen Krisen, die ja nicht vorbei sind. Corona macht vermutlich und hoffentlich zumindest die übliche Sommerpause, im Mutantenlotto haben wir bislang gewonnen, hoffen wir, dass es so bleibt. Egal was wir beschließen, wird der Regler beim Klimawandel kontinuierlich mehr aufgedreht. Es mag auch mal ein Jahr ohne Wetterextreme bei uns geben, aber sie werden seltener werden. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen demnächst in Rente, immer weniger Menschen sind da, die das Geld dafür verdienen und Antibiotikaresistenzen winken am Horizont, es gäbe noch viel mehr, aber da ist ja noch der Krieg.

Das Bild sieht so aus, dass sich an den äußeren Polen meinungsstarke und laute, medial inzwischen sichtbare Gruppen bilden, die sich nicht mehr nach konventionellen Mustern wie links/rechts, gebildet/ungebildet, arm/reich auflösen lassen. Extreme Ränder gab es immer, die ausgleichende Mitte wird schmaler und selbst heterogener.

Die große Gefahr

Die große Gefahr, die ich ansprechen will ist nicht der inzwischen gewohnte mediale Krieg zwischen der extremen Enden von ‚Putinverstehern‘ und jenen, die immer schon wussten, wie ‚der Russe‘ so tickt, wie immer wird jede denkbare Blase bestens bedient, hier gibt es keine Versorgungsnot.

Die große Gefahr ist nicht der weltweit eskalierende Atomkrieg, hier gilt noch immer, wer zuerst schießt, ist als zweiter tot. Das beruhigt manche Gemüter. Die große Gefahr ist ein auf Europa begrenzter Krieg, mit neuen Waffensystemen, die man immer schon mal ausprobieren wollte und Europa könnte ein Schauplatz eines großen Stellvertreterkrieges werden. Ganz Europa. Für diese Betrachtung ist es relativ uninteressant, wer der wirklich Böse ist, sondern erst mal zu verstehen, warum das bei Militärs eine Option sein kann.

Ein Angriff auf Russland ist für die NATO tabu, weil Atommacht. Das weiß man dort und reizt diese Karte maximal aus. Was kann man alles tun, bis die NATO reagieren muss und wie wird sie dann reagieren? Den Trumpf hält das System Putin in der Hand, das sich vermutlich zwar verzockt hat, aber dennoch nicht gereizt werden darf, da es offen mit Atomwaffen droht. Der inzwischen schon recht häufig so genannte Stellvertreterkrieg in der Ukraine könnte sich ausweiten. Weiterhin haben weder Russland noch die USA ein Interesse an einer atomaren Eskalation, aber eine Eskalation, die sich auf Europa beschränkt, wäre denkbar.

Russland, den USA, China und Indien würde nichts passieren und gleichzeitig kann man, wenn man sich nun hinreichend bedroht fühlt, alles mal in der Realität ausprobieren und das nicht immer nur in Wüsten. Cyberattacken mit der Möglichkeit zur Beschädigung der Infrastruktur in europäischen Großstädten, also Angriffe auf die Wasser- und Stromversorgung, auf Krankenhäuser, ein bewusstes Abdrehen der Gas- und Ölversorgung, der medialen Versorgung und der Kommunikationssysteme und dergleichen. Mittels eines (N)EMP, einer in großer Höhe gezündete Atomwaffe kann die Elektronik im Umkreis hunderter Kilometer ausfallen, man kann nicht mehr bezahlen, tanken, der Strom ist weg, die Kommunikationssysteme sind zum großen Teil zerstört.

Auch der Einsatz von Hyperschallraketen und taktischen Atomwaffen ist denkbar. Taktische Atomwaffen sind vergleichsweise klein – aber eben nur im Vergleich mit den großen – sie sollen tief in die Erde eindringen und auch ihre Strahlung ist vergleichsweise gering. Der weltweite Fallout wird sich verdünnen, man darf sicher sein, dass die Militärstrategen bereits durchgerechnet haben, was man tolerieren kann, wenn man ein paar hundert Kilometer entfernt ist. Das kleine und dicht besiedelte Europa wäre mitten drin, statt nur dabei. Europa würde in weiten Teilen untergehen, in anderen Teilen der Welt würde man das halbwegs überstehen.

Wir sind mal das Opfer

Die simple Frage ist, was die Militärs davon abhalten sollte. Staaten und andere Systeme sind von ihrer Konstruktion nicht in der Lage zu Freundschaften. Auch Staatsrepräsentanten müssen Interessen vertreten, auch wenn sie sich persönlich mögen oder unangenehm finden können. Es geht um Interessen, Europa sollte also interessant sein. China treibt regen Handel mit Europa, der mit Russland macht im Vergleich dazu nur 10% aus. Aber China ist nach außen dezent. Den US-Militärs könnte eine Eskalation in Europa schlicht unpassend kommen, weil man sich im Grunde um China kümmern will. Auf der anderen Seite ist Krieg auch ein Markt, ein Geschäft und außerdem will man von Zeit zu Zeit mal schauen, ob die Computermodelle die echten Bedingungen gut genug berechnen. Wer Strategiespiel rein steckt, kriegt auch Strategiespiel raus, was wir als Menschlichkeit bezeichnen, findet oberhalb dieser Rechenspiele statt.

Gewiss sind nicht alle Militärs emotionale Analphabeten, aber sie hängen in den Begrenztheiten ihres Systems, das nur Strategiespiele kennt, fest. Wir müssen uns von der Illusion befreien, das seien Topleute, die alles und jeden durchschauen. Es sind sicher kluge Menschen, mit dicken Rechnern, die aber über ihre Systemgrenzen nicht hinaus kommen. Jeder, der echte Freundschaften einzugehen in der Lage ist, ist emotional weiter. Systeme schaffen diesen Sprung nicht. Dabei geht es gerade nicht darum, ’soft skills‘ einen Rechenwert zuzuweisen.

Ein Europa was sich unabhängig machen will, ist für die USA eine Bedrohung oder vielleicht auch einfach nur uninteressanter. Die Gewichte in der Welt verschieben sich Richtung Asien, erst China, perspektivisch Indien. Mittelfristig ist ein unabhängiges Europa für die USA militärisch weniger nützlich, allerdings ist das Militär nicht die einzige Kraft auf der Welt. Aber es ist eine, die Geld und Macht verbindet. Europa ist andererseits prädestiniert dafür zu einem Labor der Welt zu werden – nicht nur für Werkstoffe und Medikamente, auch für neue Lenensweisen. Was hier funktioniert kann exportiert werden. Das dürften sich viele Regionen der Welt mit Interesse anschauen.

Europa muss sich attraktiv machen

Es muss schon authentisch sein, nicht die groß inszenierte Show, die man als Europäer bisher sehen konnte, sondern es sollte wirklich neue Akzente gesetzt werden. Europas Geschichte ist eng verbunden mit dem Kolonialismus, was einfach auch an der europäischen Bevölkerungsexplosion vor 600 Jahren und des Fortschritts auf vielen Gebieten lag. Der Kolonialismus hat manche Fortschritte auch in die Welt gebracht, ist aber auch oder vor allem mit einer Geschichte von Plünderungen, Ausbeutungen, Krieg, Leid und Elend verbunden.

Das britische Empire war die letzte europäische Großmacht, die fast über die gesamte Welt herrschte, bis Amerika sich unabhängig machte und seit dem den Staffelstab als führende Weltmacht übernahm, den Gegenpol bildeten vor allem die kommunistischen Gehversuche, die als Utopie gut klingen, in ihrer realen Existenz aber ebenfalls ein Fiasko nach dem anderen produzierten und bestenfalls zur Kuscheldikatur gelangten.

Vor allem die nazideutsche Ära ließ erneute Großmachtambitionen aufblitzen, 12 Jahre nach der Machtübernahme und nach 6 Jahren Krieg war das ‚1000-Jährige Reich‘ Geschichte und die Welt eine andere. Europa wurde geteilt und seit dem wurde Westeuropa vor allem zu einen Anhängsel der Amerikaner, Osteuropa zu einem der UdSSR. Mit dem Ende des kommunistischer Gehversuche geriet Europa noch mehr unter den Einfluss der USA, während der Osten etwas nachzuholen hatte, erkalteten die Beziehungen im Westen Europas, nicht zuletzt durch die Irakkriege, deren Gründe uns heute an den Haaren herbeigezogen erscheinen. Macron und Scholz sahen chinesische Analysten in einer Absetzungsbewegung von den USA. Putins Angriffskrieg, so meinen viele, habe diese Bewegung verändert.

Aber machen wir uns nichts vor. Weder ist Russland in der Welt isoliert, wie bei uns oft suggeriert wird, noch sind der Westen, die NATO und damit eben auch Europa sonderlich beliebt. China ist not amused über den Krieg, aber noch weniger über die USA. Indien fühlt sich Russland verbunden, vor allem aber hat Indien neben einer Dauerfehde mit Pakistan – beide sind Atommächte – China als Rivalen vor der Nase, was die Amerikaner nicht sonderlich interessierte, gleichzeitig soll Indien gegen Russland sein, jedoch:

„Das Drängen, Indien müsse sich dem Westen anschließen und Russland verurteilen, kann verärgerte Reaktionen hervorrufen. Der Strategie-Analyst Brahma Chellaney fragt, warum Indien das tun sollte, wo sich doch niemand – schon gar nicht die USA – gegen die „chinesische Aggression“ an der indischen Grenze einsetzt, wo seit zwei Jahren ein Patt herrsche. „Zu einer Zeit, in der wir mit Chinas Zumutungen konfrontiert sind, was die Gefahr eines Krieges einschließt, macht Biden dazu nicht den Mund auf“, twittert Chellaney. „Aber Indiens Reaktion auf einen weit entfernten Krieg, den er selbst mit provoziert hat, nennt er ‚heikel‘.“[1]

Und etwas später wird der einflussreiche Kommentator Pratap Bhanu Mehta im Indian Express zitiert:

„Die USA, die so scheinheilig sind, dass sie ihr Kapital außerhalb des Westens verlieren; Europa, das weiter mit gespaltener Zunge spricht; ein Russland, das es vorzieht, die Welt und seine Bürger leiden zu sehen; Indien und China, die westliche Heuchelei als Deckmantel für unverhohlenen Zynismus nutzen – das sind keine guten Vorzeichen für die Weltordnung.“[2]

Die Welt ordnet sich neu, alle müssen die Rolle überdenken, die sie darin zukünftig spielen wollen, besonders Europa.

Wie ist Europa aufgestellt?

Alles in allem schlecht. Militärisch ist vor allem Deutschland total abhängig von Amerikas Gnaden, was die Energie- und Wärmeversorgung angeht, zu einem großen Teil von Russland. Dumm gelaufen. Wenn man sich also in einer Art Vorkriegszustand mit Russland befindet, wie kann man ernsthaft erwarten, dass ‚der Feind‘ dann geduldig wartet, bis man energetisch unabhängig und miltiärisch aufgerüstet ist? Wobei es gegen eine Atommacht keinen Schutz gibt. Was ein veraltetes Raketenabwehrsystem für teures Geld bringen soll, muss auch noch erklärt werden, wenn schon, würden kleine effektive Kampftruppen Sinn machen, die die Kosten etwaiger Invasionsgelüste in große Höhen treiben, aber nach wie vor steht zu befürchten, dass der nächste größere Krieg in Europa der letzte sein wird – für Europa. Das ist die große Gefahr.

Vergessen wird nicht: Sollte Trump der nächste US-Präsident werden, könnte er aus der NATO austreten, die er schon bei seiner ersten Präsidentschaft ‚überflüssig‘ fand, auch ansonsten ist der Mann ja für Überraschungen gut, die nicht durch übermäßige Rücksichtnahme geprägt sind.

Energetisch hätten wir schon lange aufrüsten sollen, da man aber die armen Energieriesen nicht verärgern wollte – warum auch immer – hat man den klugen und effektiven Ausbau erneuerbarer Energien grausam verschleppt. Die Überbürokratisierung sorgt neben weiteren schlechten Eigenschaften zusätzlich dafür, dass man auf der Stelle tritt. Mit dem Messer an der Kehle ist man dann aber doch motiviert.

Positiv gewendet, hat man sich offenbar nicht vorstellen können, dass wir noch mal in so eine Situation kommen, was immerhin sympathisch ist, aber unklar bleibt, was man sich denn vorgestellt hat. Manches mag überraschen, aber viele Krisen der Welt, von denen auch Europa betroffen ist, kommen mit Ansage und einem Jahrzehnte langen Vorlauf daher und auch da ist deutlich zu wenig passiert. Das Politikpersonal ist offenbar massiv überfordert und Europa hat das Problem mehrere stolze Nationen zu vereinen, mit eigener Sprache, eigenen Bräuchen, durch den Austausch und die gemeinsame Geschichte aber immer auch mit Überschneidungen.