
Das stilisierte Böse. © Maxwell Hamilton under cc
Wir leben in Zeiten, in denen man das Böse ablehnen und sich dem Guten zuwenden soll. Die Frage ist nur, was das Gute und das Böse ist.
Aktuell leben wir in regressiven Zeiten und nach zwei Jahren Pandemie hat man nun einen Krieg in Europa vor der Nase, bei dem die große Gefahr die ist, dass wir in ein begrenztes atomares Schlachtfeld geraten und dort sterben. Dass wir in solchen Situationen mit Regressionen der Masse reagieren, ist verständlich und kaum zu verhindern. Regressionen lehren uns aber auch etwas, über das Böse.
Auf der Suche nach dem Bösen: Ein Schritt zurück
Es gibt experimentelle Untersuchungen, die zuverlässig funktionieren. Eine Gruppe gesitteter und integerer Menschen wird ohne eine Aufgabe oder ein Ziel alleine in einem Raum gelassen, es soll lediglich darauf geachtet werden, was passiert. Immer dasselbe: Nach kurzer Zeit bricht die Hölle los, da aggressives Misstrauen aufkommt, sich Bahn bricht und in immer gleichen Mustern abgeleitet wird, die häufigsten sind Kampf oder Flucht, irgendwann wird eine neue regressive Ordnung hergestellt, in der sich ein mittelmäßiger, narzisstischer Anführer herauskristallisiert, der Banalitäten verkündet, die der inzwischen regredierten Gruppe überzeugend vorkommen. Es geht nur noch darum, dafür oder dagegen zu sein, abweichende, also differenziertere Meinungen irritieren und werden als Verrat gewertet.
Psychoanalytisch erklärt man sich das so, dass unser Über-Ich gewöhnlich und bei den meisten Menschen differenziert ist und irgendwann Ambivalenzen, Grautöne, Grade zwischen dem rein Guten und ganz Bösen erkennt und toleriert. In Regressionen der Masse oder Gruppe finden die Über-Iche keine differenzierte gemeinsame Position mehr und pendeln sich auf einem neuen gemeinsamen Nenner ein, der dem Weltbild von Kindern im Alter von etwa 7 bis 10 Jahren entspricht: einer rigiden Trennung der Welt in gut und böse.
Auch die Milgram Experimente haben gezeigt, dass normale, gut erzogene Menschen ohne großen Widerstand zu mitunter grausamem Verhalten in der Lage sind. Aber wo kommt das Böse in uns auf einmal her?
Am Anfang ist alles ganz einfach: Noch ein Schritt zurück
Zumindest, wenn es um die Frage geht, wie das Böse in uns entsteht oder genauer, wie es in unserem Bild von der Welt, durch unseren Blick in sie entsteht. Jeder Säugling kann auf Reize reagieren, der uns mitgegebene Baukasten sind die Affektdispositionen. Inhalt, Affekte oder Basisemotionen: Freude, Überraschung, Wut, Traurigkeit, Angst oder Ekel. Mal werden ein paar mehr oder weniger genannt, immer wird sexuelle Erregbarkeit nicht erwähnt.
Der Säugling kann mit den Affekten auf Reize antworten Lust/Erregung und Freude sind eher positiv, Überraschung tendenziell auch, Wut, Trauer, Angst und Ekel sind negativ besetzt. Reize oder ‚Objekte‘ die immer unangenehme Reaktionen auslösen kommen in den Topf des nur Bösen, die positiven Reize speisen den des nur Guten, die Polarität von Gut und Böse ist damit sehr früh in der Welt jedes neugeborenen Menschen.
Im Zuge einer normalen Entwicklung ist das Kind mehr und mehr in der Lage sein Weltbild zu revidieren, es immer komplexer zu gestalten und nach und nach gehen die eindeutig guten und bösen Aspekte mehr oder weniger in einander über. Ein Kind will alles, was es sieht sofort haben und ist traurig und wütend, wenn das nicht geschieht. Später kann das neckende Vorenthalten von etwas, was man begehrt, die Lust oder Freude steigern, sei es bei der Bescherung an Weihnachten oder beim Striptease.
Das Böse ist hier also ein Bündel, ein Ballung und Ansammlung diverser aversiver Reizreaktionen auf Personen, Situationen oder Körperreize (wie Schmerzen), die sie auslösen. Das entstehende Bündel besteht aus so erlebten nur guten und nur bösen Aspekten. Die Polarität ist in der Welt. Ich glaube, der unterschiedliche Inhalt dieses Bündels – die diversen Reaktionsmöglichkeiten, die von etwas ausgelöst werden – bleiben uns erhalten, denn das Böse erscheint uns sehr vielgestaltig. Immer stoßen wir auf andere Aspekte es Bösen.
Das Böse in der Psychologie
Psychologisch erstreckt sich das Böse über ein weites Spektrum. Der Anfang ist das Böse aus Not, dann im Affekt und nach und nach wird es zur Lust an der Grausamkeit, dem charakterologischen Sadismus. Grausamkeit heißt Macht um ihrer selbst Willen auszuüben und Freude am Leid des anderen zu haben, einfach, weil man es kann und Lust dabei empfindet.
Den Diebstahl aus Not kann man nachvollziehen, Mundraub wird nicht einmal bestraft. Es ist nicht schön, wenn einem im Affekt die Sicherungen durchbrennen, aber man kann es in einem gewissen Rahmen verstehen. Doch das Reich es Bösen erstreckt sich weit. Michael Stone, ein sehr renommierter Psychiater, hat eine Skala des Bösen erstellt:
„
- Menschen, die aus Notwehr töten („gerechtfertigte Tötung“ nach US-Recht)
- eifersüchtige Liebende, die egozentrisch und kindlich sind, aber keine Psychopathen (Verbrechen aus Leidenschaft)
- willige Beihelfer von Mördern: extrem impulsiv, mit asozialen Merkmalen
- Menschen, die aus Notwehr töten, sich zum Opfer extrem provozierend verhielten
- traumatisierte Menschen, die gewalttätige Verwandte oder andere töten (z.B., um eine Drogensucht zu finanzieren). Nach der Tat voll echter Reue
- ungestüme, hitzköpfige Mörder ohne besondere psychopathische Merkmale
- extrem narzisstische, nicht auffällig psychopathische Menschen mit psychotischem „Kern“, die Nahestehende töten (Motiv: Eifersucht)
- Nichtpsychopathen mit unterschwelliger Wut, die töten, wenn Wut sich entzündet
- eifersüchtige Liebende mit psychopathischen Merkmalen
- Mörder von Zeugen oder Menschen, die „im Weg“ sind
- Psychopathen, die Menschen töten, weil sie ihnen „im Weg“ stehen
- machthungrige Psychopathen, die töten, wenn in die Enge getrieben
- Psychopathen mit von Wut angetriebenem Persönlichkeitsbild, die „durchdrehen“
- rücksichtslose, egozentrische, psychopathische Intriganten
- psychopathische, „kaltblütige“ Amokläufer oder Mehrfachmörder
- Psychopathen, die gewalttätige Verbrechen begehen
- sexuell perverse Serienmörder, Foltermörder
- Foltermörder, bei denen Mord primäres Motiv ist
- Psychopathen, die zu Terrorismus, Vergewaltigung getrieben sind
- Foltermörder, deren Hauptmotiv Folter ist, aber mit psychotischer Persönlichkeit
- Psychopathen, die von extremen Foltervorstellungen besessen sind, von denen aber nicht bekannt ist, dass sie getötet haben
- psychopathische Foltermörder, deren Hauptmotiv Folter ist, Sexualmord“[1]
Man kann erkennen, dass die Lust an der Grausamkeit das ist, was sich beständig steigert. Am Ende die Lust Herr über Leben und Tod zu sein, eine annähernd gottgleiche Position, zwar mit der Unfähigkeit zur Schöpfung, aber mit der Lust an der Vernichtung. Das ist ein oft übersehener Punkt: Grausamkeit braucht keinen Grund, sie genügt sich selbst, wenn bestimmte innere Bedingungen vorliegen, vermitteln sie Spaß und Freude, auch wenn das in dem Kontext unpassende Begriffe zu sein scheinen und ein Gefühl des Triumphes passender ist.
Grausamkeiten durch Regressionen der Gruppe oder Masse
Wenn es nur noch schwarz oder weiß gibt, wird jeder, der sich diesem Sog entziehen kann als Feind betrachtet. Auch ansonsten differenzierte Menschen können nicht nur Fremde, die ihnen nichts getan haben, als Feinde betrachtet, auch ehemalige Nachbarn oder bewunderte und geliebte Menschen können zu Feinden werden, weil sie bei der einen, auf einmal so wichtigen Sache, scheinbar nicht auf der richtigen Seite stehen und das kann bis zur Gewalt gegen diese Menschen führen.
Kollektiv ist der Mensch eher zu Bösem bereit, wenn alle in seinem Umfeld dasselbe tun und niemand sich dem Sog entzieht, oder jemand, der es tut als Verräter empfunden wird. Es war möglich die Konzentrationslager der Nazis mit normalen Narzissten zu betreiben – keine sehr hohe Schwelle – die opportunistisch der Meinung waren, dass sie nur Befehle empfangen und dass, was sie nicht täten, ohnehin ein anderer tun würde.
Auch die Regressionen im Krieg holen die Aspekte aus Menschen heraus, die sie im Alltag nie zeigen würden. Heute schockieren uns die Grausamkeiten des Krieges, neu sind sie nicht. Die Muster von Kriegen sind immer ähnlich. Es gilt das Recht des Stärkeren und das wird auch angewandt. Wenn in frühen Zeiten Länder erobert wurden, brauchte man Nachschub und Verwaltung, also wurden Menschen aus den eroberten Regionen eingesetzt, die willens waren mitzumachen, wer es nicht war, wurde umgebracht. Das Motto war einfach: Weil man es kann.
Hier ist weniger sadistische Lust im Spiel, als viel mehr ein kühler Pragmatismus, der sich durchzieht, bis zu den Nazi Konzentrationslagern, deren Planer die Phase heißer Wut in gewisser Weise überwunden haben, weil andere Menschen gar nicht mehr als Menschen in Erscheinung treten, auch nicht mehr als Leben, sondern als logistisches Problem.