Genie und Wahn

Willkommen in der Normalität © Lucíola Correia under cc

Die soziale Konstruktion der Normalität hat mehrere Aspekte. Einerseits stabilisiert sie die Welt, indem die Abläufe immer weiter gehen, doch andererseits ist diese Unbeirrbarkeit auch das Problem der Gegenwart. Viele Menschen fühlen sich heute schon von der Welt überfordert, die immer komplexer wird immer näher zusammenrückt, in dem Sinne, dass wir in einer globalisierten Welt immer weniger Ereignisse kennen, die wir ignorieren können.

Der oft stabilisierende Effekt der Normalität verkehrt sich in sein Gegenteil, wenn er immer mehr Menschen stresst und verunsichert. Man weiß, dass eine einfache, verlässliche und klar strukturierte Umgebung sehr stabilisierend auf die Psyche wirkt, doch wird unsere Lebenswirklichkeit immer komplexer. Damit verliert sie ihre schützende Funktion für immer mehr Menschen.

Gleichzeitig ist die Interpretation aber für viele andere zu unterkomplex und ihre Ideen werden ausgebremst. Die eine breite intellektuelle Mittelschicht haben wir nicht mehr, der Mainstream bröckelt. Den Wahn können wir schlechter stabilisieren, die Genies werden dennoch ausgebremst.

Auch Genies haben abweichende Sichtweisen. Auch sie werden nicht verstanden und man könnte meinen, dass sie spinnen. Bei den meisten Genies sollten wir jedoch erwarten dürfen, dass sie verstehen können, dass ihre Sicht als sonderbar angesehen wird. Wer die Sicht der Scientific Community überragt, wird diese dennoch verstehen und erklären können, wo sie zu kurz springt.

Durch die Maschen fallen könnte jedoch ein genialer Autodidakt, der eine brillante Idee hat, die von der Wissenschaftsgemeinde jedoch ignoriert wird. Vielleicht spricht er die Sprache der Community nicht, weil ihn oder sie die handelsüblichen Ideen nie interessiert haben. Bei dieser Art von Genies sind die Grenzen des Wahnsinns in anderer Hinsicht erreicht.

Magisches Denken und Wahn

Der Wahn hat eine enge Beziehung zum magischen Denken. Vom magischen Denken kann man zum einen sprechen, wenn man glaubt, dass alles was passiert eine spezielle Bedeutung für mich hat, zum anderen, wenn ich glaube, dass ich kraft meiner Gedanken die Welt beeinflussen kann oder andere, durch Gedanken, Verhexung oder vermeintliche, technische Mittel meine Gedanken, Gefühle oder Handlungen steuern können.

Es gilt aus diesem magischen Weltbild mit seinem Denken in wechselseitiger Möglichkeit der Beeinflussung durch den Willen auszusteigen. Andererseits gibt es eben auch die Möglichkeit in diesem Weltbild zu bleiben und vom Schamanen oder Voodoo Priester seine bösen Geister vertreiben zu lassen. Das klingt für uns schräg und antiquiert, hat aber Erfolg. Deutlich weniger als unsere wissenschaftlichen Ansätze könnte man meinen, aber leider schneiden die bei Untersuchungen (falls man diese überhaupt durchführt) kaum besser ab, als die magischen Methoden.

Es ist die Frage, ob man solche Methoden aus einer Kultur exportieren kann oder ob es möglich ist, magische Anteile in ein komplexes Weltbild einzubauen oder ob man sich, wie man manchmal auch hört eindeutig zwischen dem einen oder anderen Weltbild entscheiden muss, weil es ansonsten zu Verwirrungen kommt, mit denen man es ohnehin schon zu tun hat.

Wortmagie begegnet uns jedoch heute noch in anderen Bereichen. Wenn wir denken, dass die Vermeidung böser Wörter böses Denken verhindert, dann ist das ziemlich nahe an der Wortmagie und wenn davon geredet wird, dass die Verwendung ‚toxischer Begriffe‘ bewirken können, wie durch ein trojanisches Pferd eine ganz Ideologie ins Bewusstsein zu hieven, dann ist das ganz einfach weder psychologisch noch philosophisch auf dem Stand von Wittgenstein und Quine für die Philosophie der Sprache und Kernberg und anderen, für die Psychologie. Sie alle wissen, dass die Bedeutung eines Wortes in seinem Gebrauch liegt. Paartherapeuten können ein Lied davon singen, dass nämlich der Begriff des einen, etwas ziemlich anderes zum Inhalt haben kann, als der des Partners.

Anders gesagt, man meint mit einem Begriff, das was man damit meint und dass benutzte Begriffe, die man nicht versteht sich zu ganzen Ideologien entfalten (oder ihre Vermeidung böses Denken verunmöglicht), ist ganz einfach Unsinn.

Philosophie, Sinnsuche und ihre Beziehung zum Wahn

Bei der Diskussion um den Wahn kommt es immer wieder zu seltsamen Verkürzungen. Unlängst hörte ich eine Radiosendung über psychische Probleme, in der ein Mädchen auftrat, das unter Ängsten litt und sich länger schon mit existentiellen und philosophischen Fragen nach dem Sinn beschäftigte. Man konnte den Eindruck gewinnen, als sei die Beschäftigung mit Philosophie irgendwie bedenklich oder gar Pathologien befördernd.

Das Gegenteil ist der Fall. Philosophie und Psychotherapie sind enge Verwandte, weil sie das endlose Kreisen in fruchtlosen Gedanken beenden können, indem sie das Denken wirklich weiter bringen. Das Denken reicht von endlosen und zermürbenden Schleifen von Grübelzwängen bis zur reifen Reflexion und Philosophie hat rein gar nichts mit fruchtlosem Grübeln zu tun, aber sehr viel mit der Möglichkeit sein Denken reflexiv zu ordnen. Man muss sich nur an den Gedanken gewöhnen, dass Philosophie auch Antworten parat hat und die Frage, was das alles zu bedeuten hat, alles andere als bedeutungsschwer ist.

Klarheit und Struktur durch rationale Begründungen sind das Wesen der Philosophie, die helfen kann große Ordnungen in das Denken zu bringen. Es schadet nichts, dabei auch Themen von Sinn und Tod ins Spiel zu bringen und existentielle Psychologen (der bekannteste war sicher Irvin D. Yalom) flechten das ganz bewusst sein. Die Gefahr ist, auf der Stelle zu treten und das Persönliche, um das es in einer Therapie geht, zugunsten des Allgemeinen zu verlassen, gute Therapeuten können die Themen aber immer auch die individuelle Situation zurück führen.

Spiritualität und die Grenzen des Wahnsinns

Die Spiritualität ist noch mal ein besonderes Kapitel, weil sie vielen Menschen ebenso fremd ist, wie der Wahn selbst. Manche sehen zwischen beiden keinen Unterschied und spirituelle Erfahrungen werden oft mit einer besonderen Lust attackiert. Eine dieser Attacken besteht darin, vermeintlich spirituellen Sonderleistungen Pathologien zuzuordnen, gerne jene, die aus dem Reich des Wahns stammen.

Der Narzisst hat den Wunsch mit der Welt zu verschmelzen, aber in dem Sinne, dass er meint, die Welt solle so werden, wie er. Bezogen auf die wesentlichen Ansichten und Einstellungen. Im Wahn geht es noch ein Stück weiter, da werden die Verschmelzungen körperlicher. Jemand aus der Ferne lähmt meine Beine und hindert mich weiter zu gehen. Bei spirituellen Erfahrungen der ist es ähnlich, die Grenzen zwischen dem anderen und mit lösen sich auf. Spirituelle Erfahrungen sind sehr oft, vielleicht immer, Einheitserfahrungen.

Das ist sicher befremdlich, weil es nicht unseren Alltagswahrnehmungen entspricht, aber es wird immer wieder beschrieben. Wir haben gelernt, wo das Ich beginnt und endet, über sinnliche Erfahrungen und Konventionen, aber manchmal machen wir eben die Erfahrung, dass diese Grenzen verschoben werden können. Da diese Erfahrungen selten sind, prägen sie nicht unsere alltäglichen Sprachspiele. Aber sie sind häufig genug und immer ähnlich beschrieben, von Wahnsinnigen und von Mystikern.

Die Frage ist dann letztlich nur noch, wie man die Erfahrungen zuordnet. Der Wahnsinnige wird im Moment seines Wahns nicht verstehen, dass dem anderen seine Erfahrung seltsam vorkommt, der Mystiker kann das verstehen. Eventuell will er dem anderen helfen seine Perspektive zu erweitern und geht deshalb nicht auf das konventionelle Spiel ein, aber viele Mystiker entwerfen geradezu Landkarten dieser inneren Wege und Welten. Wenn die Kriterien des Wahns nicht erfüllt sind, liegt kein Wahn vor und die Grenzen des Wahnsinns müssen neu und anders gezogen werden.