Ein beliebter Profilspruch auf Twitter lautet: »Folgen Sie mir nicht. Ich weiß auch nicht, wo es lang geht.« Ähnlich ist es auch mit dem Leben. Irgendwie weiß keiner was. Wie sollen wir nach dem Absolvieren der ersten Lebenshälfte mit der zweiten umgehen? Kurzum: Wie sollen wir die drohende Midlife-Crisis meistern?

Midlife-Crisis: Wer und wie viele?

Praktizierende Psychologen kennen das Phänomen der Midlife-Crisis von ihren Klienten. Nicht wenige Frauen und Männer finden sich in der 40er Dekade in den psychologischen Praxen ein, weil sie lange Verdrängtes aufarbeiten wollen und mit den unterschwellig lodernden Ängsten, Zweifeln und negativen Gedanken nicht mehr umgehen können. Ungeachtet dessen existierte in der Entwicklungspsychologie lange die Auffassung, dass die Midlife-Crisis eher ein individuelles als ein Gruppenphänomen sei. Inzwischen weiß man aus Studien, dass die Mitte des Lebens durchaus kollektiv eine Zeit ist – ähnlich der Pubertät –, in welcher die Menschen zum Hinterfragen und zu Krisen neigen. Manche hadern mit ihrem Job, andere mit ihrer Beziehung, nahezu alle hinterfragen den Sinn des Lebens. Haben wir die Bausteine des Lebens in der ersten Lebenshälfte richtig zusammengesetzt?

Paar mittleren Alters auf Bank

Nicht wenige Ü40er hinterfragen ihre Beziehung. © Vladimir Pustovit under cc

Wir müssen auf diese Fragen gänzlich neue Antworten finden, wie die Schweizer Psychologin und Psychotherapeutin Prof. Pasqualina Perrig-Chiello in einem Interview mit der Zeitschrift GEO Wissen (Nr. 62) zusammenfasst:

Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung hat einmal gesagt, man könne die zweite Lebenshälfte nicht nach dem Muster der ersten leben. Viele Menschen begreifen das nur durch eine Krise, die sehr schmerzhaft sein kann, aber auch heilsam.

Prof. Pasqualina Perrig-Chiello, Psychotherapeutin

Raus aus dem Wartezimmer, rein ins Leben

Folglich sollten wir raus aus dem Wartezimmer des Lebens mit all seinen Möglichkeiten, die man vielleicht irgendwann einmal umsetzen KÖNNTE, WÜRDE, WOLLTE. Anstatt ständig auf irgendetwas zu warten, können wir auch kapitulieren. Das heißt nicht, dass man all seine Träume aufgeben soll, man sollte sie lediglich ehrlich hinterfragen. Sind sie umsetzbar, machen wir uns ernsthaft daran. Sind sie es nicht, gilt es, diese Träume loszulassen. Das Leben darf als Fluss betrachtet werden, auf welchem wir die meiste Zeit seicht dahintreiben, dessen Verlauf wir für uns akzeptieren und dessen Stromschnellen wir bewältigen müssen. Wir müssen weder die ganze Zeit hastig rudern, noch müssen wir kämpfen, um ständig irgendetwas zu erreichen.

Das Aufgeben von Illusionen ist eine wichtige Entwicklungsaufgabe des mittleren Lebensalters. Wer nie desillusioniert wurde, hat nie die Chance, durchzustarten und etwas Neues zu wagen.

Prof. Pasqualina Perrig-Chiello, Psychotherapeutin

Midlife-Crisis meistern: Den Fokus auf das Innen richten

Breiter heller Flur Mann auf Stuhl

Raus aus dem Wartezimmer, rein ins Leben. © Thomas Fabian under cc

Wichtig ist zuvorderst bei der Bewältigung einer Midlife-Crisis, die inneren Konflikte zu erkennen. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud bezeichnet die Angst als einen Signalgeber, welcher uns vor möglichen Gefahren warnt. Emotionaler Schmerz warnt einen davor, dass man gegen die eigene innere Wahrheit lebt.
Zudem steht die Angst für ungelöste Konflikte im Unterbewussten. Diese Konflikte können auf verdrängte Erinnerungen aus der Kindheit etc. beruhen, sie können aber auch eine gegenwärtige kognitive Dissonanz deutlich machen, die uns unzufrieden stimmt. Demnach müssen wir uns von alten Denk- und Verhaltensmustern lösen, welche auf Verdrängungen, Schuldgefühlen, verstärktem Misstrauen und mangelndem Selbstwert fußen. Wir brauchen keine Scheu zu haben, die damit verbundenen, aufkommenden Gefühle zu durchleben und loszulassen.

Ansatzpunkte zum Aufbrechen innerer Konflikte

Wie man an innere Konflikte herankommen kann, um diese aufzubrechen, zeigen nachfolgende Fragen aus dem therapeutischen Kontext, die man gern in stillen Momenten für sich beantworten bzw. im Alltag fokussieren kann. Diese Fragen dienen nur als erster Auftakt. Für eine nachhaltige Aufarbeitung tiefergehender, innerer Konflikte kann eine psychologische Therapie überaus von Nutzen sein.

  • Wann flieht man gedanklich aus dem eigenen Leben?
  • Welche Werte im Leben vertritt man? Wie setzt man diese um? Welche Wunschvorstellung hat man von sich selbst im Alter? Ist man auf dem Weg dahin?
  • Wann empfindet man Angst, Minderwert, Schuld oder Scham? Lassen sich Erklärungen dafür in der Kindheit finden? Mit welchen ungesunden Abwehrmechanismen steuert man dagegen an?
  • Fühlt man sich manchmal »getrieben«? Warum ist das so?
  • Erliegt man sozialen Vergleichen, stellt andere auf einen Sockel oder wertet sie ab? Bewertet und kontrolliert man gedanklich das Leben der anderen, anstatt bei sich zu bleiben?
  • Betreibt man »People Pleasing«, indem man anderen nach dem Mund redet? Warum macht man das?
  • Wann geht man in die Manipulation anderer, um sich zu schützen oder voranzukommen?
  • Fühlt man sich wirklich glücklich? Wann geht man demgegenüber in eine leere Euphorie, weil man die Leere im Inneren überdecken möchte?
  • Inwiefern geht man in die Abwehrhaltung bzw. innere Verdrängung, indem man sich vormacht, genervt oder gleichgültig zu sein?

Midlife-Crisis meistern: Was ist das Ziel?

Blatt Ringbuch Schrift Kugelschreiber

Midlife-Crisis meistern: Beim Aufschreiben des persönlichen Resümees verarbeitet man intensiver. © Fredrik Rubensson under cc

Prof. Pasqualina Perrig-Chiello zieht im GEO-Interview einige kulturübergreifende Studien heran, welche aufzeigen, dass sich in nahezu allen Kulturen dieser Welt (auch in traditionellen, z. B. in verschiedenen afrikanischen Kulturen) und unabhängig von Familienstand oder Einkommen ein U-förmiger Verlauf der Lebenszufriedenheit finden lässt.
In der Jugend blicken wir unseren Hoffnungen auf ein ereignisreiches Leben entgegen, wir überflügeln uns beinahe in unseren Vorstellungen, was wir alles erreichen wollen. Unsere Erwartungen und unsere Lebenszufriedenheit sind verhältnismäßig hoch. Circa ab Mitte 30 vergleichen wir immer öfter Wunsch und Wirklichkeit miteinander und werden zunehmend realistischer, was das Leben und seine Bedingungen betrifft. Dementsprechend nimmt das Glücksgefühl immer mehr ab, bis es in einem Lebensalter von etwa 43-46 Jahren seinen Tiefpunkt erreicht. Die Desillusion des Lebenstraums ist geschehen und die zukünftige zweite Lebenshälfte erscheint geradezu bedrohlich für uns.
Aber jede Krise beflügelt und festigt eben auch, sie bringt neue Arrangements und Chancen mit sich. Mehr und mehr rappeln wir uns wieder auf, schätzen das Erreichte – schließlich sind wir wirtschaftlich und sozial verhältnismäßig abgesichert  – und blicken in Frieden mit uns selbst auf das, was noch kommen wird.

Die Zufriedenheit nimmt im Durchschnitt wieder zu – und wird mitunter größer als je zuvor.

Prof. Pasqualina Perrig-Chiello, Psychotherapeutin

Als ich mich selbst zu lieben begann …

An seinem siebzigsten Geburtstag soll der Schauspieler Charlie Chaplin (1889-1977) ein Gedicht über die Selbstliebe verfasst haben, welches gleichzeitig als sein Resümee für die zweite Lebenshälfte aufgefasst werden könnte. »Als ich mich selbst zu lieben begann«, so lautet dessen Titel. Zusammengefasst beinhaltet es folgende Punkte der Selbstliebe und seelischen Reifung:

Charlie Chaplin schlafend Stuhl Film

Charlie Chaplins Gedicht über die Selbstliebe hat auch nach seinem Tod Bekanntheit. © Insomnia Cured Here under cc

  • verstehen, dass man immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist; alles was geschieht, ist folgerichtig; wir können ruhig auf den Fluss des Lebens dahingleiten und Stromschnellen bewältigen: Das nennt man VERTRAUEN
  • erkennen, dass emotionaler Schmerz und Leid nur Warnungen sind, weil man gegen die eigene Wahrheit lebt: Das nennt man AUTHENTISCH SEIN
  • sich nicht nach einem anderen Leben sehnen und erkennen, dass alles um einen herum eine Aufforderung zum Wachsen ist: Das nennt man REIFE
  • aufhören, sich seiner freien Zeit zu berauben, indem man immer wieder Könnte-, Wäre-, Würde-Wunschvorstellungen vor sich herträgt; stattdessen vorrangig in der Freizeit das machen, was Freude bringt; losgelöst von fremden Erwartungen; in eigener Art und eigenem Tempo: Das nennt man EHRLICHKEIT
  • sich befreien von allem, was nicht gesund für einen ist, »von Speisen, Menschen, Dingen, Situationen und von Allem, das mich immer wieder hinunterzog, weg von mir selbst«: Das ist SELBSTLIEBE
  • stoppen damit, immer recht haben zu wollen, dadurch irrt man sich weniger: Das nennt man DEMUT
  • sich weigern, weiter in der Vergangenheit zu leben und sich ständig um seine Zukunft zu sorgen; stattdessen im jetzigen Augenblick leben: Das nennt man BEWUSSTHEIT
  • erkennen, dass viele der Denk- und Verhaltensmuster einen krank machen können und vor sich selbst armselig erscheinen lassen; »Als ich jedoch meine Herzenskräfte anforderte, bekam der Verstand einen wichtigen Partner«: Diese Verbindung nennt man HERZENSWEISHEIT
  • feststellen, das man sich nicht vor Auseinandersetzungen, Konflikten und Problemen mit sich selbst und anderen fürchten muss, denn das ist das Leben zu seinen Bedingungen und dadurch entstehen neue Welten: DAS IST DAS LEBEN!

Unser Leben ist das, wozu unser Denken es macht.

Mark Aurel, römischer Kaiser (121-180)

Ü40 als Chance für mehr Selbstverantwortung

So wie kleine Kinder als Entwicklungsaufgabe Laufen und Sprechen lernen müssen und Heranwachsende in der Pubertät mit dem Übergang zum Erwachsensein und den gesellschaftlichen Erwartungen umgehen müssen, ist unsere Entwicklungsaufgabe als Ü40er uns der zweiten Lebenshälfte und dem Altern zu stellen. Wir lernen Selbstverantwortung für unser Innenleben zu übernehmen und richten den Fokus auf geistiges (ggf. spirituelles) Wachstum. Wie die philosophischen Denker vergangener Jahrhunderte zeigen, durchlebten die Menschen damals ähnliche Krisen, in denen sie sich mit dem Lebenssinn und dem gesellschaftlichen Dasein auseinandersetzten. Diese Ängste beim Meistern einer Midlife-Crisis, so könnte man meinen, begründen sich in einer seelischen Reifung.

Muße ist der schönste Besitz von allen.

Sokrates, Philosoph (469 v. Chr.-399 v. Chr.)