Wenn man nach Beispielen dafür sucht, dass Wahrnehmung und Realität von einander abweichen, dann ist die Zeit ein gutes Thema. Das Empfinden von einem Absinken von Freiheit und Freizeit ist bei uns immer mehr verbreitet, schaut man sich aber objektive Daten an, dann stellt man fest, dass die Menschen unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg 48 Stunden pro Woche gearbeitet haben, heute sind es je nach Branche und Region zwischen 35 und 42 Stunden, allerdings sind schon die 48 Stunden geradezu paradiesisch, verglichen mit der Zeit von 1830 bis 1860, in denen die Menschen im Schnitte 14 bis 16 Stunden pro Tag arbeiteten, das sind 80 bis 85 Wochenstunden.[1] Frauen und Kinder arbeiteten auch, Kinder ab dem 6. Lebensjahr, kaum weniger lange als die Erwachsenen. Die gute, alte Zeit, in der die Lebenserwartung bei Männern 35, bei Frauen 38 Jahre betrug.[2]
Bei Arbeit und Freizeit, sowie der Lebenserwartung ist es nur besonders deutlich, doch auch andere objektive Daten zeichnen dasselbe Bild. Wo man auch hinschaut, werden die Dinge besser, begibt man sich jedoch in den Alltag findet man immer mehr Menschen, die unzufrieden sind. Immerhin ist auch das objektivierbar, die letzten Wahlen zeigten durchgehend das Bild, dass die Volksparteien an Ansehen verlieren, selbst dann, wenn die Wahlbeteiligung vergleichsweise hoch ist und schon Kinder werden bei uns depressiv.
Das Leben als Wahrnehmungsstörung
Sind die Menschen einfach verrückt, grenzenlos undankbar oder leiden sie an einer kollektiven Wahrnehmungsstörung? Es bringt wenig, den Bürgern immer und immer wieder vorzurechnen, wie gut es ihnen geht, wenn immer weniger Menschen merken, dass es ihnen gut geht. Zwar ist es richtig, gelegentlich daran zu erinnern, wie es mal war und heute in anderen Teilen der Welt noch immer ist. Aber ist die Sache damit wirklich erledigt? Ist es ausreichend zu betonen, dass man hier nicht verhungert und erfriert oder lässt man sich damit schon unter Niveau abspeisen?
Wenn man sich etwas Mühe gibt und wirklich mal darauf achtet, was die Mitmenschen sagen oder was man selbst erlebt und empfindet, dann gibt es zwar eine gewisse Anzahl die ihr Unbehagen an ihrem favorisierten Großthema festmachen, das bei den einen oft den Themenkomplex innere Sicherheit und Migration betrifft, bei anderen die soziale Isolation und Armut oder Angst davor und bei einer dritten Gruppe die Themen Klimawandel und Umweltschutz. Doch auch jene Menschen, die das nicht dominant belastet, haben oft das Gefühl eines diffusen Unbehagens und wenn man genauer hinschaut, sind es dort eher die kleinen Nadelstiche, kleine Enttäuschungen und Genervtheiten des Alltags, über die man eigentlich hinwegsehen kann, was man oft genug auch tut, die aber dadurch, dass sie immer wieder auftreten irgendwann zu schlechter Laune führen.
Ärgerlich ist, wenn einem das, was man an Serviceeinbußen hinzunehmen hat oder an Veränderungen aufgenötigt wird, als Bonus verkauft wird. Machen Sie dies und das doch in Zukunft ganz bequem, von zu Hause aus. Wenn es denn mal so einfach und bequem wäre. Es war ja eine jahrelanger running gag, einen Vertrag bei seinem Telekommunikationmsunternehmen kündigen zu wollen. Nicht selten endete es in Frustrationen, bis zu Gerichtsprozessen, weil man telefonisch oder per mail niemanden erreichte, Schreiben angeblich nicht ankamen, man angeblich neuen Vertragsbedingungen zustimmte, denen man nicht zugestimmt hat, bis dann andere kommerzielle Anbieter, die ein Interesse daran hatten, dass die „Kunden“ zu ihnen wechseln, die lästige Arbeit übernahmen, bevor dann – immerhin – die Rechte der Verbraucher gestärkt wurden.
Service in Deutschland
Dass man etwas jetzt auch ganz bequem von zu Hause erledigen kann, ist oft eine beschönigende Formulierung dafür, dass man den Kundenservice abgebaut hat. Wer schon Stunden seines Lebens in Hotlines verbracht hat, weiß, wie schön es ist, wenn man mal mit jemandem sprechen will, der sich auskennt, wenn mal nicht alles so bequem und einfach gelaufen ist. Wenn man den Menschen an der anderen Seite dann doch irgendwann erreicht und der tatsächlich helfen kann, schön, doch nicht jeder weiß, wovon er redet.
Das was heute als das beworben wird, was man alles von zu Hause aus machen kann, ist aber gleichzeitig das, was man bald machen muss. Das Bankwesen wird schrittweise auf Onlinebanking umgestellt, einfach über eine Erhöhung der Kosten, in jedem Bereich, außer online, damit einem die freie Entscheidung etwas leichter fällt. Risiken und Nebenwirkungen werden nicht thematisiert, Sicherheit im Onlinebereich gibt es einfach nicht, es gibt sehr große oder geringere Unsicherheiten und Privatheit gilt ja allgemein schon als überbewertet. Aber man hat ja nichts zu verbergen, auch dies oft ein Bereich in dem Wahrnehmung und Realität von einander abweichen, auch hier ist die Gefahr größer als man denkt und die Hochglanzbroschüren erzählen.
Macht aber nichts, denn man kann ja jederzeit, in vielen Lebensbereichen den Anbieter wechseln, die Knebelverträge, die einen für eine Mindestdauer von zwei Jahren binden, sind seltener geworden. Dazu gibt es ja Vergleichsportale auf denen man sich informieren kann – aber eben auch muss. Immer wieder wird von Verbraucherschützern dazu geraten die Preise zu vergleichen und einfach das Geldinstitut zu wechseln. Und natürlich auch den Stromanbieter, haben Sie doch sicher schon gemacht, oder? Bei den Versicherungen kann man auch viel rausholen, wenn man klug wechselt und das heißt, immer mal wieder zu schauen und zu vergleichen. Auch, ob das alles mit rechten Dingen zugeht, denn billige Tarife sind nur so lange attraktiv, wie man dann auch Geld bekommt, wenn mal wirklich was passiert. Ist aber an sich kein Problem, dafür ist ja genau erläutert, für und gegen was man versichert ist, muss man halt nur lesen und dann am besten mit einigen anderen Anbietern vergleichen, dauert halt ein wenig, macht man aber auch nicht jeden Tag.
Damit das mit dem Onlinebanking etwas weniger unsicher ist, müssen Sie drauf achten regelmäßig Ihre Programme und den Browser auf dem neuesten Stand zu halten und sich ein wenig zu informieren, was man Internet eher grundsätzlich nicht tun sollte. Machen Sie dennoch, weil es Ihnen ja auch Spaß macht? Schade, aber Sie hatten immerhin die Wahl. Man muss eben auch selbst mitdenken und vorsorgen, Zeit, so wissen wir, haben wir ja genug dafür, in den AGBs steht dann, auf sehr viel Text, auf was man sich einlässt und was mit den eigenen Daten passiert, wenn man es denn wissen will. Neu ist ja bekanntlich immer gut, fragen Sie mal die Dieselfahrer, die sich ihr Auto kauften, weil es – man geht mit der Zeit –, als besonders sauber galt. Ärgerlich, aber den Wertverlust zahlt man doch gerne selbst, die Verantwortlichen jedenfalls, werden es nicht tun. Ist ja auch kein großes Drama, kauft man sich den neuen Wagen eben etwas eher – super für die Umwelt, aber gelobt sei der Selbstwiderspruch – und bekommt dafür eine Prämie, die man ohnehin bekommen hätte. Gut, man hätte sich auch um Vorfeld gründlich informieren können, dauert dann ein wenig länger, aber ist halt wichtig, für die Rente haben Sie ja sicher dreigleisig vorgesorgt, dann ist das nämlich in Zukunft, voraussichtlich, alles kein Problem. Falls nicht, naja, konnte ja keiner ahnen, dass die Wirtschaft auch mal in Stocken gerät und die höhere Produktivität die sinkende Zahl der Einzahlungen in die Rentenkasse, bei der höheren Zahl an Rentnern doch nicht kompensiert.
Vorsorgen muss man auch gegen Wohnungseinbrüche, kann man aber, die Polizei informiert gerne, da hat man tatsächlich noch einen Ansprechpartner. Zahlen dürfen Sie das dann selbst, aber wenn Sie kein Geld haben, gibt es bei Ihnen ja auch nichts zu klauen. Die gesundheitliche Vorsorge übernimmt gerne ihre Krankenkassse die flotten Apps geben allerlei Tipps und schlagen Kurse vor, ermutigen Sie noch etwas Sport zu machen. Was in jungen Jahren ein Weg ist um Beiträge zu senken, wird dann später leider mal zu einem Mittel um sie zu erhöhen, wenn Sie etwas zugenommen haben und nicht mehr drei mal in der Woche Sport machen. Ansonsten freut sich Ihre Krankenkasse immer über umfangreiche Informationen über Ihre Gesundheit, vor allem über Ihre Krankheiten. Ihre Gesundheitsdaten sind aber sicher, so sicher, wie die Rente. Sehr glaubwürdig in einen Gesundheitssystem, in dem sich – perverserweise – von A bis Z alles um Geld dreht. Man kann sich zwar auch hier informieren, es dauert halt ein wenig.