Die Angstgesamtsumme

Bin ich zu ängstlich? Das relativiert sich manchmal, wenn man den Blick nicht darauf richtet, was man selbst jetzt gerade nicht kann und die anderen alle doch, sondern sich das Gesamtpaket anschaut. Wenn man beim Bergurlaub mit Freunden während der Wanderung feststellt, dass das mit den Höhenwanderungen doch keine so gute Idee war, findet man sich natürlich in einem Umfeld wieder, wo nahezu alle anderen keinerlei Probleme mit der Höhe haben. Wer von den entspannten Berggängern abends seine Türklinken desinfiziert, weil er Angst vor Keimen aller Art hat, sieht man nicht. Wer sich nicht traut, im Restaurant etwas zu reklamieren, steht einem auch nicht auf die Stirn geschrieben. Und so haben (fast) alle ihr Problem. Wenn man sich mal vergegenwärtigt, wovor man alles Angst haben kann, stellt man häufig fest, dass man vor 80 %, oder sogar weit mehr Möglichkeiten aus dem großen Angstkorb, überhaupt keine Angst hat.

Manchmal wäre es gut, wir hätten mehr davon. Kennen Sie das? Sie gehen mit jemandem durch die Stadt, plötzlich bleibt er wie angewurzelt stehen, wird blass und gleichzeitig bricht ihm der kalte Schweiß aus, die Knie zittern, die Stimme wird dünn, er kann nicht mehr weitergehen, weil er auf dem Tisch eine Schachtel Zigaretten gesehen hat. Das haben Sie vermutlich noch nie erlebt und es wäre in dieser Form wohl auch zu viel, aber Angst vor Zigaretten oder Trittleitern hat kaum jemand, dafür vor Flugzeugabstürzen, Terrorismus und vergiftetem Essen.

Ängste haben immer eine irrationale Komponente. Es gibt hier keine Motten, die uns gefährlich werden könnten, trotzdem haben manche panische Angst vor den Flattertieren. Oft steht hinter der konkreten Angst eine andere. Nicht selten die vor dem Tod und in dem Fall ist es gut, sich dem irgendwann zu widmen. Oft reichen Rituale der Gesundheit die Angst so weit zu verdrängen, dass man sich vor ihr geschützt wähnt. Schließlich ernährt man sich gesund, macht Sport, meidet unnötige Risiken, geht zu Vorsorgeuntersuchungen und all das ist zwar eine Illusion, aber keine schlechte. Sie hilft uns unsere Ängste im Griff zu haben und halbwegs problemlos weiter zu leben. Der Begriff Illusion ist hier nicht abwertend gemeint, denn vieles in unserem Leben ist eine Illusion, auch Ängste haben sehr häufig einen illusionären Anteil. Unsere Illusionen müssen uns nur plausibel vorkommen und wenn wir am Leben gut und unbeschwert teilnehmen können, ist alles in Ordnung.

Unsere Rituale und unser Glaube helfen uns, die Angst klein genug zu halten, so dass sie uns im Leben nicht groß bedrängt. Doch nicht nur die Menge der Ängste fließt in die Gesamtsumme der Angst ein, auch ihre Qualität oder Intensität. Ein kurzer Schreck und eine Panikattacke, die fast immer mit Todesangst einher geht, stehen am anderen Ende des Spektrums. Bei 20 Dingen leichte Angst zu bekommen ist etwas anderes, als bei einer Begegnung Panik mit Todesangst, die Quantität ist nicht alles.

Ängstliche Menschen und Menschen mit manifesten Angsterkrankungen haben viele Ängste und eine hohe Angstqualität. Sie sind durch die Rituale des normalen Lebens nicht mehr zu beruhigen. Sie zweifeln, sind verunsichert, merken, dass all die Erklärungen der anderen sie nicht mehr in Ruhe wiegen und die Befürchtungen, dass aber dennoch etwas passieren könnte – sei es, dass doch irgendwo eine Spinne herumläuft, sie ein Infarkt trifft oder man angesprochen wird – sind für sie nicht genügend geklärt.

Die Angst vor der Angst

Wenn die Angst vor der Angst sich breit macht, ist die Situation schon halbwegs eskaliert. Man beginnt die angstauslösenden Situationen zu meiden und daraus resultiert nach der Idee der Verhaltenstherapie eine Art Selbstverstärkung. Meide ich die Situation, so geht es mir gut, konfrontiere ich mich, geht es mir erst mal schlecht. Dadurch wird ein falsches Vermeidungsverhalten verstärkt und operant konditioniert. Doch das stimmt nicht umfassend. Unsere Psyche ist nur zu einem gewissen Teil bequem und weicht aus. Ein anderer Teil funktioniert ganz anders, hat Normen und Regeln verinnerlicht, denen es nun vielleicht in der Angst nicht mehr genügt. Man ist nicht einfach nur froh, der angstbesetzten Situation entkommen zu sein, sondern man weiß, dass man nicht mehr richtig „funktioniert“. Das kann einen zusätzlich quälen, man verurteilt sich selbst, schämt sich, fühlt sich wie ein Versager, zermartert sich das Hirn und fragt, wie es dazu nur kommen konnte.

Angst ist vielschichtig und hat mitunter ein sehr individuelles Gesicht. Das bedeutet, dass die Verhaltenstherapie für viele Menschen mit Angstzuständen sehr gut geeignet ist. Umso mehr, wenn der Patient dem Therapeuten vertraut und das Konzept der Verhaltenstherapie einleuchtend und überzeugend findet. Doch wenn es so weit kommt, dass man eine Therapie in Anspruch nimmt, ist vorher schon etwas passiert.

Die Diagnose

Bin ich zu ängstlich? Nun hat man eine Diagnose bekommen, die die Sache scheinbar geklärt hat. Man hat irgendwas aus dem Formenkreis der Angststörungen. Diagnosen verändern einen Menschen. Wenn ein gesunder junger Mensch ständig Panik bekommt, schwitzt und zittert und überhaupt nicht einschätzen kann, was los ist, dann kann so eine Diagnose eine Erlösung sein. Es muss nicht zwingend akute Panik sein, auch die andauernde Selbstbeobachtung, die einen davon abhält das Leben zu genießen, weil man ständig einen unsichtbaren Mühlstein um den Hals hängen hat, ist auch auf lange Sicht ein verheerendes Gefühl. Es kann erleichtern, wenn man hört, dass die multiplen körperlichen Symptome „nur“ psychischer Natur sind. Es kann auch verstören: Ich bin doch nicht bekloppt! Die Problematik psychosomatischer Erkrankungen.

Eine Diagnose kann aber auch als Stigma erlebt werden. Jetzt bin ich krank, auch noch psychisch krank. Manche fühlen sich abgestempelt, zumal, wenn die Diagnose in relativ jungen Jahren kommt. Alte Hasen können teilweise damit umgehen, wissen es einzuschätzen. Es gibt Menschen, die zig Diagnosen bekommen haben, zu ein und derselben Symptomatik. Da wird man irgendwann gelassener. Eigentlich ist man niemand anders als gestern, aber heute ist man auf einmal ein ICD oder DSM irgendwas. Was bedeutet das jetzt, für mich? In dieser Frage muss man sich erst einmal neu sortieren.