Person mit Händen vor dem Gesicht, schwarzweiß

Es ist deprimierend, wie man mit Studien über die Wirkung von Antidepressiva zuweilen umgeht. © ryan melaugh under cc

Die Forschungsergebnisse für Antidepressiva und der Umgang mit ihnen sind ein Paradefall dafür, wie es nicht laufen sollte. Das muss besser werden.

Vertrauen ist eine endliche Ressource

Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen immer weniger Vertrauen in Institutionen haben, insbesondere dann, wenn diese den Eindruck erwecken, dass sie ‘von oben’ kommen. Unsere Gesellschaft besteht aus den Grundkomponenten einer repräsentativen Demokratie, der Orientierung an einem wissenschaftlichen Weltbild und der Marktwirtschaft. Unser Wertekanon ist vielschichtig, hat seine Quellen im Christentum, Judentum, Rom und Griechenland, den Werten der Aufklärung und den Konsequenzen aus der Nazizeit, zudem beeinflusst die zunehmende Migration unser Wertesystem.

Diese Systeme sind voneinander getrennt und diese Differenzierung kann zu weit gehen und wird dann zur Dissoziation führen oder zu wenig differenziert sein, in beiden Fällen kann es zu unterschiedlichen Formen des Machtmissbrauchs kommen.

Während die Marktwirtschaft besonders unter den Schlagwörtern Kapitalismus und Neoliberalismus schon länger in der Kritik steht, ist es bei Demokratie und Wissenschaft anders. Der Demokratie gegenüber entwickelte sich eher ein schleichendes Desinteresse, etwas später setzte der Vertrauensverlust in die Wissenschaft ein. Moral und Werte sind ein Sonderfall, da sie auf eigenartige Weise, fast von allen Seiten kritisiert werden.

Die Wissenschaft kam besonders während der Jahre der Corona-Pandemie in den Verdacht, letztlich im Dienst des Staates zu stehen, doch auch vorher ging das Vertrauen in sie schon schrittweise zurück. In dem Maße, in denen einige auf sie setzten, fühlten sich andere abgeschreckt. Ein Dilemma. Dazu kommt seit Jahren der neue Zweig der Faktenchecker und Erklärer. Die einen empfinden das als hilfreich, andere sind misstrauisch und fühlen sich mehrfach gegängelt.

Ein tiefer liegendes Problem ist, dass unter Faktencheckern und ihren Anhängern mitunter die Vorstellung verbreitet ist, dass sich alles entlang von Fakten, die irgendwie einfach so da sind, auflösen lässt. Fakten sind aber nicht einfach so da, sondern entstehen immer erst in einem theoretischen Kontext. Durch diesen theoretischen Kontext bekommt etwas bestimmte Messdaten zugewiesen, 1 kg schwer, 75 cm Durchmesser, 8,3 g/cm³ Dichte, positive elektrische Ladung, 1ℏ Spin und so weiter.

Die Frage ist nun, ob man mit beliebig vielen physikalischen Messwerten alles in der Welt abbilden kann. Wie Wein schmeckt, wie es ist, verliebt oder traurig und deprimiert zu sein. Die Antwort lautet: Nein, man kann es nicht, und man ist nicht einmal nahe daran, es zu können. Man kann, sagen die einen, aus Quantitäten keine Qualitäten machen. Die anderen, dass man das sehr wohl kann, nur ist es bis jetzt nicht gelungen.

Damit wird aber auch das, was einfach so ist – die Fakten – zu etwas, was bestenfalls einen begrenzten Aussagewert hat, in jedem Fall muss dieser durch einen Kontext erhellt werden. Diese Lücke, zwischen Qualität und Quantität wird uns noch öfter beschäftigen, auch bei den Antidepressiva.

Moderne Antidepressiva

Moderne Antidepressiva sind in der Regel Medikamente, die dafür sorgen, dass bestimmte Botenstoffe (vor allem Serotonin und Noradrenalin), die auch im Gehirn aktiv sind, vom Körper weniger schnell abgebaut werden und dadurch länger im Blut zirkulieren. Dafür wurden Mittel entwickelt, die zielgenau/selektiv den Abbau von Serotonin oder Noradrenalin verhindern: Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) oder Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI). Die Idee dahinter ist, dass vor allem Serotonin gegen Depressionen hilft, genauer, ein Serotoninmangel Depressionen auslöst.

Die Idee war schon immer umstritten, aber wenn die Forschungsdaten zeigen, dass Depressionen verschwinden, wenn man den Serotoninspiegel im Gehirn erhöht, dann muss ja etwas dran sein, an der Hypothese. Die Forschungsdaten gaben das her, jedenfalls berichtete man das. Das Problem war nur, dass die Wirkung gar nicht so groß war und die Studien, die das belegten, einfach von der Herstellerfirma nicht veröffentlicht wurden. Die mit der moderaten Wirkung wurden veröffentlicht, das ging damals auch durch die Presse, wurde aber nicht weiter beachtet[1].

In diversen Metastudien wurden dann alle verfügbaren Studien gesichtet, dann gab es weitere Metastudien und Übersichtsstudien zu diesen Metastudien, aber im Grunde ist da nichts zu retten. Bei Wiki findet man:

„SSRI sind die am häufigsten eingesetzten Antidepressiva. Die Wirkung der SSRI auf das depressive Syndrom ist abhängig von der Schwere der Erkrankung. So ist bei leichtgradigen Depressionen häufig keine statistisch nachweisbare Überlegenheit gegenüber der Gabe von Scheinmedikamenten (Placebo) festzustellen. Bei schwerer ausgeprägten Depressionen hingegen sprechen etwa 50–75 Prozent der Patienten auf ein SSRI an, während etwa 25–33 Prozent der Patienten auf Placebo ansprechen.“[2]

Was dort nicht steht, ist, dass SSRI-Präparate auch bei mittleren Depressionen so gut wie überhaupt keinen Effekt haben. Einzig bei starken Depressionen kann man von einer Wirkung reden, die die Patienten auch merken, auch die ist statistisch nur moderat und sie wirken nicht bei jedem. Ein schlechtes Medikament hat aber auch unerwünschte oder Nebenwirkungen und die sind nicht ohne.

Und schließlich ist es bekanntermaßen schwierig, diese Medikamente abzusetzen, ohne dass die Symptome wieder auftreten. Auch das ist ein Problem, das berücksichtigt werden muss.

Die Forschungsergebnisse und wie man mit ihnen umgeht

Ich liebe es Radio zu hören und tue das oft, vor allem WDR 5, ein Sender mit einem hohen Gesprächsanteil, in dem neben Gesellschaft und Politik auch Kultur, Philosophie, Psychologie und Wissenschaft zu Wort kommen. Wie überall gibt es auch hier eigene Podcasts, einer davon von den Quarks Science Cops, die es sich zum Ziel gesetzt haben, das was sie für unwissenschaftlichen Unsinn halten durch Recherchen auf der Basis wissenschaftlicher Forschungen zu belegen.

Der Ton ist locker und unterhaltsam, die Themen gut recherchiert, wenn auch mit erkennbarer Tendenz, vor Spott und Häme schreckt man nicht zurück, auch wenn sie etwas versteckt sind. Eine Stilfrage, aber man liegt im Zeitgeist oder meint es zumindest. Ein Sparte, die bedient werden will, wie andere eben auch.

Die Science Cops machen keinen Hehl daraus, dass die Wirkungen der SSRI-Präparate alles andere als gut sind. Auch in den wenigen Fällen, in denen sie merkbar wirken – einzig bei schweren Depressionen – ist es so, dass sie darauf hinweisen, dass auch diese Wirkung stark vom allgemeinen Umfeld abhängt, so dass nicht klar ist, woher die Besserung nun wirklich kommt.

Interessant – nennen wir es einfach mal so – wird es in den Moment, in dem sie auf die Berechtigung zur Gabe der Mittel hinaus wollen, denn am Ende sind sie der Meinung, die Lage sei doch unklar und man könne auf jeden Fall nicht sagen, dass diese SSRI-Depressiva unwirksam seien, nein, dagegen verwehren sie sich.

Ihre Begründung ist, dass, obwohl die Wirkung der Antidepressiva auch bei schweren Depressionen nicht gerade überragend ist, es doch einige einzelne Fälle gibt, in denen die Wirkung sehr groß ist. Ich würde auch so argumentieren. Die Gabe von Medikamenten ist generell nie frei von Nebenwirkungen. Insofern ist Therapie in den meisten Fällen ein Abwägen der Relation von Kosten und Nutzen. Ist ein großer Nutzen bei vergleichsweise geringem Schaden zu vermuten, ist das Medikament einen Versuch wert.

Interessant ist die Quelle der Angabe der mitunter sehr großen Wirkung. Es sind ihrer Meinung nach Anekdoten von behandelnden Psychiaterinnen und Psychiatern.[3] Das war die Stelle, an der ich mich verwundert fragte, ob ich richtig gehört habe. Denn anekdotische Erzählungen über irgendwelche Heilungen oder Vorkommninsse sind speziell in Kreisen, die sich auf ihre Wissenschaftlichkeit berufen, genau das, worüber man sich gewöhnlich kaputtlacht. Gerade darum gibt es ja Statistiken, weil man sich so sehr irren kann, wenn man selbst berichtet, was man erlebt hat, nichts ist in dieser Weltsicht normalerweise weniger wert. Das geht bis in Bereiche, bei denen plötzlich gesundete Patienten abgesprochen wird, an einer Krankheit gelitten zu haben, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Der Wert von Anekdoten

Ich sehe das anders. Anekdoten haben für mich einen hohen Wert. Es gibt sicher immer wieder mal berechtigte Zweifel an bestimmten Darstellungen, mitunter andere oder vielleicht bessere Erklärungen, aber nicht jeder Mensch ist leichtgläubig oder unzuverlässig. Die eindrucksvollen Erlebnisse sind aber oft genau die, die man nicht wiederholen und messend nachvollziehen kann. Die Erklärung? Ja gut, Zufall, statistischer Ausrutscher, Messfehler, vielleicht eine kleine Voreingenommenheit des behandelnden Arztes, ein Beobachtungsfehler, ein Placeboeffekt man hat sich da vielleicht auch gegenseitig etwas eingeredet oder war, wie erwähnt, womöglich auch niemals krank.

Oder manchen wir es ganz einfach. Was wäre, wenn ein Arzt, der homöopathisch behandelt, von seinen Anekdoten erzählt? Wie viel wäre den Science Cops diese Geschichten wert? Man ahnt die Antwort.

Der Punkt ist der: Man kann auf Anekdoten zurückgreifen oder diese völlig verwerfen. Was man nicht machen kann, ist in dem einen Fall diese in Bausch und Bogen zu verurteilen und im anderen auf sie zurückzugreifen, denn das offenbart eine Voreingenommenheit.

Der Wert von Psychotherapie soll bei Depressionen auch nicht gut sein, erfahren wir am Rande. Hört man genauer hin, erreichen manche jedoch Spitzenwerte, auch hier hätten wir Anekdoten. Zum Thema Depression eine von Otto Kernberg, der davon berichtete, dass Edith Jacobson, eine Psychoanalytikerin, sogar depressive Patienten mit Psychosen erfolgreich behandelt hat, allerdings hatte sie auch eine extrem hohe Toleranz gegenüber Rückschlägen, die kein normaler Therapeut aufbringt.

Es gibt aber Studien, die die Effekte von Psychotherapie sehr viel positiver sehen und vor allem auch als stabil ansehen.[4] Aber die Lücke zwischen Qualität und Quantität entspricht der zwischen Statistiken und Anekdoten. Wenn etwas passiert, was eigentlich nicht passieren kann, bringt es wenig das zu ignorieren oder zu bagatellisieren und auch an diesem Punkt muss man neu nachdenken.

Nur akademisches Gerede?

Denn das ist ja eine weitere Frage, was nun Menschen, die an Depressionen leiden, mit Informationen anfangen sollen, die ihnen sagen, dass es keine Mittel gibt, die ihnen helfen können und dann hören, dass Psychotherapie auch kaum hilft. Ihnen sei gesagt, dass man nach Ansicht etlicher Psychiater Depressionen heute sehr gut behandeln kann, auch wenn man immer noch nicht weiß, woher sie eigentlich kommen, denn die Serotonin– und oder Noradrenalinmangel-Hypothese ist schlicht nicht haltbar.

Es hat auch Vorteile, wenn man sich nicht auf einem Zugang einschießt, da man zu vernachlässigten Ansätzen greifen kann und schlimmer als so gut wie wirkungslos kann es kaum sein. Die Studienlage ändert sich immer wieder mal, aber Johanniskraut ist nach wie vor vielversprechend, gerade bei leichten und mittleren Depressionen. Durch die Vielzahl möglicher Ursachen der Depression, bietet sich auch die Möglichkeit eines ganzheitlichen Ansatzes, der ebenfalls vielversprechend ist.

Es gibt eine enge Verwandtschaft von Depressionen und Schmerzen und für beide gilt, dass sie so gut auf Bewegung ansprechen, dass diese als integraler Bestandteil einer Therapie kaum wegzudenken ist. Zusätzlich sprechen beide sehr gut auf Placeboeffekte an, was man unbedingt in die Therapien einbauen sollte.

Sich sein Leben so einzurichten, dass es einem sinnvoll erscheint, wird inzwischen wieder als entscheidend angesehen und schließlich wird an der antidepressiven Wirkung von Halluzinogenen geforscht, die einen vollkommen anderen pharmakologischen Zugang haben, als die neuen oder älteren Antidepressiva.

Die Forschungsergebnisse für Antidepressiva sind schlecht. Doch auch in anderen Bereichen psychischer Erkrankungen ist die Tendenz, immer schneller und immer mehr Psychopharmaka zu verordnen, eher dem Trend zu schnell und billig und vom Pharma-Marketing verursacht.[5] Patienten haben davon in der Regel wenig und oft, kaum diskutierte Nachteile. Darüber muss weiter geredet werden.

Quelle:

  • [1] Die Akte Antidepressiva: Echte Hilfe oder nutzlos?, Quarks Science Cops. 11.11.2023. 01:11:38 Std.. Verfügbar bis 10.11.2028, https://www1.wdr.de/mediathek/audio/quarks-science-cops/index.html, ab 36:18
  • [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Serotonin-Wiederaufnahmehemmer#Unerw%C3%BCnschte_Wirkungen
  • [3] Die Akte Antidepressiva: Echte Hilfe oder nutzlos?, Quarks Science Cops. 11.11.2023. 01:11:38 Std.. Verfügbar bis 10.11.2028, https://www1.wdr.de/mediathek/audio/quarks-science-cops/index.html, ab 53:10
  • [4] Psychische Störungen behandeln – Self-Tracking – Maschinen hören, WDR 5 Quarks – Wissenschaft und mehr. 05.01.2024. 01:20:18 Std.. Verfügbar bis 04.01.2029. WDR 5, https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/quarks/wissenschaft-und-mehr/audio-psychische-stoerungen-behandeln—self-tracking—maschinen-hoeren-100.html ab 3:53
  • [5] Psychische Störungen behandeln – Self-Tracking – Maschinen hören, WDR 5 Quarks – Wissenschaft und mehr. 05.01.2024. 01:20:18 Std.. Verfügbar bis 04.01.2029. WDR 5, https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/quarks/wissenschaft-und-mehr/audio-psychische-stoerungen-behandeln—self-tracking—maschinen-hoeren-100.html