Die Weltbilder des gespaltenen Europa

Eine Frage der Perspektive. © [●] wim goedhart under cc
1990 siegte der Kapitalismus über den Kommunismus, doch das führte nicht zu einem Ende der Geschichte. Jürgen Habermas schrieb ein Buch mit dem Titel Der gespaltene Westen bereits im Jahr 2004. Seit dem ist die Spaltung Europas, unter freundlicher Mithilfe der USA und Russlands weiter vertieft worden. Es geht gar nicht darum Europa auf eine bestimmte Seite zu ziehen sondern es reicht die Spaltung als solche.
Wir wollen es nicht wahr haben, weil wir Zeitzeugen einer 500 Jahre währenden Ära sind, aber der Eurozentrismus, die alte Normal kommt genau in diesen Jahren an sein Ende. Europa wird unwichtiger, weil es älter wird, demografisch schrumpft, es wird zunehmend uninteressanter und zur Verhandlungsmasse. Peter Scholl-Latour spricht von einem Ende der weißen Weltherrschaft. 2006 schreibt Gunnar Heinsohn, Amerika sei ein Riese auf tönernen Füßen, wir erleben längst eine Neuausrichtung der Kräfteverhältnisse.
„Die USA möchten über China reden. In der Eskalation um die Ukraine müssen sie sich stark auf Europa und Russland konzentrieren. Doch das kommt der US-Regierung eigentlich nicht gelegen – und vielleicht ist es auch eins der letzten Male, dass die USA sich in Europa so zielgerichtet engagieren. Denn eigentlich möchten sie sich ganz und gar auf den eigentlichen Widersacher konzentrieren: Peking.“[2]
Wir kommen darauf zurück.
Das gespaltene Europa brachte zwei Typen als extreme Pole hervor. Zum einen jene Weißen, die sich überall auf der Welt gegen ihren Bedeutungsverlust stemmen, zum anderen eine Gruppe, die auch diese Wachablösung feiert. Die einen wirken konservativ, bei SINUS finden wir sie als Nostalgisch-Bürgerlich, Traditionelle und Konservativ-Gehobenes Milieu, ihnen gegenüber stehen Performer, Expeditive, Post-Materielle und Neo-Ökologische. In der Mitte Adaptiv-Pragmatische und ein Konsum-Hedonistisches Milieu, das sich anpasst.
So unterschiedlich und zerstritten die Lager zu sein scheinen und mitunter auch sind, so sind sie, was das Weltbild angeht, nahe bei einander. Ken Wilber zeigte recht überzeugend, dass das grüne Mem, der seltsame Pluralismus, zum fiesen grünen Mem (mean green meme) werden kann, dadurch, dass der Werterelativismus (‚auf seine Art hat jeder Recht‘) schnell zum Wertebnihilismus wird (‚wenn alle Werte gleich gut sind, spielen Werte ohnehin keine Rolle‘) und von da aus ist es nicht mehr weit zum Narzissmus (‚wenn Werte keine Rolle spielen, will ich wenigstens Spaß haben‘). Anders ausgedrückt: Wer ‚das moralische Gesetz in mir‘ vernachlässigt, erntet Narzissmus. Der psychologische Gegenpol des Narzissmus ist die paranoide Einstellung und vielleicht durch die neuen Unsicherheiten in der Tektonik der Macht, sieht man bei den Konservativen, als auch bei den Progressiven und bei den angepassten Adaptiven, Regressionen der Masse und Gruppen und die Frage: Macht Angst die Menschen gefügig? zwischen narzisstischer und paranoider Einstellung. Mal fühlt man sich auserwählt und besonders, dann wieder verfolgt und als Opfer. In unseren manchmal seltsamen Zeiten leitet man aus dem Umstand sich als Opfer zu fühlen, eine Besonderheit ab. In der Mitte stehen die smart Anpassungsfähigen, denen Werte ohnehin relativ egal sind und auch der schlanke Opportunismus ist eine Variante narzisstischen Verhaltens.
Auf den ersten Blick hat man hier umweltbewegte und sozial engagierte Kosmopoliten und auf der anderen Seite Menschen, die sich oft überrannt, vergessen und manchmal verachtet vorkommen, doch der selbstgerechte Moralismus mit der neuen Freude an Regeln und Verboten auch im ehemals linken Lager (das für das Gegenteil stand) wirkt nicht so wahnsinnig fortschrittlich und entwickelt, wohingehen die Rechte, die immer Law and Order wollte, sich gerne als Freiheitskämpfer darstellt. Das Freiheitsnarrativ auf der Rechten ist zwar keinesfalls neu, Götz Aly hat es herausgearbeitet. Es sind oft Neid, die Freiheit als Gleichheit in der materiellen Versorgung und am ein merkwürdiger Hang zum Kollektivismus. Der Kollektivismus wurde inzwischen jedoch von der Werbeindustrie geschickt umformuliert. So können sich noch die Angepasstesten als echte Freiheitskämpfer fühlen, wenn sie sich so verhalten, wie die Mode es für Individualisten vorschreibt. Diejenigen die darauf pfeifen, interpretieren ihre Freiheit oft als die Willkür gegen all das zu sein, was sie als moralisches oder gesetzliches Verbot erleben (wollen), so dass sie zwischen Trotz und Opferidentität pendeln. Dass es hier zu allerlei Zwischenstufen und Überlappungen kommt, sieht man immer wieder, wenn Lager zusammenfinden, die angeblich gar nicht zusammen passen.
In der Ansicht, dass es nicht darum geht andere zu überzeugen, sondern zu zwingen, sind sich die meisten einig. Macht über das Argument zu stellen, ist aber nichts anderes als ein erneuter Rückfall hinter die Aufklärung. Doch wenn man sich lagerübergreifend einig ist, dass Moral, Ethik und Gewissen etwas aus der Zeit gefallen sind und das es statt dessen auch Follower und Verbreitung ankommt, bekommt man keinen Fuß in die Tür. Denn aus der Perspektive folgt sogleich die Praxis. Wenn ich immer mehr Menschen davon überzeuge, dass Moral etwas ist, was einen zum Grinsen bringt, dann wird das irgendwann auch Lebensrealität. Der Transport der Weltbilder ist abhängig von den Individuen, die sie teilen.
Der Kampf der Narrative und seine Emergenz: Das integrale Weltbild
Es gibt nicht die eine, richtige Erklärung. Das ist der Wunsch einer Weltsicht, die alles verstehen möchte, doch das ist in einer Situation mit einigen, sich überschneidenden Weltbildern, die alle ihre Wahrheit haben, nicht zu haben. Einfache Erklärungen werden einer komplexen Welt zwar nicht gerecht, aber sie verfangen dennoch, denn sie machen die Welt verstehbar. Man müsste einfach nur … und dann kommt das eine Rezept, das die Welt garantiert besser machen würde. Nur, dass nicht jeder Lust hat, nach diesen Rezepten sein Leben ein- und auszurichten.
Aber könnte man nicht die besten Ideen kombinieren? Genau das ist die Idee des integralen Weltbild, das im Grunde wenig eigene Impulse setzt, aber versucht die starken Seiten aller Vorgänger aufzunehmen und zu kombinieren. Denn das ist der Haken der Weltbilder, sie können einander nicht leiden und noch der Pluralismus des empfindsamen Selbst findet alle Vorgänger kalt, unempathisch und rüpelhaft. Doch zu verwerfen sind im Grunde nur die einseitig gewordenen Versionen. Smarte Organisation ist toll, aber eine Überbürokratisierung ist lähmend für die Kreativität und absolut nervtötend im Alltag, wenn man Zwangsstörungen nicht zu seinem Hobby gemacht hat.
Der reife Rationalismus eines Kant, der Ehrfurcht gegenüber dem Sternenhimmel und dem Moralgesetz empfinden konnte, kann dem reifen empfindsamen Pluralismus, der wirklich alle ernst nimmt und Wort kommen lässt, statt zum politischen Programm und zur eigenen Blase zu werden, problemlos die Hand reichen. Dass es kein Fehler ist, mal wieder – ganz mythisch – ein Ziel zu definieren, statt Menschen zu erklären, dass es ihnen immer besser geht, sie es nur einfach nicht merken, wäre auch nicht so dumm. Zugleich den Einzelnen motivierend und die Einzelnen zu einer Gemeinschaft verbindend. Denn auch das ist die Stärke des mythischen Weltbildes, dem Ich über die Fixierung auf sich hinaus zu helfen, denn sagen wir, wie’s ist, Narzissmus macht unglücklich, ist bereits ein Kompensationsmechanismus, vom Menschen, die grandios wirken (wollen), weil sie fürchterlich unsicher sind. Aber nicht jedes Wollen ist ungesund narzisstisch, es ist ein Vorteil gewesen, seine Individualität zu leben und gehen wir noch mal zu Europa, das Geschenk von Europa an die Welt ist die mühsam errungene Erfindung des Individuums. Es sollte als solches verstanden werden. Der Individualismus selbst entspringt einer Situation der soliden Versorgung, die für alle gesichert sein sollte, wenngleich sie nicht das höchste Ziel ist.
Das sind schon die positiven Eigenschaften, die das integrale Weltbild in sich vereint, indem es aus dem Kampf der Weltbilder ein Miteinander macht. Ein durchaus komplexes Spiel, aber eines, was heute immer mehr Menschen verstehen und durchdringen. Das ist gut, denn auch hier gilt, dass der Transport der Weltbilder abhängig ist, von den Individuen, die sie teilen. Man hört immer mehr integrale Stimmen. Es ist dabei völlig egal, ob sie sich inhaltlich auf eine integrale Theorie beziehen, es reicht, dass man erkennt, dass sie zu integralem Denken in der Lage sind und es ist gut, dass sie ihre eigenen Schwerpunkte setzen.