Mainstream und Pluralismus

Auf der gesellschaftlichen Seite haben wir seit Jahren mit einem Pluralismus zu tun, der zwar seine gute Absicht zu erkennen gibt, aber genau diese sind auch seine Schwäche. Der weltanschauliche Pluralismus hat mit einigen Problemen und Selbstwidersprüchen zu kämpfen.

  • Er feiert die Buntheit der möglichen Perspektiven, hat aber für diejenigen, die es – aus welchen Gründen auch immer – mit der Buntheit nicht so haben, nichts anzubieten, außer der suggestiven Formel, dass man die Schönheit des Bunten schon irgendwann erkennen wird und ansonsten eben einfach mitzumachen hat. Spätestens an dieser Stelle wird der Pluralismus aber ideologisch und sortiert bestimmte Farben aus.
  • In der Verherrlichung des Bunten ignoriert der Pluralismus, dass bestimmte Einstellungen einfach nicht zusammen passen. Ich sprach das neue Bild der Frauen und der Männer an, das in den letzten Jahrzehnten bei uns gewachsen ist. Wie auch immer man das inhaltlich bewertet, es passt einfach nicht zu traditionell patriarchalischen Einstellungen. Dasselbe gilt für unsere Einstellung über Homosexualität. Dass Ganzrechte das versuchen auszuschlachten kann man zwar als Ärgernis sehen, da sie sich nie sonderlich für Frauen. Minderheiten oder Homosexuelle interessiert haben, inhaltlich ist aber dennoch zu klären, wie ein wenig Patriarchat denn zu einer Gesellschaft passen könnte, die gerade alte, weiße Männer bashen will.
  • Der Pluralismus kann eine stille moralische Prämisse, dass man stets gut, nett und nachsichtig behandelt wird, wenn man andere gut, nett und nachsichtig behandelt, nicht als allgemein gültig belegen. Gerade auch die Ganzrechten in allen Teilen der Welt machen unmissverständlich klar, dass sie dieses Agieren als Schwäche verachten. Daran ändert auch ein noch größeres Herz und noch mehr Verständnis nichts. In der Psychotherapie haben sich strukturierende Maßnahmen besser bewährt.
  • Ein performativer Selbstwiderspruch des Pluralismus liegt darin, dass er gerne universelle Werte geltend machen möchte, aber wenn diese universellen Werte Vorrang vor anderen regionalen Werten haben sollen (was sie müssen, wenn sie universelle Geltung beanspruchen), sind sie nicht mehr bunt und nicht ausgrenzend im Sinne des Verständnisses dieses ideologischen oder politischen Pluralismus.
  • Nicht zuletzt wirft ein so verstandener Pluralismus die Frage auf: Wenn vielfältige Angebote vorhanden sind, wie ist es es nun letzten Endes richtig? Welche der Ansichten stimmt? Was soll nun konkret getan werden?

Der old style Mainstream hatte darauf Antworten, aber wir dürfen nicht vergessen, dass der old style Mainstream sich im Laufe der Jahrzehnte verändert hat. Von einer Einstellung in der law and order, Anstand, Sauberkeit und traditionelle Werte regierten, ist man immer mehr abgekommen, hin zu einer immer offeneren Gesellschaft, die Sinn und Zweck der alten Werte hinterfragte und immer mehr Gleichberechtigung ermöglichte, so dass die traditionalistischen Einstellungen zwar noch existieren, aber eher eine stärkere Minderheit darstellen, die Mehrheit ist in der Tendenz offener geworden und funktionalistischer, womit ich meine, dass man durchaus noch ein irgendwas glaubt und sich an bestimmten Werten orientiert, aber oft gar nicht mehr sagen kann, an welchen denn überhaupt.

Vermutlich ist aber auch genau das eine Stärke des neuen Mainstream gewesen, es funktionierte alles recht reibungslos, ohne dass man sich größere oder tiefere Fragen stellen musste, dabei hat man ein Stück weit vergessen, dass man es aber dennoch machen kann. Erst in einer noch späteren Entwicklung hat man einen Rekurs auf Werte und tiefere Überzeugungen als insgesamt antiquiert angesehen, als wir alle auf Sicht fuhren und den Pragmatismus noch neu und aufregend fanden. Denn der Nachteil ist, dass man als Pragmatiker für nichts stehen muss, Hauptsache der Laden läuft irgendwie.

Die Macht der Normalität zeigte sich auch hier, Werte und Moral galten als verstaubt, man versuchte zu beweisen, dass sie irgendwie sowieso nicht existieren, oder so ein antiquiertes religiöses Ding seien und der fröhliche Werterelativismus nahm im ideologischen Pluralismus seine inzwischen ebenfalls stärkere Ausprägung an, andere gingen den Weg vom Relativismus (alles ist gleich gut), zum Nihilismus (daher beliebig und verzichtbar) zum Narzissmus (darum will ich wenigstens Spaß und/oder Erfolg haben). Beide sind unterm Strich verwandter, als sie glauben.

Und der Mainstream? Es gibt ihn eigentlich nicht mehr, die eine große Erzählung, das Bündel an Werten, was uns alle eint, ist in der Form, wie es vor Jahrzehnten vielleicht noch existierte, heute nicht mehr zu finden. Und analog zur Situation des Individuums, des Kindes, dem niemand mehr sagt, welches Wort mehr Wert hat, als die anderen. So ging es auch uns, auf unserem in weiten Teilen regressiven Weg, wir wollten doch eigentlich nur spielen, von der Spaßgesellschaft war die Rede, bevor alle wieder ganz ernst wurden.

Normalität als Schutz

Dabei ist die Macht der Normalität auch heute noch erstaunlich, man muss sie nur zu nutzen wissen. Extremistischen Kräften ist die Normalität stets ein Dorn im Auge, weil sie die große, gar nicht mal sonderlich spannende Gegenerzählung zu den schillernden Geschichten darstellt. Denn eines gebietet die Normalität, dass man weiter das tut, was normal ist. Was macht man? Weiter!

Das ist durchaus erstaunlich, es kann passieren was will, irgendwann und irgendwie muss es weiter gehen und das tut es dann, allen Unkenrufen zum Trotz, auch. Hier wenigstens in einem funktionalistischen Sinne, man weiß, was man zu tun hat. Und selbst wenn man es nicht so genau weiß, legt man los, wenn alles in Schutt und Asche liegt, wie nach dem letzten Weltkrieg, baut man eben alles wieder auf. Normalität als Praxis, aber in dem man eine ungefähre Ahnung hat, was man tun soll, wirkt sie stabilisierend und verbindend.

Daher ist es kein Zufall, dass diese Normalität so gerne kritisiert wird. Terroristen wollen Terror gerade dadurch verbreiten, dass sie einer Gesellschaft zeigen, dass sie nicht vollkommen zu schützen ist, der Terror kann potentiell überall lauern. Die erstaunliche Macht der Normalität liegt darin, dass sich auch darauf eine Antwort hat, die kraftvoll ist, man macht einfach weiter, auch wenn man vielleicht nicht so genau weiß, warum, aber was soll man denn sonst machen? So zieht die Normalität oft unbeeindruckt ihre Bahn und macht, was sie am besten kann: weiter.

Analog ist es beim Individuum. Nach einer großen persönlichen Katastrophe, nach der alles anders erscheint oder auch ist, kommt man vielleicht nicht zur üblichen Normalität zurück, aber man sucht sich oft eine neue Form, die dem Leben Halt und Struktur gibt. Abgeschwächter kennen wir dies vermutlich aus persönlichen Krisen. Die Momente, in denen man seiner Arbeit nachgeht und in eine der gewohnten Rollen schlüpft, sind jene, in denen man aus der Krise, die man gerade durchmacht für ein paar Stunden herauskommt.

Die Macht der Normalität hat Licht und Schatten

Was den einen Kraft gibt, frustriert die anderen, denn Veränderungen sind unter diesen Bedingungen ebenfalls nur schwer möglich und so manche gute Idee ist im Mainstream schlicht untergegangen. Gut sieht man das an den gegenwärtigen Problemen, um die unsere Diskurse kreisen, von Klima über Wohlstand, Migration, Umweltverschmutzung und Rente. Nichts davon kam über Nacht, viele Themen hatte Jahrzehnte Vorlauf.

Ein pluralistischer Ansatz ist schon die richtige Antwort, denn nur auf ein Thema zu setzen löst die anderen nicht automatisch mit. Dennoch gibt es innere Verwandtschaften und Synergieeffekte, die man mitnehmen kann, wir werden drüber berichten.

Normalität ist verhasst, weil sie spießig erscheint und zu einem Teil ist es auch so. Ich erinnere mich an eine Mietwohnung, in der die Flurwoche, plus Keller dazu gehörte, wir waren „die Jungen“ des Hauses und Putzen war für die ältere Generation noch heilige Pflicht, an Zeit und Menge des Wassers, die man für Flur und Keller benötigte, meinte man früher mitunter den Wert eines Menschen ablesen zu können. So hätte es auch unser Waschkeller in Fragen der Sauberkeit locker mit einem OP Saal aufnehmen können, mit anderen Worten, hier zu putzen war überflüssig bis sinnlos. Zunächst nahm ich die Putzerei zähneknirschend als eine Mischung aus Unsinn und Demütigung, später dann als sozialen Akt, weil die Hausgemeinschaft es so wollte und wir eben die Neuen waren, noch später sah ich darin die Sache selbst und dass sie Menschen strukturieren kann.

Von hier aus geht es dann in mehrere mögliche Richtungen weiter. Bestimmte Aspekte der Normalität können zur Praxis oder zur Gepflogenheit werden, etwas, was man bei uns eben so macht und es braucht oft die Reise in andere Länder oder die Stimmen von Menschen aus fremden Ländern, um sich bewusst zu machen, dass man es anderswo eben ganz anders macht. Pünktlichkeit, Autofahren ohne Tempolimit, Fußball, Heimwerkerkeller, Wertarbeit, die Liebe zum Wald und Haustieren, sowie Steuererklärung wären typisch deutsche Bereiche, die man mögen oder kritisieren kann. So läuft es hier eben und vieles davon hat eben das Potential die Gesellschaft zu strukturieren und zu einen, weil man weiß, dass der andere es auch so macht.

Daraus entstanden typische frühere Gewohnheiten, wie Samstags bei der Bundesligaübertragung im Radio sein Auto zu waschen, die sich ihrerseits nach anderen Gewohnheiten richtete, am Wochenende war gewöhnlich frei, auch dies wird immer mehr aufgeweicht und damit unstrukturierender. Die Struktur kann im bewussten Ritual erhöht werden, das besondere Moment charakterisiert und als Idee helfen soll in andere Bereiche oder Erfahrungswelten vorzustoßen.

Doch die Gewohnheiten können auch zum fragwürdigen Selbstzweck werden und aus der Struktur, die eine Krücke darstellt, wird ein Zwang. Zu viele sinnleere oder antiquierte Gewohnheiten werden oft als Belastung und Einschränkung der persönlichen Freiheit erlebt. Der Wegfall aller Verbindlichkeiten ist schwieriger als Problem zu identifizieren, denn man kann erst mal tun, was man will. Das klingt verlockend, wenn man das Gefühl hat, endlich von der Leine gelassen zu werden, allerdings, wenn man nicht weiß, was man tun sollte oder könnte, klingt es eher die eine Drohung. Die erstaunliche Macht der Normalität wirkt als Bindeglied zwischen anderen und mir, wenn ich die Überzeugung haben kann, vom anderen zu wissen, was er tut und was ihn dabei antreibt. Das beruhigt, wenn es wegbricht, wirkt es entfremdend und verstörend.