Olaf Müllers Pazifismus

Friedenszeichen im Sepia Stil

Ein ikonisches Zeichen des Friedens, den wir hoffentlich bald feiern können. © Nicholas Raymond under cc

Müller sagt, die Gegenwehr mit Waffen sei nicht der bessere Weg, man könne andere und kreative Formen des Widerstands finden. Das Argument und sein Beispiel laufen in letzter Konsequenz darauf hinaus, dass Menschen nicht einfach andere Menschen töten, die sich nicht wehren. Vielleicht hier und da in geringer Zahl, aber nicht im großen Stil. Ob man nun allen Betroffenen zumuten kann, es auf dieses Experiment kreativer Widerstandsformen ankommen zu lassen, da wäre ich etwas im Zweifel.

Müllers Argument: Wir wissen nicht, was die Folgen der Waffenlieferungen sein werden. Er spricht davon, dass diese Folgen hinter einem Schleier des Nichtwissens verborgen seien und dass alle, die meinen, sicher zu wissen, was passieren wird, letztlich von einer Warte aus argumentieren, die sie nicht einnehmen können, weil sie es nicht wissen. Dieser Punkt stimmt und seine Vorsicht ist für mich nachvollziehbar.

Er sieht im wesentlichen zwei Gefahren bei zusätzlichen Waffenlieferungen: 1. die Zahl der Opfer auf allen Seiten und 2. ein Atomschlag.

Zum Punkt 1: Müller argumentiert einmal optimistisch, im Bezug darauf, dass die russische Armee keinen Völkermord und auch keine Massentötungen begangen hätten und beruft sich auf ein negatives Menschenbild, was hinter solchen Vermutungen stecken würde. Angesichts unserer eigenen Geschichte, in der industrialisierte Tötungen im großen Stil Realität waren, weiß ich nicht, ob ein Pessimismus nicht auch eine realistische Position sein kann. Man muss diesen Punkt nicht rassistisch interpretieren, ein Blick auf die Möglichkeit von Massenregressionen würde reichen, dies wäre einer, den man ohnehin nicht übergehen sollte.

Philosophisch sehe ich hier allerdings einen performativen Selbstwiderspruch, denn Müller argumentiert an dieser Stelle von einer Position des Nichtwissens aus, die er an der anderen Seite kritisiert. Sein weiterer Punkt ist dann auch zu sagen, dass wir es auf einen Optimismus ankommen lassen sollten, lapidar gesagt: So schlimm wird es schon nicht werden, solange man sich nicht mit Waffengewalt wehrt. Man kann das mehr oder weniger überzeugend finden, ich meine jedoch, dass Müller hier in letzter Konsequenz selbstwidersprüchlich argumentiert, dazu später.

Ist Überleben eigentlich der höchste Wert?

Olaf Müller kennt die Gegenargumente und führt an, dass es extrem schwer sei die Frage der (Zahl der) Menschenleben aufzuwiegen gegen die Fragen von Diktatur, Fremdbestimmung und Unterdrückung.

Müller betont die Schwierigkeit der Abwägung von Werten, nimmt sie aber in einem performativen Selbstwiderspruch zugleich für sich in Anspruch, wenn er von einer Obergrenze der Toten für den Preis der Unabhängigkeit spricht. Diese Obergrenze der Toten ist ja eine Abwägung von Werten, indem sie implizit behauptet, Freiheit und Selbstbestimmung seien ja schön und gut, aber nicht um jeden Preis.

Bewegen wir uns kurz von Müllers Position weg, hin zur Diskussion um die Coronapolitik, die uns allen noch sehr gut bekannt ist. Was mich gelegentlich gewundert hat, war, dass oft die Menschen, die von einer drakonischen Einschränkung der Freiheit durch die Coronapolitik sprachen – und die hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand dann auch mal sagten, dass Opa ja auch schon sehr alt ist und man das mit dem Überleben dann doch nicht zu hoch hängen sollte, wenn auf der anderen Seite der Waagschale die Freiheit auf dem Spiel steht – nicht selten jene sind, die nun das Überleben absolut setzen und die Freiheit nicht mehr so wichtig nehmen.

Wir reden auch von Menschen, die als völlig unzumutbare Einschränkung ihrer Freiheit empfanden, wenn sie einen Supermarkt mit einer Atemschutzmaske betreten mussten, aber eine gravierende Einschränkung der Freiheit, einen Diktatfrieden gegen den auch Habermas sich explizit wendet, will man den Menschen der Ukraine problemlos zumuten. Ein argumentativer U-Turn.

Wolfgang Schäuble hatte während der Corona Pandemie darauf hingewiesen, dass im Grundgesetz die Würde des Menschen eine herausragende Position einnimmt, mit dem angedeutenden Unterton, diese sei gegebenenfalls stärker zu gewichten, als das nackte Überleben. Das mag ein diskutables Argument sein, aber wie es sich im Einzelfall verhält, hat stets der betroffene Mensch zu entscheiden, nicht jemand für ihn und damit über seinen Kopf hinweg. Das gilt auch im gegenwärtigen Krieg so, die Überfallenen haben zu entscheiden, was ihnen ihre Freiheit wert ist.

Dass wir nicht für die Ukraine und ganz generell für betroffene andere Menschen oder Staaten entscheiden dürfen, sieht Müller auch so, sein Punkt ist an der Stelle, dass wir als Waffenlieferanten mit im Spiel sind und es an der Stelle eine Obergrenze an Opfern geben muss, wo immer man diese zieht. Dass diese Grenzen willkürlich sind, ist der eine Punkt, aber ich halte es für problematisch von einer prinzipiellen Argumentation, dass jemand seine Freiheit selbst verteidigen können soll, zu einer utilitaristischen Sicht umzuschwenken, die dann bei Opferzahl x halt macht und hofft, dass es schon nicht so schlimm werden wird.

Denn in dem Fall hätte man erst viele Todesopfer auf beiden Seiten und dann den Verlust der Freiheit, die noch höher wiegen soll oder zumindest einen weiteren fundamentalen Wert darstellt. Zudem: ob es nicht so schlimm wird, weiß man leider auch nicht. In vielen Ländern auf der Erde sind Menschen es aktuell gerade leid, in einer Diktatur zu leben und opfern lieber ihr Leben, statt so weiterleben zu müssen.

Formen des kreativen Widerstands

Olaf Müller formuliert aber auch einen positiven Gegenentwurf. Zum einen zitiert er einen katalanischen Wissenschaftler, der ein paar hundert kleinere Beispiele erfolgreichen zivilen Widerstands enthält. Das stärkste Beispiel (ab Minute 13:13 des Interviews) beeindruckt, aber es fand etwa einen Monat nach dem Angriff statt, im März 22.

Müller kritisiert, dass diese positiven Beispiele eines kreativen, zivilen Widerstands in der Öffentlichkeit völlig unter den Tisch fallen und ich würde in jedem Fall zustimmen, dass man diese oft improvisierten Formen weiter ausprobieren und stärken sollte, parallel zu einer Aufrechterhaltung und Stärkung diplomatischer Ansätze und einem Kontakt der Militärs der Länder.

Auf diesen Beispielen aufbauend stellt Müller zwei Positionen dar, eine pessimistische: Der Mensch ist an sich schlecht oder böse und eine optimistische: „Der Mensch ist ín sich gut und wird nur unter Beschuss immer weiter brutalisiert.“[1] Er rekurriert auf Weisheitslehrer, die diese Position schon seit ewigen Zeiten vertreten würden. Aber tun sie das?

Viele Weisheitslehren sehen diese Welt als einen Ort an, der an sich nicht zu retten ist, dennoch kann man das Leid versuchen zu lindern und auch in optimistischen Versionen ist stets das eigene Bemühen gefordert. Aber sind wir wirklich ratlos im Bezug auf die Frage nach der ‚Natur‘ des Menschen? Die moderne Psychoanalyse und Anthropologie weisen uns den Weg.

Die Psychoanalyse sagt, mit Kernberg:

„Doch ist die eingangs zitierte Sichtweise – ein hartnäckiges Festhalten der westlichen Welt an einigen konventionellen Mythen – durchaus zutreffend. Das betrifft

  • den Mythos von der sexuellen Unschuld des Kindes,
  • den Mythos, dass der Mensch von Grund auf gut ist, sowie
  • den Mythos, dass bei einer menschlichen Begegnung zumindest eine der beiden Parteien der anderen zu helfen bemüht ist.

Max Gitelson fasste dies in einfachen Worten zusammen: „Es gibt viele Menschen, die an die Psychoanalyse glauben, außer wenn es um Sex, Aggression und Übertragung geht.“[2]

Der Anthropologe Michael Tomasello kann überzeugend darstellen, dass es den Menschen auszeichnet ultrakooperativ zu sein und dass es unterm Strich die ohnehin unauflösbare Mischung aus Natur und Kultur ist, die entscheidet, welche Richtung dominiert.

Die weiteren Formen der Möglichkeit der gesteigerten Aggression, vor allem die Regression der Massen, lässt Müller unerwähnt und es muss auch die Frage gestellt werden, ob bezahlte Söldnertruppen ebenso leicht zu besänftigen wären, wie vielleicht ein bunt zusammen gewürfelte Truppe von jungen Männern, die noch gar nicht begriffen haben, warum sie eigentlich kämpfen. Ein Jahr später ist allen klar, dass ein blutiger Krieg herrscht.