Menschen, die „aussteigen“ wollen – ob alt oder jung, mit oder ohne Kindern, arm oder reich, ledig oder verheiratet -, eint derselbe Wunsch: Sie wollen vom System unabhängig sein, aus der „Matrix“ raus, ihre eigenen Wege gehen, frei sein. Doch bei vielen scheitert diese Vorstellung an der Umsetzung. Die Zweifel siegen. Im höheren Alter oder gar mit vielen Kindern den Ausbruch aus der Gesellschaft zu wagen, scheint ein kühner Traum vom Aussteigen zu sein. Abenteuer in der Welt zu erleben, bleibt vorrangig, so der Glaube vieler, den Jungen, den Unabhängigen vorbehalten: Singles, die auf Schiffen anheuern, jungen Paaren, die als Backpacker nach Südostasien reisen, Familien mit maximal einem Kind und ausreichendem finanziellen Polster, die im „Outer Rim“ für einige Monate durch die Lande ziehen. Doch was ist mit den anderen? Großfamilien mit wenig Geld, alleinstehenden Müttern mit Kind oder älteren Langzeitarbeitslosen? In unserer Artikelserie „Leben als Aussteiger“ haben wir solche – eher „untypischen“ – Aussteiger ein Stück auf ihrem Weg begleitet.
Die Schuhmanns*: Eine Freilernerfamilie
Sieht man Familie Schuhmann vor sich, hält man sie für eine klassische deutsche Familie: zwei Erwachsene, drei Kinder. Nichts deutet darauf hin, dass sie außerhalb der Gesellschaft stehen und beim Schachspiel um ein erfolgreiches Leben keine weiteren Züge mehr tätigen wollen.
Nach der Geburt ihres dritten Kindes haben sie sich entschlossen, den Schritt zu wagen. In Bettina*, der Mutter, sei der Wunsch schon längere Zeit gereift, so berichtete uns ihr Ehemann, er selbst habe nur zaghaft mit dem Aussteigen geliebäugelt. Bis vor einigen Jahren haben sie in Deutschland noch als „ganz normale“ Familie gelebt. Ihre beiden älteren Töchter (9 und 11 Jahre alt) seien noch in die Schule gegangen. Ursprünglich wissbegierig hätte sich der Spaß am Lernen etwa in der vierten Klasse umgekehrt: Elisa*, die älteste, habe sich erschöpft von der Schule gezeigt und nur noch fernsehen wollen – der endgültige Weckruf für Andreas*, dem Oberhaupt der Familie:
„Elisa* hat mir den Spiegel vorgehalten. Ich habe sie gesehen und mich als Erwachsenen, der ohne Freude zur Arbeit geht und am Nachmittag erschöpft nach Hause kommt. Ich wollte nicht, dass meine Kinder so enden wie ich. Ich wollte, dass sie rausgehen, die Welt kennenlernen und in ihr lernen, was man zum Leben braucht.“ Dem Medienkonsum gegenüber sei er grundsätzlich nicht abgeneigt, so Andreas, schließlich stünden Handy, iPad und Co. nun einmal für die Welt, die wir für unsere Kinder geschaffen hätten, allerdings habe er seinen Kindern auch die andere, die reale Welt mit ihrer Schönheit nicht länger vorenthalten wollen.
Der Ausstieg: Hausstand verkaufen und abmelden
Nach langem Zögern sei plötzlich alles ganz schnell gegangen, so Bettina. Andreas hätte seinen Job gekündigt, sie hätten ihren spärlichen Hausstand aufgelöst, den Kleinwagen gegen einen alten umgebauten VW-Bus getauscht. Nun sei es Bettina gewesen, die plötzlich Ängste geplagt hätten: Ein altes Auto, das als Zuhause dienen soll? Kein richtiges Dach über dem Kopf? Was, wenn sie kein Geld zum Leben erwirtschaften könnten? Was wenn eines der Kinder krank werden würde? Dennoch habe sie die „Jetzt oder Nie„-Stimmung ihres Mannes nicht ins Wanken bringen wollen und so setzte die Familie alles auf eine Karte: das Beantragen von Pässen, die Abmeldung aus Deutschland, der Abschluss einer Reisekrankenversicherung – dann ging es los. Mit drei Kindern und knapp 2800 Euro Rückhalt.
Das erste Ziel
Durch das Internet habe Bettina damals schon vorab Kontakt zu einer Freilernergemeinschaft in Frankreich aufgenommen. Sie erinnert sich an den freundlichen Empfang vor Ort: „Aufgefallen ist mir die Unvoreingenommenheit und Authentizität dieser Menschen. Wir haben dort einen Stellplatz gehabt, gegen Kost auf dem Hof mitgearbeitet, unsere Kinder haben mit anderen Kindern völlig frei gespielt. Es war ein wunderbares Gefühl. Dort half man uns auch, den Bus zu reparieren, da Andreas nur wenig Ahnung davon besaß. Es war, als wären wir in einer neuen Welt angekommen. Natürlich gab es auch dort Probleme und Zwistigkeiten, aber der Umgang damit war wesentlich sozialer.“
Der weitere Weg und das Leben heute
Inzwischen ist die Familie fünf Jahre auf Reisen. Fragt man die Schuhmanns, wie ihr Leben aussieht, so beschreibt es Bettina so: „Dank Schengen (Anm. der Red.: Schengener Abkommen zur Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen EU-Staaten) können wir uns weitestgehend frei in Europa bewegen. Bevor wir unser nächstes Ziel auswählen, informieren wir uns über die Aufenthaltsbestimmungen und Meldepflichten in dem jeweiligen Land. Hin und wieder sind wir auch in Deutschland, um Formalitäten zu regeln, aber nicht zu lange, da sonst die Meldepflicht und die Schulpflicht greifen. … Der Umstieg auf eine überwiegend vegane Ernährung war anfangs schwierig für uns, erleichtert aber vieles. So finden wir unser Essen auch direkt in der Natur. Hin und wieder gibt es Fleisch. … Es war nicht immer leicht, aber auch jetzt versuchen wir stets, mindestens 1.500 Euro auf unserem Konto zu lassen. Wir leben von Tagesarbeit oder saisonaler Arbeit. Ich habe schon gekellnert, in Hotels geputzt, meinen selbstgebastelten Schmuck verkauft. Andreas hat auf Höfen gearbeitet, beim Viehtrieb mitgeholfen, auf dem Bau gearbeitet. Man kann sich überall reinfinden, wenn man nur engagiert ist. Auch baue ich mir eine Selbstständigkeit als Schmuckdesignerin auf, um eine längerfristige Absicherung zu haben. Hoffentlich. … Bei der Reparatur unseres Busses hat Andreas viel gelernt und kann inzwischen viel selbst machen. Es ist unglaublich, wieviel Hilfsbereitschaft wir von anderen erfahren haben, vor allem in ärmeren Gegenden Europas. … Die Kinder wachsen frei und völlig ohne Schule auf. Anfangs dachte ich noch, ich müsste sie unterrichten, aber der Gedanke hat sich mehr und mehr verflüchtigt. Sie lernen automatisch Geografie, Biologie, Mathe, andere Sprachen, eben weil sie in dieser Welt leben und diese erfahren. Wir bestimmen selbst, wie groß oder wie klein unsere Welt ist. Vielleicht werden wir irgendwann irgendwo wieder ansässig, als Selbstversorger mit Haus und Garten, aber nur in einem Land, das uns größtmögliche Freiheit und Selbstbestimmung gewährt.“
Eltern, die mit Kindern aussteigen wollen, hätten nach dem Lebensmodell der Schuhmanns also durchaus die Möglichkeit dazu. Im nächsten Teil unserer Serie über ungewöhnliche Aussteiger treffen wir einen Mann auf See und eine Puppenspielerin mit Kind.
*Name von der Redaktion geändert