Heutzutage hat doch jeder irgendetwas! So lauten oft die Abwiegelungen, wenn man über die eigene seelische Schieflage spricht. Dennoch fühlt man tief in seinem Inneren, dass etwas nicht stimmt. Ein Unwohlsein, Ängste, Verwirrung, vielleicht auch eine Traurigkeit. Für manche gleicht es einem undurchdringlichen Nebel aus verzerrten Kognitionen und Emotionen, aus dem sie keinen Ausweg finden. Andere wiederum machen sich Gedanken, ob sie eine depressive Verstimmung, Depression oder eine ausgewachsene Angsterkrankung haben. Immer wieder fragen sie sich: Bin ich psychisch krank? Was bedeuten die Symptome, mit denen ich zu kämpfen habe? Oder bin ich am Ende vielleicht ganz normal und es ergeht jedem so?

Mit dieser Artikelreihe zu dem Thema „Sind wir alle traumatisiert?“ möchten wir einen umfassenden Blick auf die klinische Diagnostik eröffnen, ohne aber – und das ist wichtig! – das seelische Leiden des Einzelnen oder den Nutzen der klinischen Diagnostik und Intervention abzuerkennen. Im Gegenteil.

Die hohe Krankheitslast: Sind wir alle süchtig?

Eingießen Drink Alkohol Glas

Sind wir alle süchtig? © Tim Sackton under cc

Manche Resümees aus der klinischen Praxis deuten darauf hin, dass eine Vielzahl der Erwachsenen in Deutschland auf die eine oder andere Art süchtig sein könnte. Damit ist selbstredend nicht gemeint, dass wir alle Alkohol trinken, rauchen oder andere Drogen zu uns nehmen. Aber auch das tun viele. Zu den Süchten zählen beispielsweise ebenfalls nicht substanzbezogene Süchte wie Spielsucht, Kaufsucht oder im weiteren Sinne die Beziehungssucht, Handysucht und mitunter die Sucht nach Anerkennung. Nehmen wir die Kauflust zum Beispiel. Brauchen wir wirklich ein weiteres Paar Schuhe? Ist es nicht vielmehr der Kick durch die Dopaminausschüttung, der uns psychisch erhellt. Studien zeigen, dass bestimmte Verhaltensweisen wie eben das lustbetonte Kaufen zu einer ähnlichen Dopaminausschüttung führen können wie bei der Einnahme von Kokain. Die Frage des Einzelnen: „Bin ich psychisch krank?“, müsste demnach in ein diagnostisches Licht mit einem breiteren Lichtkegel gerückt werden, sobald man die Ausweitung des Suchtbegriffes gedanklich erwägt.

Was ist mit Depression, Burnout, Ängsten?

Ferner finden sich Depressionen, depressive Verstimmungen, chronische Erschöpfungen oder Angsterkrankungen genauso wie Zwangserkrankungen und psychosomatische Erkrankungen bei einer Vielzahl der Menschen. Aus epidemiologischer Sicht haben wir eine 12-Monats-Prävalenz für das Auftreten von psychischen Erkrankungen von 27,7 Prozent. Das ist erheblich. Hinzu kommen die Menschen, welche beispielsweise noch aufgrund der mangelnden Versorgungslage auf eine diagnostische Abklärung und einen Therapieplatz warten. Des Weiteren dazu kommen die Personen, welche bis dato eine diagnostische Abklärung für sich nicht in Betracht gezogen haben, etwa weil sie ihrem seelischen Unwohlsein aktuell weniger Beachtung schenken oder weil sie glauben, ihr psychisches Empfinden sei normal.

Burnout: stiefmütterliche Behandlung

Burnout beispielsweise kommt im psychiatrischen Klassifikationssystem, dem ICD-10, als eigenständige Diagnose gar nicht vor. Die Symptome werden unter Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung zusammengefasst. Erst in der aktualisierten Fassung ab 2022, dem ICD-11, taucht es als eigenständiges Syndrom auf. Die Weltgesundheitsorganisation hat Burnout als „chronischen Stress am Arbeitsplatz, der nicht erfolgreich verarbeitet wird“ definiert. Aber was ist mit dem empfundenen Stress durch etwaige familiäre Belastungen wie der Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen?

Wenn Belastungen steigen: Gründe für die Zunahme der Diagnosen

bunte Lichter Stadt abends mit Fluss

Bin ich psychisch krank? Oder überlastet, überreizt, traumatisiert? © William Cho under cc

Zum einen erfolgt die Zunahme der klinischen Diagnosen, weil die empfundenen seelischen und körperlichen Anstrengungen zunehmen. In einer globalisierten, digitalisierten, lauten Welt, in welcher der Mensch funktionieren muss und weniger Rücksicht auf die Belange des Einzelnen genommen wird, steigen die empfundenen Belastungen vor dem Hintergrund einer angestrebten Work-Life-Balance. Das ist ganz klar. Wir sind überreizt, ausgebrannt, sozial überfordert, übermüdet, mitunter ungesund ernährt, haben so manches Mal keinen richtigen Feierabend und kein richtiges Wochenende mehr, weil wir Arbeitsprojekte zum Abschluss bringen müssen oder einen Sprachkurs belegen oder die Kinder im Homeschooling unterstützen müssen. Das ist einfach zu viel.
Wann schalten wir ab? Wirklich ab? Ohne Handynutzung oder Seriensuchten bei Streamingdiensten. Wann haben wir mal wirklich Ruhe fürs Gehirn? Wie oft lassen wir die Seele beim Spaziergang im Grünen baumeln und belohnen uns durch Nichtstun statt Hausarbeit. Bei vielen Menschen ist das keine Frage der freien Entscheidung, sondern schlichtweg eine Tatsache von zu wenig Zeit. Das erschöpft.

Mehr Aufarbeitung: Sind wir alle traumatisiert?

In den (sozialen) Medien findet derzeit eine Aufarbeitung der eigenen seelischen Traumata aus der Kindheit statt. Den chronischen Traumatisierungen wie körperlicher, sexueller, aber auch emotionaler Missbrauch, die lange Zeit hinter verschlossenen Türen gehalten wurden, wird endlich die nötige Zuwendung geschenkt. Ähnlich verhält es sich mit dem Mobbing in der Schule. Statt einem Totschweigen folgt ein an den Pranger stellen von nichtakzeptablem Verhalten und das ist gut so.

Mehr Aufmerksamkeit für die seelische Gesundheit

Durch die Aufklärung des Einzelnen dahingehend, was chronische Traumatisierungen anrichten können, haben die Menschen eine Erklärung für ihren seelischen Missstand. Auch das führt zu einer Zunahme klinischer Diagnosen, weil immer öfter eine Psychotherapie erwogen wird. Zu recht! Die individuellen Ansprüche an ein seelisches Gleichgewicht steigen – zu recht! Wenn man sich fragt: „Bin ich psychisch krank?“, möchte man begreifen, verstehen und letztendlich heilen. Man möchte glücklich sein. In einer westlichen Gesellschaft, in der wir uns – Gott sei Dank! – nicht mehr darum sorgen müssen, zu überleben, kommt die psychische Gesundheit für viele als ein Punkt auf die Agenda. Der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow beschrieb dieses Phänomen bereits 1943 in seiner Bedürfnishiearchie.

Grundbedürfnisse -> Selbstverwirklichung

Pyramide Maslow Bedürfnisse

Die Anerkennung der eigenen Bedürfnisse wird für viele zur Selbstverständlichkeit. © Purple Slog under cc

Die Bedürfnispyramide hat inzwischen einige Weiterentwicklungen erfahren, doch der Grundgedanke bleibt derselbe: Sehen die Menschen ihre Grundbedürfnisse wie zum Beispiel ihre physiologischen (Hunger, Schlaf, Durst) und ihre Sicherheitsbedürfnisse erfüllt, wenden sie sich den Bedürfnissen nach sozialem Anschluss, Wohlbefinden und Selbstverwirklichung zu. Wir haben nicht nur für uns, sondern auch als Gesellschaft als solche den Anspruch an einen guten und respektvollen zwischenmenschlichen Umgang. Doch der geht nur, wenn der Einzelne auch seelisch stabil, zufrieden und im Gleichgewicht ist.

Bin ich psychisch krank? Die Anerkennung des Leidens

Nicht nur die Betroffenen sind bereit, ihre psychische Gesundheit mehr in den Fokus zu rücken, auch die Kliniker zeigen sich aufgeschlossener, das seelische Leiden anzuerkennen. Standardisierte und wissenschaftlich gut geprüfte Diagnoseverfahren existieren. Sind bestimmte Kriterien erfüllt, liegt eine psychische Erkrankung vor. Nicht selten kommt es auch zum Auftreten komorbider Störungen. So können Angst- und gleichzeitig Zwangserkrankungen bei einem Betroffenen vorliegen. Persönlichkeitsstörungen gehen nicht selten mit Suchterkrankungen oder Depressionen einher.

Auch die ehemals vorliegenden Unterschiede in den Geschlechtern gleichen sich an. Immer mehr Frauen haben mit Suchterkrankungen zu kämpfen. Immer mehr Männer bekennen sich zum Vorliegen einer Depression, einer Erkrankung, die nach veralteten männlichen Rollenbildern einst als Schwäche ausgelegt wurde. „Männer weinen nicht“, ist einer dieser veralteten Glaubenssätze, die dazu führten, dass das „starke Geschlecht“ sich keine depressive Symptomatik eingestehen durfte. Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei.

Statt „Bin ich psychisch krank“ den Fokus auf Stabilität

Inzwischen erwägen einige Kliniker, die herkömmliche klinische Diagnostik aufzubrechen. Statt einer Vielzahl verschiedener Diagnosen für den Einzelnen sollte die Diagnostik verschlankt und den individuellen Ursachen und deren Beheben mehr Beachtung geschenkt werden. Die Behandlungsmethoden sollten mehr auf die einzelne Person abgestimmt sein, so lauten die Meinungen mancher Experten aus der psychiatrischen und psychologischen Praxis. Statt auf Krankheitsorientierung mit dem Fokus auf „Bin ich psychisch krank?“ und „Was genau habe ich?“ sollte stärker auf breitere Diagnosebereiche und einem gesundheitlichen Ausblick gesetzt werden, indem man sich eher fragt: „Wie komme ich wieder ins Gleichgewicht?“. Der Fokus läge dann noch mehr auf der Wiederherstellung der seelischen Gesundheit und nicht auf der Zuordnung verschiedener psychischer Erkrankungen. Setzt sich dieser Ansatz durch, würde die psychische Gesundheitsversorgung revolutioniert werden. Dazu lest ihr mehr im nächsten Artikel: Brauche ich eine Therapie? – Sind wir alle traumatisiert? (2).