Der merkwürdige Reiz des Sinnlosen

Herbstpilze

Das Dunkle, Modrige hat seine eigenen Gesetze und Gewächse. © Matthias Ripp under cc

Gewissen Völkern und Zeiten wird ein Hang zum Schwermut nachgesagt. Manchen kommt das fremd vor, aber was finden wir eigentlich wenn wir ein wenig unter die Oberfläche unserer Ordnung schauen? Denn Ordnung, irgendeine Ordnung, oft um ihrer selbst Willen, ist die Verheißung unserer Zeit. Dass es irgendwie, ohne zu große Veränderung so weiter läuft, wie man es kannte. Aber was ist eigentlich die Metaerzählung dieser Lesart?

Die Lust am Untergang finden wir hier durchaus, in versteckter Form, nicht nur, dass wir Kinder des großen Urknalls sind, gehört dazu. Die Kernkompetenz des aufgeklärten Menschen scheint zu einem gewissen Teil darin zu bestehen, die Sinnlosigkeit des Welt erkennen und ertragen zu können. Nichts hat einen tieferen Sinn, es gibt kein Ziel, ein Happy End ist nicht vorgesehen, das schlimme Ende, derzeit vermutlich der Kältetod, ist immer nur aufgeschoben, aber unausweichlich.

Viele Erzählungen des Alltags kommen sehr technokratisch daher, man hat ein nützlicher Teil der Menschheit zu sein, ansonsten sollen wir aber dem Spiel der Hormone, Produktionsbedingungen und politischen Führer ausgeliefert sein. Was bleibt, sind kurze Momente der Ekstase, wenn man sie sich gönnt, ein Abgleiten in diese oder jene Form der Dekadenz, verbissen wird an der Idee eines entqualifizierten Universums festgehalten, einer großen Wüste, einer Wanderung die kein Ankommen kennt, alles ist nur kurzfristig und vorläufig … aber wozu sollen wir dann ein braves Rädchen im System sein?

Damit es uns allen besser geht, ist die Antwort, die gerade verglimmt, wie eine soeben erloschene Kerzenflamme.

Folgen, um zu folgen, ohne zu wissen, wohin die Reise geht, das ist eine (Un)Tugend, die den Deutschen oft nachgesagt wird, aber offensichtlich stimmt das nur bedingt, eben noch war man der Meinung, dass Demokratie und Marktwirtschaft nicht mehr aufzuhalten seien, schon ist man sich nicht mehr sicher, ob die Demokratie überhaupt Zukunft hat.

Der libanesisch-amerikanische Dichter Khalil Gibran, der die sufistische Weisheitstradition und das Christentum mit der westlichen Philosophie verbindet, schreibt in seinem bekannten 1923 erschienen Buch „Der Prophet“:

„Dann sagte ein Rechtsgelehrter: Aber wie ist es mit unseren Gesetzen, Meister?
Und er antwortete: Es freut euch Gesetze zu erlassen, doch mehr freut es euch, sie zu brechen. Wie Kinder, die am Meer spielen und mit Ausdauer Sandburgen bauen, um sie dann lachend zu zerstören.“[3]

Schon die Kinder haben Spaß am Aufbauen und Einreißen. Der eine oder die andere wird sich an die eigene Kindheit erinnern. Es war schön, einen Turm zu bauen und immer auch eine Lust ihn einstürzen zu lassen. Die Kinder tun es noch mit Freude, später fürchten sich viele davor, alles einstürzen zu lassen. Weil sie wissen, dass man die Türme und Burgen jederzeit neu errichten kann, in die wir lieber einziehen wollen? Oder weil das Zerstören ein eigener lustvoller Akt ist?

Herbst und der Reiz der Melancholie

Mit dem Erreichen des Höhepunkts beginnt der Niedergang, so jedenfalls wird die Welt aus einer zyklischen Weltsicht gedeutet. Ein ewiger Kreislauf, aus Werden und Vergehen und erneutem Werden. Kann man daraus etwas für unser Leben ableiten? Unser Welterleben ist auf einen Fortschritt gerichtet, ist linear. Es geht weiter und immer weiter, aber die Erfahrung des Zyklischen ist uns dennoch nicht fremd, wir erleben sie in den Jahreszeiten.

Und wir sehen Analogien zu unserem Leben. Wir setzen den Frühling mit der Geburt und dem Wachsen gleich, im Sommer ist der strahlende Höhepunkt erreicht, der Herbst hat dann zwei Gesichter: Es ist die Zeit der Ernte und zugleich scheint der Höhepunkt der äußeren Entfaltung überschritten. Was nun stattfindet hat morbide Beimischung, ist bereits ein Absterben, aber auch veredeln. Pilze tauchen auf, es geht um Gärungs- und Fäulnissprozesse, die ihren eigenen Reiz haben und ganz neue Richtungen erschließen, für alle Sinne, wenn wir an die Farbenpracht des sich verändernden Waldes denken, seine würzigen Gerüche und den Nebel, in dem wieder diese beiden Komponenten des Zauberhaften und Besorgniserregenden liegen. Der Nebel lässt Konturen verschwimmen, die sonst so klare Welt ist zu einer von Ahnungen und Andeutungen geworden und zu einer, in der man leiser und vorsichtiger wird. Analog der Dämmerung, wenn wir den Zyklus auf Tag und Nacht verkleinern. Zugleich ist der Herbst die Vorbereitung auf den Sterbeprozess, wenigstens in der kreisförmigen Weltsicht.

In unserem Leben ist der Herbst ebenfalls die Zeit der Ernte und des Endes der Expansion. Nicht von jetzt auf gleich, aber es wird allmählich klar, dass die Zeit der Umkehr angebrochen ist. Eine Phase, die man oft versucht zu überschminken und hinaus zu zögern, gerade in einer Zeit und Gesellschaft, in der die Menschen immer älter werden, aber jünger scheinen wollen. Doch auch die oft mit dem Abschied verbundene Melancholie, der Schwermut, hat seinen eigenen Reiz, der gerade in der Verbindung, Beimengung bis hin zur Fokussierung auf das Morbide, Dunkle, Weltabgewandte liegt, in den Kräften der Finsternis und der Zerstörung.

Wir haben durchaus einen Sinn für das was sich gleichzeitig weiterentwickelt und in seiner bisherigen Form verändert und verendet. Denken wir an die Geschmackswelt, in der wir bestimmte Pilze (Trüffel) und Reifegrade von Gargetränken oder Milchprodukten hoch schätzen. Manche haben auch eine Abneigung gegen das Oberflächliche, dass uns überall begegnen kann. Alles was sehr eindeutig ist fällt darunter, ob bei Bildern, Geschmäckern oder Musik, dort bekommt man das süßliche und Kitschige präsentiert. Der Schlager, der breite, schwere, warme, aber irgendwie auch samtige Rotwein, das Bild von dem man sagt: „Wieso, ist doch schön?“, der Geschmack der irgendwie immer „lecker“ ist.

Für einige ist es genau das, was sie wollen, für andere beginnt es erst dahinter interessant zu werden. Für eine psychologische Betrachtung ist es interessant, zu fragen, inwieweit die unausgesetzte Konfrontation mit Kitsch, Klischee und hübschen Oberflächen auf die Menschen abfärbt. Aber das Reich des Hintergründigen und Untergründigen scheint seine eigenen Regeln und Gesetze zu haben. Dem, was die Gärung ausmacht, diese Mischung aus Wärme und Kälte, Trockenem und Feuchtem, Geistigem und Körperlich-Emotionalen muss man sich wirklich hingeben, man muss sich auf den Prozess der Metamorphose einlassen, man kann ihn nicht mit Abstand verstehen, sonst bleibt man an der Oberfläche, schwimmt auf einem Boot und redet von den Tiefen des Ozeans. Betrachtet man den Nutzen von etwas, was es bringt und was man wohl davon hat, erlebt es aber nie, ist man nur ein trüber Gast, auf der dunklen Erde.

Shivastatue

In vielen Kulturen spielen die Götter der Zerstörung eine bedeutende Rolle und werden verehrt. Jarmo Tuisk under cc

Die Ästehtik des Morbiden und die Lust am Untergang ist eine eigene Welt, hat man sie einmal betreten, zieht die einen in den Bann. Die Welt von Baudelaire, Trakl und Benn, der Tragödien. Anderen Kulturen ist der Sinn der Zerstörung und der Metamorphose durchaus klar, man denke an Shiva, aber auch in den Wurzeln unserer Kultur finden wir Hades, Pluton und den Teufel, den Geist der stets verneint und alles zugrunde gehen lässt.

Vielleicht ist es zu billig, verlockend und selbst zu oberflächlich die selbstgefällige Deutungshoheit unserer Zeit, die allen anderen Interpreten unter die Nase reibt, dass sie primitiv seien, damit zu parieren, dass die Alldominanz dieser Weltsicht sich vielleicht gerade zu Tode siegt. Die Deutung, dass ein Pol seinen Gegenpol bedingt, ist herausfordernd einfach, aber man kann sich vorstellen, dass der Mephisto sich in einem schweren Sessel zurück lehnt, das Gesicht halb um Schatten, beschienen von dem schwarzroten Licht der langsam erkaltenden Reste einer noch immer wärmenden Glut, mit einem Glas alten Weins in der Hand, dessen Fruchtnoten sich langsam zurückziehen um würzigen, erdigen Noten, nach Holz, Leber, Tabak oder Pilzen Platz zu machen. Sein Mund könnte ein leises Lächeln umspielen, man weiß nicht, ob es Wissen, Überlegenheit oder Mitleid ausdrückt.

Charles Baudelaire drückt die Lust am Untergang in seinem Ruf nach Erbarmen in seiner tiefen Not so aus: Die Litanei des Satans

Quellen