Schwere und langanhaltende Traumatisierungen, wie sie beispielsweise aufgrund von seelischem, emotionalem, körperlichem und sexuellem Missbrauch sowie Vernachlässigung in der Kindheit auftreten, können bei den Betroffenen zu Symptomausprägungen führen, die im klinischen Kontext als komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS) bezeichnet werden. Das seit Januar 2022 gültige diagnostische Manual der Weltgesundheitsorganisation ICD-11 führt erstmals die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung als eigenständige Diagnose ein und trägt damit den chronisch Traumatisierten und ihren Folgen wiederholter Traumatisierung für die seelische und körperliche Gesundheit Rechnung.
Studien zeigten jedoch, dass insbesondere bei wiederholter Traumatisierung die klassischen Kriterien der PTBS nicht ausreichten, um alle klinischen Erscheinungsformen abzubilden. Daher wurde die Berücksichtigung von zusätzlichen Kriterien einer komplexen Form der PTBS vorgeschlagen …
Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung: neue Diagnose im ICD-11
Die Folgen nach Traumatisierung in der Kindheit, Jugend oder im Erwachsenenalter zeigen sich auf vielgestaltige Weise. Je nachdem, welches Temperament ein Mensch mitbringt und welche Lernerfahrungen er in der Kindheit gemacht hat, können die gezeigten Verhaltensweisen recht unterschiedlich sein. Dennoch deuten bestimmte Abweichungen in verschiedenen Bereichen des Erlebens und Verhaltens auf Folgen wiederholter Traumatisierung hin, sodass diese als Diagnose einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung zusammengefasst werden können.
Viele Menschen leben lange Zeit mit einem Mindset, das sie zwar für beschwerlich, aber normal halten. Dennoch beeinträchtigt es sie in ihrem Leben. Den Grund dafür wissen viele nicht. Sie ahnen nicht, dass ihre Probleme im Erleben und Verhalten Folgen wiederholter Traumatisierung sein könnten.
Eigenständige Diagnose im ICD-11
Lange Zeit konnte die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung in den offiziellen psychiatrischen Diagnosehandbüchern nur in Restkategorien codiert werden (z. B. „Disorders of Extreme Stress Not Otherwise Specified“ im DSM-IV oder „enduring personality change after catastrophic experience“ im ICD-10).
In dem seit Januar 2022 gültigen diagnostischen Manual der Weltgesundheitsorganisation ICD-11 wird die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung als eigenständige Diagnose geführt. Auch gibt es ein Kapitel zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Damit wird aus klinischer Sicht der Fokus auch stärker auf die chronischen Traumatisierungen der Heranwachsenden aufgrund von dysfunktionalen Familiengeflechten, Missbrauch, Gewalt, Vernachlässigung, negativen Bindungserfahrungen, Mobbing in der Peergroup usw. gerichtet.
Die Diagnosekriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) werden sich mit der ICD-11 (WHO, 2018, online abrufbar über https://icd.who.int/browse11/l-m/en) deutlich verändern. Die PTBS ICD-11-Kriterien werden auf sechs Kernsymptome reduziert und die komplexe PTBS (kPTBS) wird als neue Diagnose eingeführt. 2022 sollen die ICD-11-Kriterien in Kraft treten und eine Anwendung ist auch im deutschen Gesundheitssystem in Planung (BfArM, n.d.).
Folgen wiederholter Traumatisierung versus PTBS
Die Einführung der Diagnose der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung in der ICD-11 ist ein weiterer revolutionärer wie zeitgemäßer Umbruch in der psychiatrischen Diagnosestellung.
In die psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken sowie in die therapeutischen Praxen kommt eine Vielzahl von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die aufgrund ihrer langanhaltenden Traumatisierungen und dadurch entstandenen Fehlprägungen nicht zwingend und allumfänglich die klassischen Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung zeigen. Dennoch gelten sie nach dem Standpunkt erfahrener Praktiker als traumatisiert und weisen Folgen wiederholter Traumatisierung auf.
Komplexe Traumatisierung versus Monotrauma
Bezüglich der traumatischen Erfahrung werden gemeinhin zwei Arten von Traumata unterschieden.
Als singuläres Trauma, Monotrauma beziehungsweise Schocktrauma (Typ-I-Trauma) gilt ein einmaliges Ereignis außerhalb der Erfahrungsnorm. Dazu zählen beispielsweise ein Überfall, eine Naturkatastrophe, Amoklauf, Anschlag, Vergewaltigung etc. Ein Mensch wird plötzlich durch ein überwältigendes, negatives, bedrohliches Ereignis aus seinem normalen Lebensalltag gerissen.
Als Komplexe Traumatisierung (Typ-II-Trauma) werden mehrmalige, sich wiederholende Ereignisse beschrieben, die ein traumatisches Erleben wie Bedrohungserfahrung, Ohnmachtserleben, Ängste, Kontrollverlust und Ausgeliefert sein mit sich bringen. Das ist zum Beispiel bei sexueller, körperlicher, emotionaler Gewalt durch Bezugspersonen in der Kindheit der Fall. Sie können unter anderem zu Wut, Aggression, einer dissozialen Entwicklung in der späteren Kindheit und Adoleszenz, Autoaggression, extremer Passivität, Dissoziation, emotionaler Anästhesie und Depersonalisation führen (zitiert nach Prof. Dr. med. Michael Günter, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Klinikum Stuttgart).
Beispiel für symptomatische Unterschiede
In einem Artikel der Medical Tribune wird Professor Dr. Jörg M. Fegert von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm hinsichtlich seiner Erfahrungen in der klinischen Praxis zitiert:
Denn es gebe zahlreiche Kinder, die aufgrund ihrer Erfahrungen eine Fülle von Belastungen tragen, aber oft nicht die klassische Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung aufweisen. So haben Kinder häufig nicht die filmsequenzartigen Flashbacks, die Erwachsene nach traumatisierenden Erlebnissen aufweisen. Während erwachsene PTBS-Betroffene die entsprechenden Situationen meist sehr klar und lebendig im Gedächtnis haben, sind die Erinnerungen bei Kindern häufig eher diffus. Manchmal ist es z.B. nur ein ganz spezieller Geruch, der den Patienten plötzlich in Aufregung versetzt, erklärte Prof. Fegert. Mit dem bisherigen Schlüssel ließen sich diese Fälle nur schwer greifen. Denn das klassische Konzept der PTBS wurde für sogenannte Typ-I-Traumata entwickelt, d.h. einzelne, plötzlich auftretende Ereignisse von eher kurzer Dauer wie Verkehrsunfälle, Amokläufe, Anschläge o.ä. Die Ereignisse, die einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung vorangehen, sind dagegen in der Regel serielle, häufig miteinander verknüpfte oder chronische traumatische Ereignisse (Typ-II-Traumata), etwa jahrelanger sexueller Missbrauch. Die Betroffenen haben oft Schwierigkeiten, diese Ereignisse als Einzeltaten zu schildern und sie glaubhaft darzustellen, erklärte der Kollege.
Folgen wiederholter Traumatisierung als eigene Diagnose: Ausblick
Die Folgen wiederholter Traumatisierung werden also zukünftig als eigenständige Diagnose in der ICD-11 codiert. Welche Kriterien für die Diagnose einer kPTBS erfüllt sein müssen, auch im Vergleich zur klassischen PTBS, werden wir im nächsten Teil dieser Artikelserie ausführlich besprechen: Traumatisierungen in der Kindheit – Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (2).