Polarität und Einheit

Kinderwippe, scwarzweiß

Wippen kann man nur, wenn man zwei Pole hat. © fihu under cc

Vielleicht müssen wir uns gar nicht entscheiden. Vielleicht liegt auch hier die Lösung darin, ein weiteres Mal die Ambivalenzen zu ertragen. Vielleicht ist der Ansatz, dass wir uns immer richtig entscheiden müssen, selbst gar nicht richtig, sondern viel mehr der bewegliche Ansatz, der ein gleitendes Kontinuum darstellt. Aber eben, wie wir verstehen müssen, keine Willkür. Jede Situation ist anders uns so muss auch auf jede Situation anders reagiert werden. Das ist kein gefühliger Ansatz, der die Rationalität zurück weist, aber einer, der um ihre Grenzen weiß.

Je nach dem wie man Kant interpretiert, sagt er auch, dass man jede Situation neu bewerten muss, allzu starre Schematisierungen sind nicht gut, ethische Prinzipien weitaus besser. Das setzt wiederum auch der mythischen Interpretation Grenzen. Andererseits und wiederum polar, kann man althergebrachte Strukturen auch nicht einfach über Bord werfen. Der Konfuzianismus der annähernd zeitgleich mit dem Daoismus entstand, hat als eines seiner Kernelemente den Respekt vor den Ahnen. Das würde bei uns aktuell durchfallen, noch aktueller fragen wir uns jedoch, wie wir eigentlich mit unseren Alten umgehen. Respekt und Würde sind keine Begriffe, die wir mit unseren Alten verbinden, eher, dass oder ob sie dement werden, wer sich um sie kümmern soll und dergleichen.

Erzwingt ein Pol tatsächlich immer seinen Gegenpol? Das ist verlockend einfach und griffig. Zu einfach für viele, die dem Pluralismus deutlich mehr zutrauen. Doch eine Begründung hat die pluralistische Seite auch nicht parat, außer, dass in komplexen Systemen eben alles sehr schwierig und vielschichtig ist. Ich will das nicht lächerlich machen, denn es ist tatsächlich so, aber noch schwieriger ist, dass, selbst wenn wir Antworten theoretisch kennen, wir diese nicht immer praktisch umsetzen können. Vor wenigen Tagen hörte ich die Bemerkung, man wolle sich, im Hinblick auf die derzeitige politische Lage, nicht mit der einfachen Erklärung zufrieden geben, dass sich alle paar Jahre die Strömungen ganz einfach ändern. Was aber, wenn genau das der Fall ist?

Die Lösung für viele Probleme hieße dann: Abwarten und Tee trinken. Das passt nicht gut in unsere Zeit, die aktionistisch ist, in der man was machen, sich jetzt endlich engagieren muss, aber tun wir das nicht schon die ganze Zeit? Ist die Diagnose des Hamsterrades in allen Fällen verfehlt? Wir sollten es prüfen und je mehr wir dazu in der Lage sind, es vorurteilsfrei zu tun, umso besser. Es geht um unsere Fähigkeit zu erkennen: Wo erklärt der simple Ansatz der Polarität die Welt besser als ein pluralistischer Ansatz? Die Diagnose steht am Anfang und wenn wir zu der Überzeugung gelangen sollten, dass mit der Prämisse der Polarität des Soseins oder unserer Erkenntnisfähigkeit manches zu verstehen ist, kann man sich in den Systemen, die schon länger damit arbeiten umschauen, was weiter aus dem Gedanken folgt.

Dass ein Pol seinen Gegenpol erzwingt, ist ein für unsere Zeit herausfordernder bis kollektiv kränkender Gedanke, denn das würde oftmals heißen, dass allzu starke Bemühungen nichts bringen und man mit ihnen sogar das Gegenteil erreicht. Das klingt etwas fortschrittspessimistisch oder anders, es lässt den Fortschritt sich organischer entwickeln. Unser Ansatz ist eher problemlösungsorientiert, vielleicht aber auch hektischer. Man schaut, wo ein Problem ist, analysiert es und versucht Lösungen zu finden. Das ist alles kleinteilig, funktioniert aber ganz gut. Allerdings nimmt es wohl in letzter Zeit weniger Menschen mit, die das Gefühl haben, dass ein Teil einer immer effizienteren Maschinerie zu sein, nicht unbedingt das ist, was sie vom Leben erwarten. Denn der Mensch ist ja immer noch in Rhythmen eingebunden, die zunehmend ignoriert und durchoptimiert werden. Damit wir der Mensch wird zunehmend zum Fehler im System, einem System, dem er sich selbst verschrieben hat. Das Pendel schwingt nun vielleicht einfach zurück und zeigt und wohin der Hang zur Optimierung führt. Vielleicht müssen wir uns nicht entscheiden, sondern in die Mitte kommen, die Dinge ausbalancieren, in Ausgleich bringen, das raten uns ja die Systeme, die der Polarität eine Stimme geben.

Der Ausgleich

Wie könnte man das zu einer Einheit integrieren? Der Mensch ist schon in seiner Eigenschaft als biologisches Wesen einigermaßen polar. Rhythmen des Atems, Essen/Verdauung, Schlafen/Wachen, Anspannung/Entspannung greifen in uns ineinander. Dazu kommt die beschriebene Polarität des Affektsystems. Liebe und Aggression bedingen einander, schließen sich ebenfalls nicht aus. Selbst Wissenschaft und Mythos schließen sich nicht aus, erstens, hat das geschichtlich lange genug geklappt, zweitens, ist die Wissenschaft ebenfalls dabei Mythen zu entwickeln und drittens, gibt die Wissenschaft uns keine Werteorientierung, höchstens einen Effizienzglauben, aber genau unter dem leiden einige zur Zeit. Der Mythos gibt uns ein Ziel. Realität und Phantasie sind ebenfalls keine Größen zwischen denen man sich entscheiden muss, sondern sie bereichern beide unser Leben, vor allem, wenn es gelingt, sie klug auszubalancieren. Wie das geht, sollten wir erforschen.

Es gibt viele Bereiche, in denen wir darauf verweisen können, dass der Ansatz, gucken, analysieren, nachbessern prima funktioniert, aber die derzeitigen Spannungen kann man nicht negieren, am Gesamtkonzept stimmt etwas nicht und das, so wie es aussieht, gleich in mehreren Lebensbereichen. Nur was fehlt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die einen erblicken dabei vor allem soziale Ungerechtigkeiten als Ursache und diese spielen sicher eine Rolle. Andere raten dazu den Blick eher nach Innen zu richten, auf die psychische und moralische Verfasstheit der Gesellschaft. Ich glaube, dass beides sich nicht ausschließt und dass man fragen kann, was uns eigentlich dazu gebracht hat die sozialen Ungerechtigkeiten und das Desinteresse an bestimmten Gruppen der Gesellschaft so lieblos und achselzuckend hinzunehmen. Für Gruppen, die wir als Außenseiter ansehen und von denen wir meinen, dass sie unsere Hilfe brauchen, haben wir in der Vergangenheit viel getan. Doch dabei haben wir den normal funktionierenden Durchschnittsbürgern in der Vergangenheit viel zugemutet und neue Ungerechtigkeiten kreiert. Es sind jene, die jetzt fragen, warum sich eigentlich niemand für sie interessiert und was sie eigentlich all die Jahre falsch gemacht haben, nur weil sie einigermaßen normal sind.

Der Blick ins Außen schließt den nach Innen nicht aus und erst wenn wir tiefer verstehen, dass gesellschaftliche Veränderungen auch unserer Psyche verändern und diese Entwicklung ihrerseits auf die Gesellschaft zurückwirkt, kommen wir wirklich weiter und das scheint mir ein die Polarität berücksichtigender Ansatz zu sein.

Quellen: