Innere Anteile sind unterschiedliche Seiten, Facetten unserer Persönlichkeit, die wir alle in uns tragen. Mal sind wir stark und zuversichtlich, dann wieder ängstlich, kritisch oder rebellisch. Diese inneren Facetten gehören zu unserer Persönlichkeit – sie sind Ausdruck unserer Erfahrungen, Erinnerungen, Prägungen, aber auch Schutzmechanismen. Die Arbeit mit inneren Anteilen, auch bekannt als Teilearbeit oder in der Psychotherapie als Ego-State-Therapie, basiert auf systemischen und psychodynamischen Ansätzen. Sie hilft, innere Spannungen besser zu verstehen, innere Widersprüche zu integrieren und dadurch gelassener mit sich selbst umzugehen.

Innere Anteile – Die Arbeit am Selbst

Innere Anteile stehen für verschiedene „Stimmen“, Modi beziehungsweise Zustände in uns, die je nach Situation in unterschiedlicher Weise aktiv werden können. Beispielsweise bist du Momente-weise sehr kontrollierend, etwa weil dich frühere Verlustängste triggern und du fürchtest, du könntest eine Person verlieren. Oder du fühlst dich situativ in eine jugendliche Leichtigkeit zurückversetzt, willst das Leben spüren und die Verantwortlichkeiten einer erwachsenen Person treten mehr in den Hintergrund. Dann ziehst du von Party zu Party und der Morgen danach ist dir egal. Einen Tag später bist du die Person, die verantwortungsvoll auf der Arbeit agiert und die nächtlichen Streifzüge scheinen in weiter Ferne. Kein Mensch ist in jeder Situation gleich – wir reagieren mal rational, mal emotional, mal kindlich oder kontrollierend. Diese Wechsel spiegeln die Dynamik unseres inneren Systems wider.

Manche Anteile sind schützend, andere fordernd, wieder andere verletzlich. So kann ein Anteil in uns vorsichtig und zurückhaltend sein, während ein anderer mutig voranschreitet. Diese Vielfalt ist normal und gesund. Problematisch wird es erst, wenn ein Anteil zu viel Macht übernimmt, wir aufgrund dessen in einer Situation ungünstig reagieren oder wir einen Teil von uns ablehnen.

Warum widersprüchliche Gefühle normal sind

Frau Gesicht im Schal versteckt

Selbst als erwachsene Menschen haben wir Anteile in uns, die sich am liebsten vor der Welt verstecken wollen. © Dr. Matthias Ripp under cc

Viele Menschen empfinden es als störend, wenn sie widersprüchliche Gefühle haben: den Wunsch nach Nähe und gleichzeitig Angst vor Verletzung, das Bedürfnis nach Ruhe und den Drang, ständig etwas leisten zu müssen. Doch diese Ambivalenzen sind Teil des Menschseins.

Wir sollten aufhören, uns als „Entweder-oder-Personen“ zu sehen. Statt uns für eine Seite zu entscheiden, hilft es, beide zuzulassen. Widersprüchliches darf nebeneinander bestehen. Wir dürfen unterschiedliche Bedürfnisse, Ansichten, Impulse in uns tragen – und es kann sogar sein, dass diese sich niemals „auflösen“. Wenn wir unsere inneren Konflikte erkennen und ihnen Raum geben, verlieren sie an Macht. So gelingt es, mitfühlender mit sich selbst zu werden – auch dann, wenn wir nicht so reagieren, wie wir es uns vorgenommen hatten.

Wie sich innere Anteile zeigen

Im Alltag treten unsere Anteile unbewusst auf. Wir sagen vielleicht wütend etwas, obwohl wir uns vorgenommen haben, ruhig zu bleiben. Oder wir sagen einen Termin ab, der uns eigentlich voranbringen würde im Leben – weil ein ängstlicher Anteil sich meldet. Diese Reaktionen sind kein Versagen, sondern Signale aus unserem Inneren.

Beispiele für innere Anteile

Nicht jeder Mensch hat zwangsläufig genau diese Anteile, aber in der einen oder anderen Variante dürften doch die meisten ähnliche Anteile in sich tragen. Wie viele du hast, für dich unterteilen möchtest oder wie du sie benennst, bleibt vollkommen dir überlassen. Aus meiner Sicht sollten es nicht zu viele innere Anteile sein, damit die Arbeit damit funktional bleibt. Wir sollten nicht darüber nachdenken müssen: „Mhm, welcher Anteil ist das gerade? Das innere Kind oder der Vermeider?“ Wichtig ist, dass sich die Zuordnung für dich intuitiv anfühlt und du schnell und für dich eingängig mit den Anteilen arbeiten kannst.

Typische Anteile

Einige typische Anteile haben wir nachträglich aufgeführt:

  • Das ängstliche Kind: Geprägt durch Unsicherheit, Ablehnung oder mangelnde emotionale Sicherheit. Reagiert mit Angst (z. B. Angst vor Ablehnung), Rückzug oder Übervorsicht.
  • Der rebellische Teenager: Entsteht aus jugendlichen Autonomiekonflikten. Reagiert mit Trotz, Wut oder Rückzug, wenn alte Zurückweisungen oder Begrenzungen getriggert werden. Beispielsweise in Beziehungskonflikten reagiert er impulsiv, obwohl wir uns doch vorgenommen hatten, gelassen zu bleiben.
  • Kontrollanteile wie „Die Perfektionistin“/ Der „Perfektionist“: Will alles kontrollieren, um Fehler und Scham zu vermeiden. Ziel: Sicherheit durch Perfektion.
  • Der „disziplinierte Antreiber“: Will ständige Leistung und Anpassung. Treibt zu Disziplin, Funktionieren und „brav sein“, um Ablehnung zu vermeiden. Er will, dass wir ständig funktionieren.
  • Der „innere Kritiker“: Verkörpert früh gelernte Erwartungen („Sei perfekt, sei fleißig – sonst wirst du abgelehnt“).
  • Der Minderwert-Anteil: Flüstert dir ins Ohr: „Du genügst nicht.“ Untergräbt Selbstvertrauen und blockiert mutige Schritte.
  • Die innere Elterninstanz/der normative Anteil: Repräsentiert Regeln, Moral, „Man muss“-Sätze, Pflichten und gesellschaftliche Erwartungen. Ziel: Ordnung, Sicherheit, Zugehörigkeit.

Weitere tiefere Anteile

Mann am Tisch im Gartenlokal

Manchmal geht es hin und her in unserem Kopf, weil wir verschiedene Anteile mit unterschiedlichen Bedürfnissen in uns tragen. © Quinn Dombrowski under cc

Weitere tiefere Anteile in uns, die ganz besonders für elementare Bedürfnisse und Prägungen stehen, wären zum Beispiel:

  • Der Sehnsuchts-/Bindungsanteil: Steht für Wunsch nach Verbindung, Zugehörigkeit, Liebe. Typische Dynamik: Emotionales Klammern, Hoffen, Idealisieren. Ziel: Nähe herstellen oder Verlust verhindern.
  • Der überverantwortliche Anteil: Steht für zu viel Verantwortung für andere übernehmen, Retten, Kümmern. Typisches Verhalten: Eigene Bedürfnisse ignorieren, Grenzen verlieren, sich aufopfern. Ziel: Über Zugehörigkeit Sicherheit gewinnen.
  • Der Beschwichtiger/ People-Pleaser: Steht für Harmonie, Konfliktvermeidung, Bindungssicherung. Typisches Verhalten: Ja-Sagen, alles recht machen, eigene Bedürfnisse zurückstellen. Ziel: „Wenn ich lieb bin, passiert nichts Schlimmes.“
  • Der Überlebensmodus-Anteil: Steht für Alarmbereitschaft, Stress, Kampf-Flucht-Erstarren. Typische Reaktionen: Panik, Hyperkontrolle, Rückzug, Shutdown. Ziel: Maximale Sicherheit – um jeden Preis.
  • Der Vermeider/Der Abspalter: Steht für Abstand zu Schmerz, Überforderung, Nähe oder Verantwortung. Typisches Verhalten: Prokrastination, emotionales Abschalten, sich „taub“ fühlen, Ablenkung (Scrollen, Essen, Arbeiten). Ziel: Verhindern, dass wir von Gefühlen überwältigt werden.

Ressourcenreiche Anteile

Gleichzeitig gibt es ressourcenreiche Anteile.

  • Die Kämpferin/der Kämpfer: Steht für Stärke, Mut und Resilienz – das Wiederaufstehen nach Rückschlägen.
  • Der fürsorgliche Anteil: Pflegt Beziehungen, sorgt für innere Wärme, Selbstfürsorge und Mitgefühl – in einem gesunden Maß.
  • Der Selbstfürsorge-Anteil (die Yoga-Queen): Verkörpert Ruhe, Inspiration, Kreativität, Meditation, Selbstverbindung.
  • Der Visionär: Verkörpert unsere Zukunftswünsche und Träume, wenn alles möglich wäre.
  • Der/Die Sex-Liebende: Dieser Anteil ist aufgeschlossen für Sexualität und trägt die Bereitschaft in sich, sich zu entdecken und fallenzulassen.

Suche dir gern aus diesen oder anderen Anteilen die, die sich für dein inneres Erleben stimmig anfühlen. Allgemein wichtig für die Anteile ist: Jeder dieser Anteile verfolgt ein Ziel – Schutz. Nicht immer ist er funktional dabei, aber jeder Anteil macht es so, wie er glaubt, dass es richtig und hilfreich sei.

Allen Anteilen vor steht das:

  • Erwachsenen-Ich/Reifes Selbst: Der ausbalancierte, reflektierte Teil, der Überblick behält, innere Anteile führt und kluge Entscheidungen trifft. Kann beruhigen, strukturieren und Grenzen setzen. Ziel: Selbstbestimmung, Klarheit, innere Führung.

Das innere Team verstehen

Unser Selbst ist so etwas wie die Leitung des inneren Teams. Im besten Fall hört es allen Stimmen zu und trifft aus der Gesamtschau eine Entscheidung. Doch das gelingt nicht immer. Wenn alte Verletzungen aktiviert werden, übernimmt manchmal ein dominanter Anteil die Führung – etwa der Kritiker, der zu streng urteilt, oder der Teenager, der aggressiv oder wütend reagiert.

Wenn wir diese Mechanismen erkennen, können wir sie verstehen, statt uns von ihnen bestimmen zu lassen.

Anteile integrieren statt bekämpfen

Das Ziel der Arbeit mit inneren Anteilen ist nicht, sie loszuwerden, sondern sie zu integrieren. Jeder Anteil hat seine Berechtigung und möchte gesehen werden. Indem wir sie anerkennen, verlieren sie ihre destruktive oder überbordende Kraft. Wir hören auf, uns von starken Gefühlen fremdbestimmen zu lassen. Unterdrückte oder beschämte Seiten dürfen wieder Teil unseres Selbst werden.

Wir können uns das wie eine Teamsitzung vorstellen: Alle dürfen sprechen, das „Ich“ moderiert. Manche Anteile arbeiten wunderbar zusammen, andere stehen im Konflikt. Doch sobald jeder Anteil gehört wird, entsteht innere Ordnung. Das stärkt unser Selbstgefühl und führt langfristig zu mehr emotionaler Stabilität.

Psychologische Übungen: Innere Anteile annehmen

Bedenke jedoch, dass die hier vorgestellten Anregungen und Übungen der Selbstreflexion und persönlichen Weiterentwicklung im Alltag dienen. Sie können helfen, innere Dynamiken besser zu verstehen, mit Gefühlen achtsamer umzugehen und sich selbst mit mehr Mitgefühl zu begegnen. Diese Inhalte ersetzen jedoch keine Psychotherapie oder professionelle Behandlung. Wenn belastende Emotionen, traumatische Erinnerungen oder starke Konflikte auftreten, ist es wichtig, sich an qualifizierte Psychotherapeuten/Psychotherapeutinnen oder psychiatrische Fachleute zu wenden. Fachliche Begleitung bietet einen sicheren Rahmen, um tiefere seelische Themen zu bearbeiten und stabile Veränderungen zu erreichen.

Für den Alltagsgebrauch helfen dir folgende Übungen:

1. Das innere Team aufstellen

Menschen bei einem Marathon am Ziel

Innere Anteile spielen im besten Fall als starkes Team zusammen. © Komen Austin under cc


Veranschauliche dir, welche „Stimmen“ oder Haltungen du in dir wahrnimmst – z. B. der Antreiber, die Perfektionistin, das ängstliche Kind, die Kritikerin, die Träumerin. Du kannst darüber nachsinnen und es dir auch gern notieren, was jede Stimme denkt, fühlt und will. Wofür steht sie allgemein? So entsteht dein persönliches inneres Team.

Reminder: Bedenke, es gibt hierbei kein richtig oder falsch. Nur du kennst dein eigenes inneres Team. Benenne die Anteile gern nach Bauchgefühl, so wie sie intuitiv für dich passen. Du bestimmst auch deren Anzahl. Es muss für dich passen, sodass du im Kopf den Überblick behältst. Zu viele Anteile verwirren nur und behindern ein konstruktives Vorankommen, eben weil wir ja nicht in einem therapeutischen Setting sind.
Nicht jeder Anteil ist in jeder Situation präsent, manche tauchen seltener auf. Dahingehend bist du also völlig frei.

2. Den Dialog führen


Beobachte mal in Situationen oder wenn du vor Entscheidungen stehst, welche deiner Anteile sich melden. Auch kannst du zum Beispiel eine Diskussion zweier gegensätzlicher Anteile für dich im Kopf veranschaulichen oder aufschreiben (z. B. „Ich will Ruhe“ vs. „Ich muss leisten“). Wie würden beide miteinander in einem kurzen Gespräch sprechen? Ziel dabei ist: Verständnis statt Bewertung – jeder Anteil erfüllt eine Funktion.

Beispielsweise haben viele deiner Ängste ihre Wurzeln in der Kindheit. Du warst vielleicht oft unsicher, deine Eltern mahnten dich zur Vorsicht – und so hast du gelernt, dich selbst zu bremsen und dir wenig zuzutrauen. Heute ist es das innere Kind in dir, das sich in bestimmten Momenten noch immer ängstigt – auch wenn die Situation objektiv gar nicht bedrohlich ist. Stell dir vor, dein erwachsenes Ich spricht nun liebevoll mit diesem Kind, beruhigt es mit einfachen, tröstenden Worten: „Ich bin bei dir. Du bist sicher. Du darfst loslassen und vorangehen. Ich passe auf.“ Solche klaren, kurzen Sätze erreichen das Unterbewusstsein leichter – so, wie man auch mit einem echten Kind sprechen würde, wenn es Angst hat. Durch die Innere Anteile-Arbeit gehst du auf Abstand zur Angst, ordnest sie einem Teil von dir zu und löst sie mit dem klaren Blick einer erwachsenen Person auf, die „euch“ durch die Situation führt.

3. Der Körper als Signalgeber


Spüre, wo du innere Anteile körperlich wahrnimmst – Druck auf der Brust, Kloß im Hals, Spannung im Bauch. Körperempfindungen sind oft der direkte Zugang zu unbewussten Emotionen. Außerdem gelingt es dir so vielleicht besser, die Anteile voneinander abzugrenzen und zu erkennen.

4. Mitgefühl üben


Wenn du einen Anteil ablehnst, richte bewusst Verständnis darauf: „Dieser Teil versucht, mich zu schützen. Er braucht Zuwendung, nicht Abwertung.“ Selbst ein so unliebsamer Anteil wie der Minderwert versucht, dich auf seine Art zu schützen. Wenn er dir sagt: „Das kannst du nicht“, dann sagt er dir auf seine destruktive Art: „Lass es lieber sein. Wer weiß, ob du das schaffst. Nicht, dass du dich im Anschluss nachher schlecht und gering fühlst.“

5. Der Beobachtermodus


Lass die Anteile miteinander sprechen. So werden deine inneren Bestrebungen klar und du gelangst besser zu einer Entscheidung, die für dein Selbst am meisten stimmig ist. Du wirst beispielsweise weniger impulsiv oder ängstlich reagieren, weil du weißt, worauf das in deinem Inneren zurückzuführen ist. Übe, Gedanken und Gefühle mit Abstand wahrzunehmen: „Ein Teil in mir ist ängstlich – aber da gibt es auch mutige und selbstbewusste Anteile in mir.“ So nimmt die Angst in dir nicht Überhand und wird auch nicht als übermächtig angesehen, sie steht lediglich für einen Anteil in dir. Folglich kannst du vielleicht trotz der Angst deinen Weg weitergehen, in kleinen Schritten, Stück für Stück.

Selbstannahme statt Selbstkritik

Die Arbeit mit inneren Anteilen bedeutet, sich mit all seinen Seiten anzunehmen – den starken, verletzlichen, wütenden und ängstlichen. Wer lernt, seine innere Vielfalt zu akzeptieren, begegnet sich selbst mit mehr Mitgefühl. Das ist kein Ersatz für Psychotherapie, sondern eine achtsame Form der Selbsthilfe im Alltag.
Gerade bei tieferliegenden Traumata, starken Ängsten oder Depressionen sollte man professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen. Doch im täglichen Leben kann die bewusste Arbeit mit inneren Anteilen helfen, Scham und Selbstkritik zu reduzieren, emotionale Reaktionen zu verstehen und innere Balance zu finden.
 Unsere Persönlichkeit ist kein starres Gebilde, sondern ein lebendiges System aus vielen Anteilen. Je besser wir innere Anteile mit ihren Stimmen kennen und integrieren, desto klarer, mitfühlender und authentischer können wir leben.

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