Ein Mensch sitzt neben Fahrrädern vor See mit Segelschiff

Es braucht oft nicht viel zum entspannten Leben, gönnen wir es uns gegenseitig. © Jakob Lawitzki under cc

Was die anderen wirklich wollen scheint oft unergründlich und es stresst, wenn man sie nicht versteht. Alles ist uns zu viel, man fühlt sich gereizt.

Wenn nicht gerade Seuche oder Krieg ist – wie schnell man doch vergisst – dann ist man am meisten davon genervt, dass alle so genervt sind. Aber ‚Empört Euch!‘ scheint noch immer viele zu motivieren. Was taugt nicht alles dazu, um weißglütig zu schäumen, zuletzt Heizungsgesetze.

Hatten sich vor etwa 15 Jahren noch viele darüber beschwert, dass wir doch so unpolitisch sind, sind heute alle politisch, aber geht es uns dadurch so viel besser? Kaum ein Streit wird ausgelassen, die einen baden darin, den anderen hängt es einfach nur noch um Hals raus. Zwischendurch, vor Krieg und Corona, war Thema, warum wir nicht mehr mit einander reden können und wie es gelingen könnte, einander wieder zuzuhören. Nicht verstehen und vertragen, sondern einfach nur zuhören, statt sich anzuschreien oder, wenn es nicht einmal mehr dazu reichte, sich anzuschweigen. Das war die gute alte Zeit, als alles noch so unbeschwert war, wir hatten 2018 darüber geschrieben: Warum sind so viele Menschen schlecht gelaunt und aggressiv?

Die Gereiztheit war nicht grundlos

Irgendwelche Aufhänger findet man immer, wenn man sich aufregen will. Nach Jahrzehnten des seligen Schlummers ist Deutschland nun aus diesem erwacht und man ist gereizt. Zurecht, weil man irgendwann anfing uns zu erklären, dass die Welt immer besser wird und das erstens, nicht die erlebte Realität war und zweitens, weil wir seit langer langer Zeit keine gemeinsame Geschichte mehr haben, die in die Zukunft weist und uns verbindet.

Für den ersten Punkt gab es dann zunehmend die Faktenchecker, die – oft gutwillig und gutgläubig – sich und anderen suggerieren wollten, dass der Blick auf die Fakten alles klärt und alle zum schweigen bringt. Dass aber längst jeder seine Fakten, seine Deutung und seine Experten im Rucksack hatte, ist vielen zunächst entgangen und dann waren sie hilflos, denn wenn man wirklich meint, dass die Fakten alles aufklären, dann ist man ratlos, wenn danach noch immer gestritten wird. Im Lehrbuch stand es doch anders.

Womit wir beim zweiten und wichtigeren Punkt wären, die erklärende Großerzählung ist futsch. Das nachzuvollziehen ist in der Tat ein wenig schwierig, denn so explizit war die Erzählung vorher auch nicht, aber das war auch nicht nötig und genau das ist auch eines der Geheimnisse der guten, alten Zeit, im deutschen Westen, es musste nicht drüber geredet werden, die Menschen hatten es verinnerlicht.

Das ist heute als Stimmung schwer nachzuvollziehen, in Geschehen die Veränderungen in der Welt zu schnell? haben wir diese etwas nachgezeichnet. Die hohe Zufriedenheit äußerte sich in einer hohen Wahlbeteiligung, die sozialen Schlachten waren geschlagen, die Umwelt noch kein Problem in der Gesellschaft, Fortschritt & Technik waren die großen Heilsversprechen, sozial, in Sachen Gleichberechtigung, Medizin und in der Arbeitswelt, in der Schaffung neuer, gut dotierter Bürojobs für eine junge, aufstrebende Mittelschicht ging es voran und 1974 wurde Deutschland zum zweiten Mal Fußballweltmeister, auch so etwas verbindet und macht stolz. Die stille Gewissheit war, dass es, egal wie es einem selbst ging, der nächsten Generation in jedem Fall besser gehen würde.

Nur hatte man dabei die Rechnung ohne die nächste Generation gemacht, ein Punkt, der noch längst nicht aufgearbeitet ist. Man weiß, irgendwas ist da schief gelaufen, aber man versteht noch nicht, was eigentlich. Aber, ab da ging es nicht mehr ungebrochen weiter aufwärts, sondern schleichend bergab und 2023 glaubt kein Mensch mehr, dass die nächste Generation es in jedem Fall besser haben würde. Ein Motor nach dem anderen, der das Bild von Fortschritt zum Besseren antrieb, fiel aus.

Gibt es heute zwei Blöcke oder ganz viele?

Das kann man mit einem klaren: ‚Kommt drauf an‘ beantworten. Einerseits, wenn wir uns die Gesellschaft in zehn Gruppen zerteilt vorstellen, wie man es bei SINUS tut, gibt es viele. Die Mitgliederzahl der Gruppen umfasst zwischen 8 und 12% der Bevölkerung, also alle in etwas gleich stark, was die Menge angeht. Fasst man die Gruppen in große eher progressive oder konservative Lager zusammen, so ergibt sich eine Aufteilung, die ziemlich genau 50 : 50 ist, also wieder ein Patt der Kräfte oder anders, eine gespaltene Bevölkerung.

Doch die Gruppen zeichnen sich nicht nur durch ihre Mitglieder aus, sondern auch durch unterschiedliche Mittel um auf sich aufmerksam zu machen. Zum Beispiel Geld, etwa für Werbekampagnen, aber auch Bildung oder die eigene Fähigkeit im Umgang mit den Medien, sowie politischer Druck, auch dadurch, dass man aus Protest die AfD wählt. Früher nahm man die Linke, aber heute juckt das niemanden mehr.

Aber das sich ergebende Ungleichgewicht gleicht sich auch dadurch wieder aus, dass gar nicht mehr alle Gruppen durch Werbekampagnen gleichmäßig erreichbar sind. Die Mediennutzung verschiebt sich, am häufigsten wird das Internet genutzt, mit 94%, am längsten das Fernsehen, ungefähr 200 Minuten pro Tag, dahinter das Radio, mit etwa 90 Minuten. Aber auch das verteilt sich in Nischen, viele junge Leute sehen sich ihre Influencer an und orientieren sich eventuell mehr an jenen oder ihrer Blase, als an Nachrichten, deren Einfluss vor allem auf die Jugend sinkt.

Auch hier, weil es vielen einfach zu viel wird. Was die anderen wirklich wollen, das kriegt man irgendwie nicht mehr zusammen und so ist eine Gegenreaktion sich aus der Flut heraus zu ziehen und seine eigene Insel zu bauen. Das ist nichts, was man verurteilen muss, es ist niemandem geholfen, wenn jemand durchdreht, ängstlich oder depressiv wird. Und doch, müssen wir irgendwann Schritte auf einander zu machen, statt uns immer mehr abzukapseln.

Wie kommt man aus dem alle gegen alle?

Auf der einen Seite ist unsere Zeit sehr narzisstisch geworden. Heißt, man sieht sich und erst mal nur sich. Mir soll es gut gehen. Da das oft zu offensichtlich ist und man wenigstens nicht als Egoist erscheinen will, umgibt man sich mit anderen, denen der Schuh an der gleichen Stelle drückt. Jetzt sind es unsere Ideen, nicht mehr meine, die natürlich die wichtigsten sind und auch von allen als die wichtigsten angesehen werden sollen. Sich für andere oder anderes zu engagieren heißt nicht automatisch, dass man nicht narzisstisch ist, wie das Helfersyndrom zeigt oder eine andere Verlängerung des Selbst.

Zehn gleich starke Gruppen heißt auch zehn unterschiedliche Ideen und Lebensansätze, alle sehen sich als die jeweils wichtigsten an. Wenn man das weiter splittet ist man schnell bei 20. Das ist erst mal nicht falsch, solange sie in den Dialog auf Augenhöhe eintreten und die Kommunikation nicht bedeutet, dass ich die anderen einfach irgendwie in mein Boot bekommen muss. Doch oft heißt es das, bei denen, die ihren Ansatz als den wichtigsten verstehen.

Da fällt das Zuhören und der echte Austausch dann manchmal aus und man verzweifelt wirklich, weil die anderen die Bedeutung des Themas einfach nicht verstehen wollen. Dabei ist es im Grunde einfach. Wenn Klimaaktivisten sagen: ‚Was nützt uns Bildung, wenn uns der ganze Planet verbruzzelt?‘, dann ist das Argument vollkommen nachvollziehbar, bezweifelt wird vom manchen nur, ob es denn wirklich so schlimm wird. Das bringt die Aktivisten noch mehr auf die Palme, weil es sie fassungslos macht, wie schlecht informiert oder zynisch jemand sein kann, aus ihrer Sicht ist die Sache klar und sieht alles andere als gut aus.

Doch die Gruppe der Armen sagt: ‚Was interessiert es mich, was in 20 Jahren ist? Meine Probleme beginnen an jedem 20. des Monats, dann ist nämlich das Geld alle und ich hatte nie genug davon, um in den letzten 20 Jahren überhaupt auch nur eine Flugreise machen zu können, von einer Kreuzfahrt ganz zu schweigen, ein Auto habe ich nie besessen und Bio-Lebensmittel sind mir schlicht zu teuer. Was wollen die mir erzählen, zähle ich hier und heute nicht?‘

Wer hat Recht? Beide. Und nicht nur das, auch die Geschichten einiger Ostdeutscher, die sich unausgesetzt betrogen fühlen und denen dann noch vorgeworfen wird, sie seien nicht dankbar genug, sind nicht von der Hand zu weisen. So wenig wie die Geschichten von Menschen mit Migrationshintergrund, die hier in der dritten oder vierten Generation leben, Deutsch sprechen, Steuern zahlen, sich so verhalten, wie alle und zuweilen noch immer angeschaut werden, als kämen sie von anderswo, was ja nebenbei auch kein Vergehen wäre.

Oder die Geschichte von LGBTQ Menschen, die einfach leben und lieben wollen, wie sie eben leben und lieben. Die von irgendwie körperlich oder geistig Eingeschränkten, von alleinerziehenden Müttern, aber auch Vätern, denen man aus dubiosen Gründen verwehrt, ihre Kinder zu sehen, viel Leid, viel Frust, manchmal Zorn und jede Menge Missverständnis.

Dann gibt es natürlich immer mal wieder kleine Generationskonflikte. Boomer versus Gen Z, also unfreundliche alte Säcke, die nur an sich denken gegen irgendwelche Smartphonenerds, die irgendwie einsam und depressed sind, auch in der Gruppe oder so. Klischees halt. Aber die Jugend, das sind eben auch keine Klimakleber, viele sehen sich als urbane Kosmopoliten, in den Großstädten der Welt fühlen sie sich wohl, vermutlich auch wegen der Anonymität, andere spielen Fußball in einer Dorfmannschaft und träumen vom eigenen Auto.

Besorgt sind sie alle

Also die Besorgten. Ihnen ist abzunehmen, dass sie keine große Show machen, sondern in den meisten Fällen wirklich besorgt und manchmal verzweifelt sind. Doch gerade das kann etwas betriebsblind machen. Gestehen wir den Aktivisten der jeweiligen Gruppen zu, dass sie laut und schrill sein müssen, dafür sind sie Aktivisten. Muss nicht jedem gefallen.

Aber auch die weniger Lauten sind oft ernsthaft besorgt. Wenn wir die anderen verstehen wollen, dann kann das auf verschiedene Arten geschehen:

Verstehen, das kann heißen, sich intensiv mit ihren Geschichten und Argumenten auseinander zu setzen. Dann mit denen der nächsten Gruppe und immer so weiter, bis man wenigstens die 10 bis 20 relevanten durch hat. Das stresst, aber wenn man das macht, wird man vermutlich eher früher als später Gemeinsamkeiten entdecken, die die 20 verschiedenen Themen miteinander verbindet. Dann findet man auch Möglichkeiten, mit einer Bewegung gleich mehrere Aspekte zu kombinieren und zu berücksichtigen. Ein zunächst eher intellektuelles Spiel das vor allem mit einem integralen Bewusstsein gelingt.

Die andere Art des Verstehens ist das Einfühlen in die oben vorgestellte Sorge der anderen. Die wollen niemanden quälen, sondern sind wirklich in Sorge und da ist es oft unnötig, sich darüber zu streiten, ob das eigene Thema nun das wichtigste oder drittwichtigste ist, denn wir müssen viele Themen parallel angehen, leider sind einige der in Neue Realitäten vorgestellten Zukunftsgefahren bereits eingetreten. Wenn wir den anderen abnehmen, dass sie sich wirklich sorgen, dann ist das ein weiterer Baustein um zu verstehen, was andere wirklich wollen.

Schaut man auf Menschen, die zu einer bestimmten Gemeinschaft gehören oder ihr zugerechnet werden, so sind die meisten keine Aktivisten. Sie werden sehr häufig nicht einmal große Lust verspüren aus ihrem Leben ein andauerndes öffentliches Statement zu machen. Viele Menschen sind zudem introvertiert und für alle genannten gilt: Sie wollen eigentlich nur ihr Leben leben und ihre Ruhe haben. Das ist nicht viel und auch keine sonderliche Zumutung. Queere Menschen wollen nicht einmal im Jahr bunt auf dem CSD tanzen, sondern einfach einen normalen Alltag leben. Die einen wollen nicht ständig als potentielle Terroristen betrachtet werden, die anderen nicht als Rassisten, auch sie wollen nur ihr normales Leben führen, über Freunde und Familie, Klamotten, Filme, Tiere, Autos, Liebe oder Essen reden, nicht über das, worauf sie oft reduziert werden.

Wenigstens das sollte heute jeder nachvollziehen können, da es kaum mehr eine Gruppe gibt, von der nicht irgendeine andere meint, sie müsse sich pauschal rechtfertigen. Ist man mal in der Situation, merkt man wie anstrengend das sein kann, was müssen erst die erleben, für die das seit Jahrzehnten zum Alltag gehört? Wie oft soll man sich erklären müssen, bevor man einfach in Ruhe sein Leben leben darf? Das ist es, was die Überzahl von uns wirklich will. Eigentlich sehr einfach.

Warum wir uns nichts zu sagen haben und wer den ersten Schritt gehen muss

Manchmal sind die Fronten verhärtet, manchmal übertreiben Interessenvertreter einiger Gruppen. Häufig meint man es selbst besser zu wissen. Überlegen an Zahl, Empathiefähigkeit und/oder Intellekt fühlen sich viele. Darüber braucht man nicht zu streiten, wie wollte man das auch entscheiden? Aber man kann ja so tun, als wisse man es tatsächlich besser. Trotzdem kann man offen für die Argumente der anderen bleiben.

Fragen wir uns selbst und zwar mal ernsthaft. Gesetzt wir wissen wirklich etwas sehr gut und haben es auf der anderen Seite mit einem Kind zu tun, oder jemandem, der wirklich nicht viel weiß. Wer ist für das Gelingen des Gesprächs verantwortlich? Man kann vom anderen sicher verlangen sich anzustrengen, aber der, der mehr weiß ist verantwortlich für die geschickte und passende Präsentation, die dem anderen wirklich hilft weiter zu kommen. Mit anderen Worten dafür, dass der Dialog gelingen kann. Der andere kann das ausschlagen, aber die Verantwortung hat der, der sich überlegen fühlt. Fühlen sich beide so, ist das kein Problem, da sich beide anstrengen müssen, das sollte dann klappen.

Natürlich muss ein echtes Interesse an der Position des anderen vorhanden sein, das heißt taktische vorgeschobenes Interesse, das lediglich im Dienste eigener Überredungsversuche stehen, zerstören die Symmetrie und den Diskurs.

Fazit

Mit einem integralen Bewusstsein wird man sich auch seiner Verantwortung für den Dialog bewusst sein und kreativ eigene Wege finden, um die die diversen Themen zusammen zu führen. Es ist nötig. Aber ein integrales Bewusstsein ist nicht häufig, auch wenn es häufiger wird. Doch mit den weiteren Zutaten, 1. den anderen positiv zu unterstellen, dass sie besorgt sind und ihre Themen nicht wählen, um anderen das Leben schwer zu machen, sowie 2. mit der ebenfalls positiven Unterstellung, dass die anderen in erster Linie ein recht normales Leben führen wollen, können wir weiter kommen. 3. Gerade wenn wir meinen in der stärkeren Position zu sein, haben wir die größere Verpflichtung für das Gelingen des Dialogs zu sorgen. Drei bis vier Punkte, die jenen helfen können, die wirklich ergründen wollen, was die anderen wirklich wollen. Versuchen Sie es mal.