Nach einem sportlichen Morgen und einem Vormittag der Arbeit kommt Rahde* in der Pause fröhlich plappernd mit den Worten, der Mensch müsse wieder selbstständig denken lernen, auf uns zu. Jetzt sei er aber ausgehungert, sagt er daraufhin und öffnet seine Lunchbox. Sogar das Fleisch esse er jetzt kalt, obwohl die Möglichkeit bestünde, es auf der Arbeit zu erhitzen.
„Selbstständig denken“, greifen wir noch einmal auf und fragen Rahde zwischen Käse und Fleisch, ob er weiter ausführen mag.
Selbstständig denken anstatt nachzuplappern

Rahdes Überlegung: Das Ganze ist zwar mehr als die Summe seiner Teile, aber jedes Teil sollte selbstständig denken, damit es funktioniert. © Steve Jurvetson under cc
Bereitwillig kommt Rahde unserer Aufforderung nach. „Es ist doch so“, sagt er, „die Mehrheit der Leute plappert nach, was sowieso schon alle glauben zu wissen. Jahrzehntelang als unumstößlich Geltendes wird immer wieder aufgewärmt, wohl wissend, dass man von den Zuhörern für das Gesagte Applaus ernten wird, weil diese ja genauso auf die ‚gesellschaftlichen Dogmen‚ getrimmt sind.“ Kaum einer schaffe es da, so Rahde weiter, gedanklich aus dem System auszubrechen, Ängste abzulegen, Dinge zu hinterfragen und für sich zu prüfen, ob es gut für einen selbst beziehungsweise die Familie ist.
Selbstständig denken fängt von klein auf an
Selbstständig zu denken, haben seine Frau und er erst wieder erlernen müssen. Sie schwammen im Strom, gingen der jährlichen Vorsorge nach, konsumierten und lebten vor sich hin. Bei der Geburt des Kindes habe sich alles für sie geändert, so Rahde. Schnell merkte die Familie, dass der gesellschaftliche Umgang mit Kindern und dem, wie Erziehung allgemein funktionieren soll, sich nicht mit ihrem Bauchgefühl vereinbaren ließ.
Neben Stillen, Tragen und Familienbett sei dann auch die Thematik der Fremdbetreuung auf den Tisch gekommen. Rahde und seine Frau entschieden sich dagegen, einfach „weil es sich nicht richtig anfühlte“.
Ihm sei klar, dass das arbeits- und gesellschaftstechnisch nicht immer leicht vereinbar sei, erklärt Rahde weiter. Er und seine Frau haben Glück bezüglich der Arbeitgeber und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. – Passend zum Thema meldet sich seine Frau über Handy. Rahde entschuldigt sich für die Unterbrechung, telefoniert und sagt dann, dass es seiner Frau und der gemeinsamen Tochter heute auf der Arbeit gut ergangen ist. Lara hätte im Innenhof mit den anderen Kindern und der Betreuerin Pflanzen gesetzt, während sie selbst in Sichtweite des Kindes die Schreiben für die Chefetage erledigen konnte.
Staunend betrachten wir Rahde, können uns keinen Reim auf das Gesagte machen. Nach einem Happen Salat erklärt er:
Neue Wege der Betreuung gehen
Jetzt, da Lara größer (4 Jahre) ist, haben seine Frau und er sich für eine Art vertrauter Fremdbetreuung entschieden. Der Arbeitgeber seiner Frau sei diesbezüglich aufgeschlossen. Inmitten der Firma entstand ein Kindergarten, bei dem es den Kindern möglich ist, jederzeit bei Mutter oder Vater zu verschnaufen. Flexible Arbeitszeiten machten diese Gleitzeitfremdbetreuung möglich. Ab und zu nehme seine Frau dann natürlich Arbeit mit nach Hause oder er hole Lara von der Arbeit ab, damit seine Frau das Liegengebliebene aufholen kann.
Als Rahde in unsere Gesichter blickt, setzt er noch nach: „Niemand sagt, dass es leicht ist, für seine Ideale einzustehen.“
Selbst lernen! Selbstständig denken!
„Und dann?“, fragen wir. „Schule?“, fragt Rahde zurück. Wir nicken. Auch diesbezüglich habe er viel recherchiert, so Rahde. Für Lara käme nur eine freie Schule in Betracht, eine, bei der sie das selbstständige Denken nie verlernt, in der Noten und Vergleiche keine Rolle spielen und Schüler projektorientiert selbstständig arbeiten, anstatt vom Lehrer alles vorgetragen zu bekommen.
„Ist denn das gesellschaftstauglich?“, fragen wir daraufhin. Rahde schmunzelt, als hätte er diese Frage schon oft gehört. Ebenso schnell kommt auch seine Antwort herausgeschossen: „Dass das derzeitige Bildungssystem sich nicht bewährt hat, dürfte eindeutig sein. Wir haben leistungsbezogene Besserwisser herangezüchtet, die andere malträtieren oder eben von diesen malträtiert werden. Das habe nichts mit einer zivilisierten Gesellschaft zu tun, die mit sich und der Umwelt in Einklang lebt. Die gesundheitlichen Konsequenzen wie Burnout, Depression, Schlaganfall etc. zeigen sich schon jetzt mehr als deutlich. Um also selbstständig neue Wege zu gehen, muss man mit dem Umdenken beziehungsweise selbstständig Denken bei den Kindern anfangen – für eine ideale, neue Welt.“ Und dazu sei er bereit.
Wir nicken. – Was sei nun mit den Freunden?, fragen wir. Doch die Mittagspause ist zu Ende. Rahde verspricht uns, auf dem Nachhauseweg zu erzählen, wie er auch bezüglich der Auswahl seiner Freunde gelernt hat selbstständig zu denken.
*Name von der Redaktion geändert