Angst überwinden – einfacher gesagt, als getan. Oder anders ausgedrückt: Es gibt solche und solche Tage. An manchen Tagen gehen wir mit mehr Selbstvertrauen durchs Leben – fast so, als könnte uns nichts erschüttern. Doch an anderen Tagen zeigt sich eine andere Seite: Für Menschen, die immer wieder mit Ängsten zu kämpfen haben, wirkt das Leben plötzlich wieder schwerer und bedrohlicher. Dann ist es, als würde jeder Schritt zur Herausforderung und die innere Stärke, die eben noch selbstverständlich schien, rückt in weite Ferne.
Dieser Artikel soll psychotherapeutische Hilfe nicht ersetzen. Das können psychologische Inhalte aus dem Internet gar nicht. Wenn du wiederkehrende oder starke Ängste hast, zögere bitte nicht, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen oder bei akuten Krisensituationen den Notdienst zu kontaktieren.
Dieser Artikel möchte lediglich eine weitere Facette der Angstbewältigung aufmachen, die oft unterschätzt wird. Manchmal reicht es nicht, kognitiv zu erkennen, wo unsere Ängste sitzen oder woher sie stammen. Bei nicht wenigen Menschen ist es so, dass sie bereits die Vergangenheit aufgearbeitet haben und dennoch hin und wieder immer noch unverhältnismäßige Ängste spüren. Diese kommen mitunter von jetzt auf gleich, es genügt ein Auslöser und das Angstgefühl ist wieder da. Vielleicht abgeschwächter und nicht mehr so andauernd, aber dennoch da. In dem Zusammenhang denkt man sich: „Ich bin doch schon viel weiter, wieso spüre ich jetzt diese Angst?“ Wenn du solche Situationen kennst, hilft dir vielleicht der Artikel als ein weiterer Ansatzpunkt, um mit Ängsten klarzukommen.
Angst überwinden: Was tun gegen die Körperreaktion?

Angst überwinden, gelingt oft besser, wenn man auch körperbezogene Strategien hinzuzieht. © Conway L. under cc
Was wir oftmals im Umgang mit der Angst unterschätzen, ist, dass der Körper Sicherheit spüren muss. Angst fühlt sich oft so an, als würde sie im Kopf entstehen – durch Sorgen, Grübeleien und bedrohliche Gedanken. Doch die moderne Psychologie und Körpertherapie zeigen: Angst ist in erster Linie eine körperliche Reaktion. Noch bevor wir bewusst über etwas nachdenken, hat unser Nervensystem längst entschieden, ob wir uns sicher fühlen oder nicht. Manche Fachleute veranschaulichen es so: Erfahrungen aus früheren negativen oder stressvollen Ereignissen sind im Körper gleichsam „gespeichert“. Sie melden sich nicht nur in unseren Gedanken, sondern oft auch durch körperliche Signale – zum Beispiel in Form verspannter Nacken- und Schultermuskulatur, einem flauen Gefühl im Magen oder plötzlichem Herzklopfen. Haben wir früher viel Negatives erfahren und uns oft ausgeliefert gefühlt, ist unser Nervensystem im Alarmmodus und springt schneller wieder an – obwohl kein oder kein starker Auslöser besteht –, was sich in Ängsten zeigt.
Diese Reaktionen sind nicht eingebildet, sondern Ausdruck der engen Verbindung zwischen Psyche und Körper. Unser Körper reagiert – auf Bedrohungen, die uns an frühere Situationen erinnern, ohne dass wir es bewusst beeinflussen könnten.
Darum ist es so wichtig, beim Umgang mit Angst nicht nur an den Gedanken zu arbeiten, sondern vor allem auch den Körper Sicherheit spüren zu lassen. Erst wenn das Nervensystem beruhigt ist, werden die Angstgefühle weniger stark sein.
Der Schlüssel: Sicherheit im Nervensystem
Das autonome Nervensystem steuert, ob wir im Stressmodus (Sympathikus) oder im Ruhemodus (Parasympathikus) sind. Bei häufiger Angst sowie in einem eng getakteten Alltag mit vielen Herausforderungen ist der Stressmodus überaktiv. Ziel der Strategien gegen die Angst ist es daher, den Parasympathikus zu aktivieren – den Teil, der Entspannung ermöglicht.
Vagusnerv stimulieren gegen die Angst
Bestimmt hast du in Zusammenhang mit einem Nervensystem im Alarmmodus aufgrund von stressvollen oder traumatischen Erfahrungen in der Vergangenheit von dem Vagusnerv gehört. Der Vagusnerv ist der längste Nerv des vegetativen Nervensystems und verläuft vom Gehirn bis in den Bauchraum. Er steuert viele lebenswichtige Funktionen, darunter Atmung, Herzschlag, Verdauung und das Immunsystem. Gemäß der Grundidee zur Vagusnervstimulation kann man ihn sich als eine Art „Schaltzentrale für Ruhe und Erholung“ vorstellen, weil er den Parasympathikus aktiviert.
Eine Stimulation des Vagusnervs – ob durch Atemübungen, Summen, Singen oder auch medizinische Verfahren mit elektrischen Impulsen – soll genau diesen beruhigenden Effekt verstärken. Die Idee dahinter: Wenn der Vagusnerv gezielt angeregt wird, kommt der Körper leichter aus dem Stressmodus heraus, Herzschlag und Atmung regulieren sich und ein Gefühl innerer Ruhe kann entstehen.
Wissenschaftliche Studie dazu
Derzeit läuft eine Studie von Dr. Nils Kroemer und seinem Forschungsteam am Uniklinikum Tübingen, die prüft, inwieweit eine Vagusnervstimulation wirksam ist. Dabei kommt eine elektronische Reizung des Nervs über das Ohr zum Einsatz. Über eine Elektrode werden Impulse in einem festgelegten Muster abgegeben. In manchen Studien wird die Stimulation zusätzlich mit einem funktionellen MRT kombiniert. So lässt sich beobachten, wie sich die Aktivität im Gehirn verändert und ob der Nerv über den Hirnstamm tatsächlich angeregt wird. Das sind die bisherigen Erkenntnisse der Uniklinik:
Derzeit gehen wir aufgrund der Studienlage davon aus, dass diese professionelle Vagusnervstimulation Personen helfen kann, die unter Antriebslosigkeit, Depressionen, Epilepsie oder auch Störungen im Stoffwechsel oder der Verdauung leiden. Zudem könnte die Stimulation bei Trägheit oder Fatigue helfen. Bei diesen Erkrankungen kann es sinnvoll sein, die Informationsweiterleitung im Körper wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Und weiter in Bezug auf gezielte Übungen zur Vagusnervstimulation daheim:
Nachweislich entspannend wirken zum Beispiel kontrollierte Atemübungen wie tiefes Atmen oder progressive Muskelentspannung. Wenn die Übungen zusätzlich mit einer Vagusnervstimulation gekoppelt werden, ist die Wirkung besonders gut, dazu gibt es erste Hinweise. Auch die Boxatmung, bei der man auf vier Zählzeiten einatmet, vier Zählzeiten die Atmung hält, auf vier ausatmet und wieder vier Zählzeiten hält oder eine verlängerte Ausatmung können die Entspannung fördern.
zitiert nach Puls, Das Magazin
Den Körper beruhigen

Wie eine enge Gasse kann das Leben sich manchmal anfühlen – bedrückend und begrenzend –, doch am Ende wartet immer ein Ausgang ins Freie. © The 3B’s under cc
Natürlich ist es immer hilfreich zu schauen: Warum habe ich jetzt Angst und wie kann ich ihr begegnen? Was kann ich tun? Zusätzlich oder wenn kein Handeln oder Nachdenken darüber erforderlich ist, können diese körperbezogenen Methoden unterstützend sein, sobald wir Angst fühlen.
Atmung, Bewegung & Entspannung
Allgemein sind ruhiges Atmen, Bewegung und Entspannung gute Ansatzpunkte, um das Nervensystem auf eine ruhigere Baseline zu bringen.
Atemtechniken
Die Atmung ist das einfachste Werkzeug, um das Nervensystem zu regulieren. Besonders wirksam: länger ausatmen als einatmen. Beispiel ist die im Zitat erwähnte Boxatmung: vier Sekunden einatmen, vier Sekunden halten und dann langsamer ausatmen usw. Dieses Muster signalisiert dem Körper: Gefahr vorbei, Entspannung erlaubt. Oft vergessen wir zu atmen beziehungsweise atmen flacher, wenn wir angespannt sind. Wann immer du die flache Atmung bei dir bemerkst, helfen dir tiefe Atemzüge, mit denen du „direkt in die Anspannung beruhigend hineinatmest“ und den Körper aufrichtest.
Muskelentspannung
Visualisieren kann auch nützlich sein, um die Angst als Energie loszulassen. Stell dir vor, wie die Angst in deinen verspannten Rücken- oder Nackenmuskeln, in deinen angespannten Füßen oder Händen oder in der Körpermitte als Energie feststeckt. Durch ruhiges Atmen in diese Körperbereiche visualisierst du die Entspannung. Die Angstenergie setzt du nach außen hin frei, sie verlässt deinen Körper und deine Muskeln werden weicher und entspannt.
Viele Methoden lehren, die Aufmerksamkeit freundlich in den Körper zu lenken. Wo sitzt die Angst? Enge im Brustkorb, Druck im Bauch? Allein dieses Spüren ohne Bewertung löst oft schon Anspannung.
Bewegung als Energieablauf
Regelmäßige Bewegung – Laufen, Tanzen, Yoga, Schwimmen – sorgt dafür, dass Stresshormone abgebaut werden.
Routinen schaffen
Feste Abläufe – Schlafrhythmus, Mahlzeiten, kleine Rituale – geben dem Nervensystem Verlässlichkeit. Ein Körper, der Stabilität erlebt, reagiert seltener mit Alarm.
Schütteln
Eine weitere Variante ist: den Körper für ein bis zwei Minuten auszuschütteln, wie ein Tier nach einer Stresssituation. Das löst Zittern und baut Adrenalin ab.
Kognitive Strategien gegen die Angst

Ein Aufenthalt in der Natur „cleant“ das Mindset. © Hannes Flo under cc
In Kombination mit den körperbezogenen Ansätzen sind kognitive Strategien natürlich weiterhin hilfreich. Diese kannst du beispielsweise anwenden:
- Gedanken prüfen: „Wie wahrscheinlich ist es wirklich, dass die Angst berechtigt ist?“ und ferner: „Ist meine Reaktion passend zur derzeitigen Situation?“ Realitätschecks helfen, Katastrophenfantasien zu entkräften.
- Gefühl der Machtlosigkeit aushebeln: Menschen, die viele Ängste haben, fühlen sich oft machtlos und ausgeliefert – weil sie es in der Vergangenheit öfter so erlebt haben. Sie glauben dann manchmal auch, dass ausgerechnet sie es sind, denen viel Schlechtes passiert und die immer wieder Steine in den Weg gelegt bekommen. Mache dir bewusst, dass das Leben für alle Menschen regelmäßig Probleme bereit hält. Ein „Warum immer ich?“ ist weder zielführend, noch spiegelt es die Realität wider. Hilfreicher ist es, bewusst aus dem Modus auszusteigen und den Herausforderungen aktiv zu begegnen.
- Flexibel bleiben: Manchmal erscheinen uns Situationen übermächtig und ausweglos, weil wir uns auf eine Lösungsstrategie eingeschossen haben. Genau diese soll es dann sein. Öffne den Raum für weitere Lösungsansätze, ermögliche dir Flexibilität. Je mehr Möglichkeiten du dir bewusst machst, desto handhabbarer fühlt sich die Situation an.
- Auf inneren Abstand gehen: Es braucht etwas Übung. Aber du kannst dir auch vorstellen, wie du dir gegenüber sitzt und auf diese Person blickst. Nun resümierst du im Kopf rational ihre Lage. Und fragst dich/sie, ob wirklich ein Grund zur Sorge besteht/ob sie wirklich „immer Pech“ hat oder es einfach die derzeitige Lage im Land/in der Welt ist etc.
Kontrollüberzeugung stärken
Surfe die Welle, anstatt dich von ihr verschlucken zu lassen. Die meisten Betroffenen von Ängsten haben Angst vor Kontrollverlust. Stärke deine Kontrollüberzeugung. Manchmal genügt ein: „Das bekomme ich hin.“ Damit gehst du sachlicher an die Situation heran – der Zeiger steht auf Lösung und nicht auf der Schwere der Problematik.
Eine verbesserte Kontrollüberzeugung kann aber auch manchmal über Trotz geschehen – als psychologischer Kniff. Wenn du das Gefühl hast, das Leben hält gerade jede Menge Gegenwind für dich bereit, reagiere trotzig. Vielleicht stellst du dir sogar vor, du bist Pirat/Piratin (ggf. Captain Jack Sparrow), hältst dich am Mast fest und trotzt den Winden und Wellen. Rufe den Tücken des Lebens zu: „Na, und? Ich schaffe es trotzdem! Leben, was hältst du noch für mich bereit?! Das war schon alles? Mehr hast du nicht auf Lager?“
Zugegeben, das klingt erst einmal befremdlich. Aber es ist nichts anderes als eine paradoxe Intervention. Damit ist gemeint, dass du ein eigentlich belastendes Gefühl nicht bekämpfst, sondern es bewusst verstärkst oder spielerisch umkehrst. Dadurch verliert die Situation ihren bedrohlichen Charakter und die innere Haltung verändert sich. Oft entsteht im Zuge dessen eine neue Freiheit im Umgang mit dem Problem.
Bemerke positive Veränderungen
Zum Abschluss noch einmal der Reminder, dass traumatische Erfahrungen und schwere Angstzustände nicht ausschließlich mit etwas Atemarbeit oder anderen Strategien behoben werden können. Deshalb: Hole dir therapeutische Unterstützung, sobald es dir notwendig erscheint.
Wenn du deine Ängste – körperbezogen, emotional und kognitiv – angehst, wirst du sehr wahrscheinlich nach und nach Verbesserungen spüren. Vielleicht bemerkst du, dass deine Ängste nicht mehr so „hochschießen“ oder dass du insgesamt ruhiger wirst. Auch wenn die Ängste schneller abklingen, ist es häufig ein Anzeichen, dass du deine Angst überwinden kannst. Du schaffst es mehr und mehr, deine Gedanken klarer verlaufen zu lassen und die Ängste zu hinterfragen – selbst wenn du sie körperlich noch spürst. Emotionen und Körpergefühl brauchen oft etwas länger, derweil der Kopf schon längst weiß, dass keine Gefahr droht. Was dir auch hilft, sind neue Gewohnheiten. Mit jeder Situation, die zuvor vielleicht beängstigend war und die du dennoch angegangen bist, spürt dein Körper, es besteht keine Gefahr und du bist in Sicherheit. Auch das verringert deine Angst Schritt für Schritt. Alles Gute!
Hinweise zu der von der Einwilligung mitumfassten Erfolgsmessung, Protokollierung der Anmeldung und deinen Widerrufsrechten erhältst du in unserer Datenschutzerklärung.