Wut zählt zu den kraftvollsten und häufig missverstandensten Emotionen. Gesellschaftlich gilt sie als unerwünscht. Wer wütend ist, der kann sich nicht beherrschen. So ist die allgemeine Auffassung. Viele Menschen versuchen, ihre Wut zu unterdrücken, oder sie schämen sich für sie. Manche fühlen sich regelrecht überwältigt von ihr und glauben, nichts gegen die Wut machen zu können. Aber Wut ist keineswegs nur negativ. Aus psychologischer Sicht hat sie eine Berechtigung, genauso wie jede andere Emotion auch. Wenn wir Wut richtig verstehen und für uns nutzen, kann sie zu einem wichtigen inneren Kompass für uns werden.
Wut: Ein wertvolles Warnsignal
Unsere Wut kann ein Warnsignal für uns sein. Sie ist eine Emotion der Abgrenzung. Wer wütend ist, der geht auf Abstand – zu der anderen Person, der Situation, manchmal auch zu den eigenen Gedanken. Durch die Wut bäumst du dich innerlich auf. „Hier stimmt etwas nicht“, sagt dein Inneres dir. „Hier geschieht etwas nicht zu deinem Wohl. Achtung!“
Deine Wut schützt dich also vor Aspekten, die dir nicht gut tun. Wenn du deine Wut richtig für dich nutzt, und dazu gehört selbstverständlich nicht, dass du wild um dich schlägst oder herumschreist, kann sie für dich ein richtungsweisendes Signal für mehr Selbstschutz, Abgrenzung und persönliche Weiterentwicklung sein.
Oft anerzogen: Wut = unerwünschte Emotion

Wut ist eine wichtige Emotion, die vielen in der Kindheit versagt wird. © Arne Hjorth Johansen under cc
Seit der Kindheit wurde uns verboten, wütend zu sein. Es war unerwünscht, sich als Kind verärgert oder gar wütend zu zeigen. Bei vielen wurde die Wut unterdrückt. Wer Glück hatte, der durfte in ein Kissen boxen oder mit dem Fuß stapfen, um seiner Emotion Ausdruck zu verleihen. Das ist eine pädagogisch wertvolle Methode, einem Kind beizubringen, seine Wut nicht direkt auszuagieren, sondern umzulenken, sodass niemand Schaden nimmt. Die meisten Kinder jedoch dürfen schlichtweg nicht wütend sein. Sie erfahren dann oft emotionale Kälte und Abstrafung seitens der Bezugspersonen, die ebenfalls nie gelernt haben, mit dieser Emotion umzugehen.
Für uns als Erwachsene ist es nun wichtig, zu wissen, wie wir gesund mit unserer Wut umgehen können. Wie wir lernen, uns weniger von ihr triggern zu lassen – damit sie uns nicht übermannt.
Wut als Zeichen des Selbstschutzes
Grundsätzlich entsteht Wut in uns, wenn etwas in unserem Leben nicht stimmt. Das kann als Kind gewesen sein, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlten. Warum müssen wir ins Bett, während die Großen noch länger aufbleiben dürfen? Warum muss ich etwas essen, was mir nicht schmeckt? Dann wiederum wurde mit uns geschimpft, eben weil wir über diese Ungerechtigkeit wütend waren.
Heute haben nicht wenige von uns verlernt, wütend zu sein. Manchmal fühlen wir stattdessen Trauer, denn diese Emotion war früher eher „erlaubt“. (Mitunter nicht einmal das, denn manchen wurde gesagt, sie sollten aufhören zu weinen.)
Wut gilt psychologisch oft als die eigentliche, primäre Emotion, wenn unser Selbst verletzt wird. Das kann zum Beispiel sein, wenn …
- … unsere Grenzen verletzt werden.
- … wir uns ungerecht behandelt fühlen.
- … unsere Bedürfnisse ignoriert werden.
- … unsere Werte infrage gestellt werden.
In solchen Fällen weist uns unsere Wut darauf hin, dass unser Selbst, unsere Souveränität, unsere Bedürfnisse untergraben werden. Sie zeigt: „Achtung, du musst jetzt für dich selbst einstehen.“ Nimmt man es genau, könnten wir ohne die Wut oder Verärgerung schwerlich spüren, wann es Zeit wäre, „Stopp!“ zu sagen.
Die Wut ist demnach bei der Abgrenzung behilflich. Sie signalisiert uns, wo unsere persönlichen Grenzen sind, sie schützt uns vor Überforderung, Manipulation und Ausnutzen. Die Wut unterfüttert unser Gefühl für Gerechtigkeit und Autonomie.
Wut ist nicht gleich Aggression
Wir haben es am Anfang des Artikels bereits angesprochen. Natürlich sollte Wut nicht ausagiert werden, indem man alles kurz und klein schlägt oder eine Situation hervorruft, bei der andere Menschen oder auch wir selbst Schaden nehmen. Aus allgemeiner Sicht wird Wut häufig mit Aggression oder Gewalt verwechselt. Doch das sind zwei verschiedene Aspekte, die klar voneinander zu trennen sind.
- Wut ist eine natürliche Emotion, die in jedem Menschen entsteht und die evolutionsbiologisch eine wichtige Funktion des Schutzes hat.
- Aggression ist dagegen ein bestimmtes Verhalten, das aus unkontrollierter Wut entstehen kann und bei dem andere, man selbst oder die Umgebung Schaden nehmen kann.
Unser Ziel sollte daher nicht sein, unsere Wut zu unterdrücken, sondern zu lernen, sie auf gesunde und nicht schadhafte Weise in die richtige Richtung zu lenken. Sie wird so kanalisiert, dass wir sie konstruktiv für uns nutzen können.
Wut zulassen, statt unterdrücken
Die frühen Botschaften unserer Kindheit, welche dazu geführt haben, dass wir Wut entweder verdrängen oder unkontrolliert ausagieren, sollten wir als Erwachsene hinterfragen. Unterdrückte Wut kann sich auf lange Sicht in unterschwelliger Aggression, Sarkasmus, Verbitterung, einem vermehrten Stresserleben, Depression, psychosomatischen Beschwerden oder plötzlichen Wutausbrüchen äußern. Impulsgeleitete, unkontrollierte Wut führt dann zum Zerstören von Beziehungen und Lebenskonstellationen – was daraufhin zu Schuldgefühlen führt und womöglich dem erneuten Wunsch, die Wut zukünftig noch besser zu unterdrücken. Ein Teufelskreis.
Besser ist es aus psychologischer Sicht, wenn wir unsere Wut wahrnehmen, sie anerkennen und versuchen, bewusst mit ihr umzugehen. Das wird nicht von Jetzt auf gleich perfekt gelingen und sicherlich auch nicht immer zuverlässig, aber immer besser, je mehr wir es praktizieren.
Gesunder Umgang mit Wut: 5 Schritte
Wenn wir bewusst mit unserer Wut umgehen wollen, dürfen wir sie weder verdrängen noch uns von ihr überwältigen lassen. Hier sind fünf psychologisch fundierte Schritte, wie du mit deiner Wut umgehen kannst:
1. Emotion wahrnehmen und benennen
Der erste und gar nicht so einfache Schritt ist, dass wir unsere Wut zunächst erst einmal erkennen müssen. Gerade wenn wir in der Vergangenheit nicht wütend sein durften, fühlen wir uns oft schuldig oder schambehaftet, sobald wir Wut in uns spüren. Dann greifen automatisierte Gedanken wie: „Reiß dich zusammen. Du musst dich anständig verhalten.“ Im ersten Schritt müssen wir also erst einmal wieder unsere Wut erspüren lernen. Das Gute daran ist: Sobald wir als innerer Beobachter oder Erfühlender agieren und in uns hinein spüren, laufen wir auch weniger Gefahr, uns von unseren Wutgefühlen übermannen zu lassen. Wir werden von einem Teilnehmenden auf dem Schachbrett, der mitten im emotionalen Sturm steht, zu einem Beobachtenden, der auf das Schachbrett blickt. Das schafft Abstand zum emotionalen Sturm.
Nun können wir die Wut für uns benennen. Beispiel: „Ich spüre gerade Wut, weil eine Grenze von mir überschritten wurde.“
Du kannst es in einem Gespräch direkt benennen oder für dich gedanklich, oder auch gern hörbar, aussprechen. Durch das bewusste Benennen machst du die Emotion greifbarer. Sie spukt dann nicht mehr wie ein graues Geflecht in deinem Kopf herum, sondern du machst sie quasi durch deine Worte plastisch. Die Wut ist da und sie wird gesehen. Durch diesen Schritt setzt du bereits ein wichtiges Zeichen deiner Selbstfürsorge. Du siehst dich.
2. Kurzzeitig auf Abstand gehen

Als Erwachsene müssen viele von uns den richtigen Umgang mit Wut erst einmal lernen. © nhadatvideo under cc
Nicht nur durch das Erkennen und Benennen der Wut schaffst du einen inneren Abstand, sondern du kannst auch einen weiteren Abstand schaffen, indem du die aktuelle Situation räumlich und zeitlich aufbrichst. Wenn du Wut spürst, gehe vorübergehend auf Abstand zu den externen Gegebenheiten. Beispielsweise dadurch:
- Atme mehrmals tief durch. In den Bauch hinein, das beruhigt.
- Verlasse gern die Situation räumlich, indem du sagst: „Ich muss mich erst einmal sammeln und meine Emotionen ordnen.“ Dann machst du einen Spaziergang oder ähnliches.
- Trinke kaltes Wasser. Das Trinken von kaltem Wasser kann bei Wut oder Angst beruhigend wirken, weil die Aufmerksamkeit auf eine körperliche Empfindung gelenkt wird. Manche Fachleute gehen davon aus, dass durch die peristaltische Bewegung beim Schlucken die Aktivität des Vagusnervs angeregt wird, wodurch das Nervensystem beruhigt wird.
Durch diese Vorgehensweisen schaffst du einen Abstand zwischen Reiz und Reaktion, also dem, was deine Wut auslöste, und wie du nun darauf reagierst.
3. Den Auslöser genauer betrachten
Jetzt ist es an der Zeit, den wutauslösenden Reiz genauer zu betrachten. Frage dich in diesem Zusammenhang:
- Wodurch wurde meine Wut ausgelöst?
- Welche meiner Grenzen wurde verletzt?
- Welches meiner Bedürfnisse wurde ignoriert?
Wut, selbst wenn du sie plötzlich fühlst, hat in der Regel konkrete Ursachen. Das können Auslöser der aktuellen Gegebenheit sein oder Dinge aus der Vergangenheit, die dich plötzlich durch eine Situation oder durch Gedanken triggern.
4. Gegenwart vs. Vergangenheit: Erkenne den Unterschied
Sehr häufig ist unsere aktuelle Wut durch vergangene Verletzungen und Grenzübertritte beeinflusst. Verschiedene Erlebnisse aus der Kindheit, zum Beispiel vorgenommene Abwertungen, erfahrene Überforderung oder emotionale Vernachlässigung, können bei uns dazu führen, dass wir in heutigen Situationen als Erwachsene oder auch Heranwachsende übermäßig wütend reagieren.
Deshalb schaue beim Betrachten deiner Wut genauer hin:
Worauf reagierst du gerade? Erinnert dich die Situation beziehungsweise das Verhalten deines Gegenübers an Situationen von früher oder Verhaltensweisen, die man dir entgegenbrachte?
Dieses Reflektieren hilft dir dabei, noch besser in dich hinein zu fühlen und den wahren Ursprung deiner Wut zu erkennen. Sobald du erkennst, dass du alte Muster unbewusst auf die neue Situation überträgst, kannst du in der aktuellen Situation emotional gereifter und weniger impulsiv reagieren.
Aber Achtung: Das heißt nicht, dass aktuell kein Grenzübertritt stattgefunden hat. Deine Wut ist immer noch ein Signalgeber. Berücksichtigst du diesen nicht, läufst du Gefahr, dich selbst infrage zu stellen.
5. Handele klar, aber respektvoll
Es ist wichtig für deine Selbstfürsorge, dass du klar, aber respektvoll handelst. Andernfalls könntest du Reue spüren, was dann wieder deine Schuld- oder Schamgefühle entfachen könnte. Und das wäre unnötig, oder? Sobald du gegenüber einer Person oder Situation Grenzen setzt, wirst du sehen, dass deine Wutgefühle gar nicht mehr so stark und übermächtig sind. Schließlich passt du ja auf dich auf! Und das spürt auch dein Körper. Handele also klar und respektvoll, indem du …
- … deine Grenzen klar kommunizierst und für deine Bedürfnisse einstehst. Aber greife niemanden an oder werde persönlich. Höre auch wirklich zu, was dein Gegenüber möchte.
- … Wünsche oder Bitten formulierst und dich klar positionierst. Aber bleibe sachlich und höflich dabei.
- … notfalls auch konsequente Entscheidungen triffst, eben weil du auf dich und dein Wohlergehen aufpasst. Natürlich kann man auch Kompromisse eingehen, doch die meisten neigen dazu, viel zu viel Zugeständnisse zu machen. Hier musst du also genau in dich hinein spüren, zu welchen Kompromissen du tatsächlich bereit bist. Auch das wird dir deine Wut zeigen.
Übrigens: Wenn du noch nicht so geübt darin bist, auf deine Wut zu hören (und auch sonst jederzeit), ist es stets erlaubt, sich eine Bedenkzeit zu erbitten. Niemand sagt, dass man ständig auf alles eine Antwort oder Reaktion parat haben muss. Wir dürfen sagen: „Darauf weiß ich im Moment noch keine Antwort. Darüber muss ich nachdenken. Bitte gib mir Zeit.“ Und dann sortierst und sammelst du dich erst einmal.
Wut: Chance für Wachstum

Manche Menschen weinen, anstatt wütend zu werden, weil Weinen in der Kindheit erlaubt war und Wut nicht. © Aaron Stidwell under cc
Sobald du es verstehst, deine Wut konstruktiv zu nutzen, hast du neben einer angemessenen Reaktion und Selbstfürsorge weitere Vorteile:
- Selbstbewusstsein stärken: Dein Inneres erfährt, dass du dich nicht mehr länger übergehst, sondern für dich einstehst und für dich Sorge trägst. Das ist bestärkend für deinen Selbstwert.
- Beziehungen verbessern: Positive soziale Beziehungen entstehen nicht dadurch, dass eine Person ständig mehr gibt als die andere. Gesunde Beziehungen sind nur möglich, wenn beide Beteiligte ehrlich ihre Bedürfnisse kommunizieren dürfen und bereit zu Kompromissen auf Augenhöhe sind.
- Innere Stärke aufbauen: Wenn du deine Emotionen regulieren kannst, wirst du auch innerlich stabiler. Du spürst, dass du dich auf dich, deine Empfindungen und Reaktionen verlassen kannst. Deine seelische Widerstandskraft wächst genauso wie deine innere Stärke.
Weniger triggern lassen: So klappt es
Zumeist sind es immer ähnliche Situationen oder Verhaltensweisen, die uns triggern und uns in Verärgerung oder Wut versetzen. Wie schön wäre es, wenn man sich nicht mehr davon triggern ließe und man sich diesen externen Reizen weniger ausgeliefert fühlen würde? Diese Ansätze helfen dir dabei:
1. Erkenne deine Muster
Du kannst deine Muster besser kennenlernen, indem du ein Wut-Tagebuch führst. Schreibe auf:
- Wann werde ich wütend? Welche Themen, Personen, situativen Gegebenheiten tragen dazu bei?
- Welche Gedanken treten in dem Moment auf? Welche Gedankenschleifen folgen daraus?
- In welcher Hinsicht fühle ich mich ungerecht behandelt und übergangen? Welche Emotionen treten in diesem Zusammenhang noch auf, vielleicht Schuldgefühle oder Scham?
2. Hinterfrage deine Glaubenssätze
Die meisten von uns haben Glaubenssätze, die nicht gerade hilfreich sind. Sie ploppen ganz automatisch in uns auf, sobald wir uns getriggert fühlen. Zum Beispiel:
„Ich muss still sein / mich gut benehmen / es allen recht machen, damit Frieden herrscht.“
„Ich bin zu viel / nicht wichtig / darf nicht sein.“
In dem Moment, wo du diese Gedanken bemerkst, steuerst du bewusst gegen – mit gesünderen Gedanken:
„Ich darf sein / habe eine Berechtigung.“
“Meine Bedürfnisse / Grenzen sind genauso wichtig wie die der anderen.“
3. Selbstfürsorge stärken
Je mehr du darauf achtest, dass deine grundlegenden Bedürfnisse erfüllt sind, desto weniger wirft dich aus der Bahn. Achte also auf gesunde Ernährung (auch das ist ein Zeichen der Selbstfürsorge), ausreichend Schlaf, Entspannung durch Yoga und Meditation (solche Praktiken helfen dir, intuitiv den Fokus auf dich zu richten und insgesamt ruhiger zu bleiben), genügend Bewegung, sonstigen sportlichen Ausgleich sowie eine positive soziale Unterstützung. Durch ein stabiles Konstrukt im Alltag, im Rahmen dessen du dir durch Gewohnheiten selbstfürsorglich und wohlwollend begegnest, Grenzen setzt und auf dich aufpasst, darf deine Wut zwar da sein, aber sie wird weniger laut sein – weil sie sich auch bei mäßiger Stärke bei dir Gehör verschaffen kann.
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