Die Abgrenzung von Eltern im Erwachsenenalter ist eine Entwicklungsaufgabe, die uns hilft, die eigene Identität zu festigen und Beziehungen auf Augenhöhe zu gestalten. Und doch ist das Einüben gesunder Grenzen für viele Menschen besonders schwierig, wenn es um die eigenen Eltern geht. Grenzen zu setzen gelingt vor allem dann schwer, wenn Eltern mit Unverständnis reagieren. Häufig nehmen sie Bedürfnisse ihrer Kinder persönlich gegen sie gerichtet wahr und haben Schwierigkeiten, zwischen Autonomie und Zurückweisung zu unterscheiden.
Dennoch müssen wir auch in der Familie Grenzen setzen, insbesondere, wenn uns bestimmte Dynamiken zwischen den Beteiligten nicht gut tun. Eine Abgrenzung von Eltern im Erwachsenenalter ermöglicht uns, Selbstfürsorge zu praktizieren, unsere Bedürfnisse ernst zu nehmen und Beziehungen auf eine Weise zu gestalten, die uns nicht überfordert. Während es im beruflichen Kontext oder im Freundeskreis oft leichter fällt, ein „Nein“ auszusprechen, scheint die familiäre Sphäre fast automatisch mit einer unsichtbaren Hemmschwelle verbunden zu sein. Viele erleben innere Blockaden, Schuldgefühle oder ein diffuses Unbehagen, wenn sie etwas einfordern, ablehnen oder sich abgrenzen möchten.
Doch warum ist das so? Die Psychologie bietet dafür sehr nachvollziehbare Erklärungen. Sobald wir diese verstanden haben, können wir zukünftige Grenzziehungen besser vornehmen.
Abgrenzung von Eltern im Erwachsenenalter: Nur wie?
Dass uns die Abgrenzung von Eltern im Erwachsenenalter so schwer fällt, liegt an verschiedenen Punkten:
1. Frühere Prägung durch Eltern

Die Abgrenzung von Eltern im Erwachsenenalter ist manchmal gar nicht so leicht. © Jo Sparkle under cc
Eltern sind die ersten Menschen, mit denen wir Bindung erleben. Sie prägen unser Verständnis von Nähe, Fürsorge und Zugehörigkeit – unabhängig davon, wie gesund oder unausgewogen diese Muster waren. Wenn in einem Familiensystem Harmonie, Anpassung oder Rücksichtnahme besonders belohnt und betont wurden, verknüpfen Kinder diese Verhaltensweisen mit Anerkennung und Liebe. Eventuell wurde demgegenüber das Erarbeiten von Freiräumen im Jugendalter mit Missfallen betrachtet. Daraus entwickelt sich ein Ungleichgewicht zugunsten von Unterordnung und gegen die individuelle Entfaltung.
Psychologisch gesprochen entsteht dadurch der Bindungscode: „Ich bin in Ordnung, wenn ich mich einfüge.“ Dieser innere Satz wirkt auch im Erwachsenenalter fort. Grenzen erleben wir dann nicht als natürlichen Teil einer Beziehung, sondern als potenziellen Bruch. Das „Nein“ fühlt sich nicht wie Selbstschutz an, sondern wie Illoyalität – selbst dann, wenn die Grenze objektiv notwendig wäre.
2. Die Angst vor Schuldgefühlen
Schuldgefühle sind ein starkes soziales Regulativ. Sie warnen uns – evolutionär bedingt – davor, unsere Zugehörigkeit zur Gruppe nicht zu gefährden. Schuldgefühle entstehen, wenn wir glauben, jemanden verletzt oder eine gemeinsame Regel (in der sozialen Bezugsgruppe) gebrochen zu haben – und sie erinnern uns daran, dass unser Verhalten die Beziehung belasten könnte. Dadurch würden wir in Gefahr geraten, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden – was in frühen Zeiten unser Überleben bedroht hätte. Deshalb reagieren wir bis heute so sensibel auf Schuld: Sie motiviert uns, Verantwortung zu übernehmen, Konflikte zu klären, kooperativ zu sein und Bindungen zu schützen. Innerhalb einer Familie, die für unser Überleben in der Kindheit existenziell war, wirken diese Signale intensiv.
Wenn wir gegenüber Eltern eine Grenze ziehen, entsteht oft das Gefühl, „etwas kaputtzumachen“. Aus psychologischer Sicht hat das weniger mit der Realität zu tun als mit alten Bindungsmustern, die noch aktiv sind. Grenzen brechen keinen Kontakt – sie verändern ihn und verbessern ihn oftmals, weil wir uns selbst in diesem neu gestalteten Kontakt, angepasst an unser erwachsenes Ich, wohler fühlen. Doch für das Nervensystem fühlt sich Veränderung manchmal wie Gefahr an.
3. Der Wunsch nach Zugehörigkeit
Familie ist nicht irgendein soziales Netzwerk – sie ist in den meisten Fällen der erste Bezugspunkt für Zugehörigkeit. Selbst in schwierigen Familiensystemen bleibt der Wunsch nach Bindung erhalten.
Das führt bei dir zu Fragen wie:
- „Was, wenn sie verletzt reagieren?“
- „Was, wenn sich der Kontakt verändert?“
- „Was, wenn ich als respektlos wahrgenommen werde?“
Diese Sorgen sind verständlich. Sie spiegeln die Sehnsucht wider, Beziehungen zu bewahren – selbst dann, wenn diese Beziehungen Grenzen erst recht bräuchten, um stabiler zu werden.
4. Emotionale Verantwortungsübernahme
Ein häufig unterschätztes Phänomen ist die Parentifizierung: Kinder übernehmen emotionale Verantwortung für ihre Eltern, etwa indem sie Stimmungen ausgleichen, Konflikte vermeiden oder Rücksicht nehmen, damit jemand anderes „nicht traurig wird“.
Wer damit aufwächst, entwickelt oft eine stark ausgeprägte Aufmerksamkeit für die Gefühle anderer. Im Erwachsenenalter führt das zu inneren Konflikten: „Wenn ich eine Grenze setze, bringe ich jemanden aus dem Gleichgewicht.“
Dabei handelt es sich nicht um Schwäche, eher um erlernte Überlebensstrategien. Das eigene Nervensystem hat sich darauf eingestellt, Beziehungen durch Anpassung stabil zu halten. Grenzen wirken dann wie ein Risiko – obwohl sie in Wahrheit ein Schritt in Richtung emotionaler Selbstständigkeit sind.
5. Rollen innerhalb der Familie
Jede Familie entwickelt implizite Rollen. Sie werden selten offen benannt, prägen aber dennoch deutliche Verhaltensmuster. Jedes Familienmitglied folgt ihnen – oft automatisch und ohne es zu merken –, besonders im Alltag oder in Konflikten. Manche werden zum „Vermittler“, andere zum „verständigen Kind“, zum „Starken“, zur „Anpassungsfähigen“ oder zum „Verantwortungsvollen“. Diese Rollen wirken wie eingeübte Reflexe: Wir erfüllen sie, obwohl wir sie uns weder ausgesucht haben noch wirklich wissen, dass wir es tun. Eigene Bedürfnisse gehen vor diesem Hintergrund oft verloren.

Trotz Abgrenzung können Eltern und Kinder zusammenhalten. © Stefano Brivio under cc
Wenn jemand, der immer ausgeglichen hat, plötzlich sagt: „Ich brauche Raum“ oder „So möchte ich nicht mehr weitermachen“, wirkt das auf alle Beteiligten wie eine Verschiebung des gesamten Familiensystems. Für manche fühlt es sich sogar wie Verrat an. Nicht, weil du etwas falsch machst, sondern weil sich Muster verändern.
Rollen sind nicht stabil, weil sie gesund sind, sondern weil sie vertraut sind. Sobald du das verstanden hast und deine bisherige Rolle im System erkennst, kannst du die alte Familiendynamik aufbrechen.
Verletztheit bei Grenzziehung
In vielen Familien wurden Gefühle selten offen kommuniziert. Konflikte wurden vermieden oder „unter den Teppich gekehrt“. Für Erwachsene aus solchen Systemen symbolisiert eine Grenzziehung in dem Fall, ein unausgesprochenes Tabu zu brechen. Eine Grenze löst dann folglich Unsicherheit aus: “Wie gehen wir damit um?“, “Was bedeutet das für die Beziehung?“
Diese Reaktionen sind Teil eines Anpassungsprozesses. Sie sagen wenig über den Wert der Grenze aus, aber viel über das bisherige Kommunikationsmuster. Ergo: Veränderst du die Gesprächsführung, hin zu einem offenen, ruhigen Dialog mit Ich-Botschaften, veränderst du bestenfalls auch bisherige Muster. Folgen die anderen dieser veränderten Kommunikationskultur nicht, bleibt dir nur die innere und notfalls äußere Abgrenzung.
Grenzen gegenüber Eltern wichtig
Obwohl es schwer fällt, ist die Abgrenzung von Eltern im Erwachsenenalter wichtig. Sie kann schrittweise erfolgen und bestenfalls zu einem Prozess werden, bei dem alle in Ruhe mitwachsen können. Orientiere dich gern an den folgenden Punkten bei der Grenzziehung, so fällt es dir vielleicht leichter:
- eigene Bedürfnisse klar benennen („Ich brauche …“, „Ich möchte …“, „Ich hätte gern …“)
- Regeln und Konsequenzen benennen (z. B. wie oft zu Besuch kommen; Themen, die tabu sind)
- emotionale Distanz wahren bei grenzüberschreitenden Kommentaren (Konflikte nicht um jeden Preis austragen)
- Schuldgefühle bewusst reflektieren und nicht als Steuerungsinstrument akzeptieren
- Unterstützung suchen, wenn alte Rollenbilder wieder aktiv werden (z. B. durch Partner*in, Freundeskreis, Therapie), oder für sich bewusst reflektieren
Du kannst zudem deutlich machen, dass es eure Eltern-Kind-Beziehung nicht gefährdet, sondern sogar stärkt, wenn du deine eigenen Grenzen setzt – denn sie sorgen für mehr Respekt, Klarheit und echten Kontakt auf Augenhöhe.
Grenzen: Ausdruck von Beziehungskompetenz
Oft verbinden wir Grenzen mit Abgrenzung oder Rückzug. Psychologisch gesehen sind gesunde Grenzen jedoch das Gegenteil von Distanz: Sie schaffen Klarheit und reduzieren Missverständnisse. Außerdem ermöglichen sie Nähe, ohne dass man sich selbst verliert. Eine Grenze sagt nicht: „Ich wende mich von dir ab“, sondern „Ich möchte in Kontakt bleiben – aber auf eine Weise, die für uns beide gut ist.“ Menschen, die Grenzen setzen können, handeln nicht gegen eine Beziehung, sondern für deren Stabilität.
Verantwortung einordnen
Aus Sicht der Psychologie ist emotionale Eigenverantwortung ein zentraler Bestandteil reifer Beziehungen. Sie bedeutet nicht, dass uns andere egal sind oder dass man unwirsch Grenzen setzt. Viel eher symbolisiert es: Jeder Mensch hat das Recht, seine eigenen Emotionen zu regulieren. Und jede erwachsene Person darf lernen, Grenzen von anderen auszuhalten. Grenzen verschieben die Verantwortung zurück dahin, wo sie hingehört: zu jedem Menschen selbst.
Gefühle aushalten
Wer jahrelang Erwartungen erfüllt hat, für den fühlt sich ein gesetztes „Nein“ ungewohnt an. Wer gelernt hat, Rücksicht über Autonomie zu stellen, wird Selbstfürsorge zunächst als Egoismus missdeuten. Das ist normal. Unser Nervensystem bevorzugt Vertrautes, selbst wenn andere Handlungsweisen für uns gesünder wären. Grenzen müssen daher oft erlernt werden wie eine neue Sprache: Anfangs holprig, dann zunehmend immer leichter werdend.
Grenzen als Zeichen innerer Reifung
Grenzen können als Ausdruck innerer Reife verstanden werden: Du bringst damit Selbstfürsorge, gegenseitige Unterstützung und das Zumuten von Eigenverantwortung bei anderen in ein gesundes Gleichgewicht. Grenzen zeigen: Ich nehme mich ernst, ich respektiere deinen Raum genauso wie meinen und ich gestalte Beziehungen bewusst. Mit zunehmender innerer Sicherheit fühlt sich Grenzen setzen immer natürlicher an – selbst die Abgrenzung von Eltern im Erwachsenenalter. Grenzen machen soziale Beziehungen strukturierter und ermöglichen dir mehr Ruhe. Menschen, die wirklich verbunden bleiben wollen, wachsen mit dir – auch durch Grenzen hindurch. Und du selbst wächst vielleicht gerade an genau diesen mutigen Schritten am meisten.
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