
… und alle gehen in verschiedene Richtungen © Thomas Rodebücher under cc
Das kaputte Wir meint die weithin sichtbare Fragmentierung und Reorganisation in der Gesellschaft dieser Tage. Ein gesellschaftliches Wir besteht vermutlich in dem Moment am selbstverständlichsten, wenn es nicht eigens hinterfragt und betont werden muss. Wer es fordert, zweifelt schon.
Wir, das sind nie alle, denn ein Wir zu formulieren braucht in aller Regel einen Gegenpol: Die. Aber auch wenn Wir niemals alle meinte so zieht es seine Kraft daraus, dass es doch für die allermeisten zutrifft und selbst wenn man nur anteilig dazu gehört, ist dieses Wir identitätsstiftend, mehr als einem manchmal bewusst ist. Jede gesellschaftliche Gruppe hat eigene Codes, bestehend aus Sprache, Verhalten, dem, was man tut und wohin man geht und Regeln von richtig und falsch. Selbst Gruppen, die die Gesellschaft ablehnen sind oft der subkulturelle Schattenteil einer Gesellschaft, von dieser stillschweigend geduldet und sei es nur durch ein stilles Wegschauen, in dem man manches gar nicht so genau wissen will, wie man es durchaus wissen könnte. Damit haben Subkulturen eine, die Gesellschaft stabilisierende Rolle, solange ihr Verhältnis so ist, dass die Kultur die Subkultur in Zahl und Bedeutung weit überragt.
Die Fragmentierung der Gesellschaft durch Echokammern und Blasen ist hier schon thematisiert worden, ebenso die eventuelle Fragmentierung der Psyche durch Smartphones, doch bei regressiven Bewegungen, in denen eine größere Einheit zerfällt, weil die Zahl der Menschen, die demonstrativ und lautstark nicht mehr mitspielen wächst, tritt auch eine Gegenbewegung oder ein Stopp des Falls ein, auf einer niedrigeren Organisationsebene. Wir wollen versuchen, die Ursachen des Zerfalls und die Reorganisation nachzuzeichnen und zu verstehen.
Da stimmt was nicht
Wie in Geschehen die Veränderungen in der Welt zu schnell? dargestellt, gab es einen Dreiklang aus echten Veränderungen, deren medialer Verstärkung und schlechter Stimmung, die wesentlich auf einem Rückgang des Vertrauens in Forschung und Technik beruhte, die ein neues Heilssystem darstellten, eine Bewegung, die vermutlich Ende der 1970er und Anfang der 1980er einsetzte.
Was passiert wenn ein großes Sinn und Glauben stiftendes System unter Kritik gerät? Es geht in einigen Teilbereichen in sich, doch im wesentlichen wird es zurückschlagen und versuchen, seine Vormachtstellung zu behalten. Ein Abwehrkampf, bei dem alle Register gezogen werden. So war es auch diesmal. Doch dass es überhaupt um eine Bewegung ging, in der ein Glaubenssystem zerfiel, wurde kaum bemerkt, weil es parallel mehrere Ablenkungen im Außen gab, die in Deutschland dieses Phänomen überlagerten und als Projektionsfläche dienten, die reale Veränderungen mit sich brachten, die nicht ohne waren.
Die deutsche Einheit, das Internet und der Euro
1989 gab es die Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit der Deutschen Demokratischen Republik, mit all ihrem Jubel, ihren Schwierigkeiten und Missverständnissen, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen, die jedoch für reichlich Aufmerksamkeit und Ablenkung sorgten, umso mehr, als es ein Jahr später zu dem welthistorischen Ereignis des Zusammenfalls des Kommunismus kam. Noch in die Phase der Neuorientierung brach der Aufstieg des Internet, ein weiteres, ganz anderes und für alle neues Phänomen, so etwa um 1993. Zunächst als eine Art Unterhaltung für ein paar Leute, die auf Technikspielzug und Neues abfuhren, gewann das Internet rasend an Fahrt und Einfluss und ist 20 Jahre später aus dem Leben nicht mehr wegzudenken. Und als wäre das alles nicht genug kommt es noch, in 2002, zu einer nahezu europaweiten Umstellung der nationalen Währungen auf den Euro, als ein drittes Großereignis.
Dass da irgendwas nicht stimmt war seit den frühen 1980ern ein stilles und langsam wachsendes Gefühl, doch mit der deutschen Einheit fand man eine Erklärung und Ablenkung. Die Probleme, die wir hatten, die Einschnitte, die mitunter vorgenommen wurden, konnte man den Ossis anlasten, von deren Lebensart ein paar kulinarische Besonderheiten und der grüne Pfeil an der Ampel übernommen wurde, ansonsten erfolgte der Zusammenschluss weitestgehend nach westlicher Spielart, was die Ossis nach Meinung der Wessis nicht immer mit der hinreichenden Mischung aus Dankbarkeit und Demut quittierten.
Aber da wusste man dann wenigstens der schuld an der Misere war, der Ossi. Das Internet nahm man spielend mit, beim Euro gab es dann wieder ein Rumoren. Zum „Teuro“ wurde er erklärt und vielleicht zum ersten Mal begegnete uns das Phänomen der gefühlten Wirklichkeit. Denn, so nahmen viele Menschen den Euro wahr: Die Ziffern der Preise wurden bei der Umstellung annähernd 1 zu 1 beibehalten, besonders bei Kleinkram, während die Löhne halbiert wurden. Aber das sei nicht wahr hieß es und ebenfalls zum ersten Mal zeigte sich ein merkwürdiges Phänomen der versuchten Aufklärung. Es wurde der Bevölkerung öffentlich vorgerechnet, dass sie sich irrt, in Wirklichkeit sei manches teurer und anderes billiger geworden und unter Strich sei das meiste billiger. Nur Heizöl und Benzin nicht, die man aber nun mal dringender braucht, als den etwas billiger gewordenen Joghurt.
Das war so ein Stachel, der piekste. „Das stimmt was nicht“, dachten manche und war das wirklich nur „gefühlte Wahrheit“, wie man ironisierend sagt? Aber durch die Sündenböcke konnte überdeckt werden, dass der Fortschritt nicht mehr mit kam, mit den Erwartungen der Menschen. Und Fortschritt, das war das primäre Setzen auf Vernunft und Zahlenspiele. Auf Wissenschaft und Ökonomisierung. Wer da nicht mittat, galt als Idiot und Sektierer, als „unwissenschaftlich“, eine Bezeichnung, die damals noch ein schweres Vergehen ausdrücken sollte.
Vorglühen durch Egoisten
So sei er eben, der Mensch, ein Triebtier, nicht anders als andere Primaten, der sich seine Willensfreiheit nur einredet. So tönte es von den Elfenbeintürmen einer neuen Spezies von Überfliegern, den Hirnforschern, die auf einmal in einem eigenwilligen Hype nicht nur erklären mussten, was Denken und Willensfreiheit ist und dass man Moral vergessen kann, sondern irgendwie zu allem und jedem befragt wurden. Nun war alles Trieb und von Naturgesetzen bestimmt, ins gleiche Horn tuteten danach andere Biologisten, vor allem jene, die sich mit Evolutuionisbiologie befasst waren.
So sei er eben, der Mensch, ein Homo Oeconomicus, jemand der seinen Verstand nur benutzt, um sich im ewig egoistischen Kampf der Gene Vorteile zu verschaffen. Ein Dogma, versehen mit harten Attacken gegen alle Formen der Religion und der „Unvernunft“. Dass diese hart atheistische Linie in Amerika ihrer Ausgangspunkt nahm, konnte man noch verstehen, da Kreationisten und ultrareligiöse Kräfte dort einen ganz anderen Einfluss hatten, aber bei uns?
Dass die Botschaft auch hier ankam, geht zu einem Teil auf das Abwehrgefecht zurück, in dem die „vernünftige“ Weltsicht sich befand, denn bei uns lebten die religiösen Gruppen, die schleichend an Bedeutung verloren neben anderen Gruppen, die sich für das Thema eher am Rande interessierten – die einen waren eben gläubig, die anderen nicht – und man ging in friedlicher Ignoranz seiner Wege.
Das Internet ist ein neuer Seismograph für gesellschaftliche Veränderungen und hier war die wachsende Aggression früh zu merken. Denn das world wide web ist eben nicht eine nur virtuelle Realität, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Das ist eine eher unterkomplexe Betrachtung von Wirklichkeit. Sie folgt aber einer Vorstellung, die tief in uns verwurzelt ist und die deshalb selten reflektiert wird. Weil ja jeder weiß, mithin, zu wissen glaubt, wie es in Wirklichkeit ist.
Unsere Vorstellung von Wirklichkeit und Wahrheit ist ungefähr die, dass es einerseits reale Geschehnisse in der Welt gibt und auf der anderen Seite Meinungen und Ansichten über diese Realität, die man damit, wenn die Vorstellungen mit der Realität übereinstimmen, richtig erklärt und dann, wenn man sie richtig erklärt auch Erfolg hat. Verfehlt man die Wahrheit, hat man keinen Erfolg.
So ist die Lesart eines Weltbildes, dass von sich behauptet primär vernünftig zu sein und die Welt als große, „gut geölte Maschine“ deutet. Alle Zahnräder greifen naturgesetzlich ineinander und wer die Wirklichkeit versteht und respektiert, dem geht es gut. Es kommt also auf den Betreffenden selbst an und in dieser stillen Allianz von Wissenschaft und Technik, hatte sogar noch die Religion Platz, wenigstens die calvinistischen Teile der evangelischen Variante, alle glaubten gemeinsam an den Fortschritt. Und Fortschritt hieß das Verstehen des großen Räderwerks. Das stimmte in dieser Eingleisigkeit nie, aber es gab eine breite gesellschaftliche Einigung darüber, dass es so sei.
Ernsthafte Gegenentwürfe zu diesem Weltbild gab es zwei:
- Die Welt der Religionen
Zum einen die religiöse Welt, die in Europa auf einem absteigenden Ast, aber immer noch einflussreich war. Hier geht es nicht nur um Vernunft, sondern um einen Glauben und damit langfristige Überzeugungen, die neuen Hochrechnungen trotzen. Man kann das Gesamtphänomen unmöglich in wenigen Zeilen abhandeln, aber oft waren es auch religiöse Stimmen, die sich kritisch gegen die Allianz aus Wissenschaft und Ökonomie stellten.
- Ein empfindsamer Pluralismus
Die andere einflussreiche Seite der Kritik, die mit Religion oft wenig am Hut hatte oder ihr sogar feindlich gegenüber stand war ein empfindsamer Pluralismus, dem die Religion zu rückwärtsgewandt und die Welt der Vernunft zu kalt, hart und berechnend war. Ein kühler, instrumenteller Funktionalismus, der alles auf Brauchbarkeit und Verkäuflichkeit abklopfte und der den Nutzen zum obersten Prinzip erhob, so lautete die Kritik. Die pluralistische Bewegung sagt, dass wir, um in einer lebenswerten und letztlich auch reicheren, bunteren Welt zu leben auch jene Menschen beachten müssen, die keine Leistungsträger sind. Diese Bewegung ist im Auftrag der Gleichberechtigung unterwegs, setzt auf Menschlichkeit und Rücksicht gegenüber Schwachen, anders Denkenden und Lebenden, den Tieren und der Umwelt.
Langsam, still und leise übernahm diese Lesart in den letzten 50 Jahren die Deutungshoheit und das tat dem Land im Grunde sehr gut. Leider dann irgendwann in einem Ausmaß, das Vielfach das Unterste nach oben kehrte, so dass viele Menschen die Orientierung verloren.
Das Internet ist irgendwie der dritte, praktische Gegenentwurf, denn es ist als ein virtueller Baustein längst Teil der Lebenswirklichkeit, zig fach am Tag, für sehr viele Menschen. Es ist keine Ideologie oder ein Glaubensbekenntnis, sondern die Abstimmung mit den Füßen, oder besser, den Daumen.
Wer sind eigentlich wir?
Es geht uns immer besser, hören wir jahraus, jahrein. Dann kommen die Zahlen und die beeindrucken. Dass es uns wirklich immer besser geht, besagen sie. Dass wir immer mehr Geld haben. Die Kritiker sagen, es sei aber auch alles sehr viel teurer geworden. Darauf wird entgegnet, man müsse letztlich die Kaufkraft vergleichen. Und die bedeutet: Wie lange musste man durchschnittlich arbeiten, um einen Liter Milch, ein Kilo Brot oder einen Kleiderschrank zu erarbeiten? Und da zeigt sich, zwischen 1950 und 2009 ist die Kaufkraft gestiegen.
Wie lange halten die Dinge oder wann muss ich das ganze Gerät austauschen, weil die Buchse der neuen Tastatur nicht mehr in den Computer passt und der alte Computer oder Fernseher mit den Softwareneuerungen überfordert ist, obwohl er noch funktioniert? Was ist mit Strom, Wasser, Benzin, Versicherungen, medizinischen Kosten, wie den Zähnen, die man früher noch von der Kasse bezahlt bekam, heute muss man selbst zahlen oder kann diverse Zusatzversicherungen abschließen, die zuweilen auch nicht billig sind. Brillen, Putzfrau, die fast schon obligatorische Nachhilfe für die Kinder oder Artikel für die Pflege alter Menschen, die man nicht ins Heim geben möchte. Ein Paket Windelhosen ist nicht günstig und wahrlich kein Luxusartikel.
Die Lebensbedingungen haben sich geändert, aber mehr noch, das Lebensgefühl. Aus der Aufbruchstimmung der Wirtschaftswunderjahre und den sozialen Revolutionen der 68er Bewegung ist eine merkwürdige Erstarrung geworden. Ein an sich zufriedenes Völkchen, das niemandem mehr weh tun wollte und beim Sommermärchen von 2006 der Welt auch noch bewies, dass Deutschland nicht nur arbeiten, sondern auch feiern kann.
Daneben sei Deutschland vom kranken Mann Europas zu dessen Zugpferd geworden. Durch die Agenda 2010. Für die einen die wirtschaftspolitische Offenbarung, für die anderen der sozialdemokratische Sündenfall. Trotz des ökonomischen Aufschwungs urteilte die englische Times 2014, wie das Migazin referiert, Deutschland sei erneut der kranke Mann Europas:
„Der Kommentator beschrieb, die Deutschen ruhten sich auf ihren Erfolgen aus und merkten nicht, dass die Zeit und die Entwicklung an ihnen vorbeiziehe. Sie seien reformfaul, bekämen viel zu wenig Kinder, durch ihren Wohlstand und die Überalterung seien sie selbstzufrieden und träge, die Teilung der Gesellschaft und die soziale Ungleichheit nähmen immer stärkere Ausmaße an. Der Staat investiere nicht, sondern konsumiere nur. Das alles müsse im Desaster enden.“[1]
Aber ist das wirklich neu, dass die einen es eben so und die anderen anders sehen?
Wahrheit und Fake news

Trist, aber oft auch schön und beschaulich: die Provinz. © Thomas Kohler under cc
Es ist seit Jahren bekannt, dass man ein und dieselben Daten, denen oft schon zu unrecht unterstellt wird, es seien Fakten von Relevanz, die keinen Widerspruch duldeten, so und so interpretieren kann, eine Turnübung, die man in der Flut besserer und schlechterer Talkshows mehrmals pro Woche erleben kann, wenn man will.
Aber was ist nun die Wahrheit? Dass es uns gut geht? In Deutschland und Europa sowieso, weltweit aber auch? Wie kann es zu dieser immensen Schere der Deutung kommen, zwischen einem unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang und einer Welt, die nie so frei und gut war, wie heute?
Das eine ist die Statistik, dass andere die Einzelfälle. Der Vorteil ist, dass die kulturelle Identität auch dann, wenn man nicht so ganz dazu gehört, stabilisierend wirken kann. Umso problematischer, wenn man sich nicht zugehörig fühlt, sondern an den Rand gedrängt und ausgegrenzt:
- Da ist die alleinerziehende Mutter, die, weil sie möchte, dass es ihrem Kind gut geht, arbeitet, für Nachhilfe, Kindermädchen und schicke Klamotten sorgt, gleichzeitig aber noch die einzige Tochter einer dementen Mutter ist, die sie nicht im Stich lassen will. Freizeit, Privatleben?
- Da ist die Lebensrealität der deutschen Provinz. Der Provinzbegriff ist, wie vieles, sehr relativ, aber die größere Zahl der Menschen wohnt eher in Kleinstädten ländlichen Regionen und das Leben in den Großstädten und Ballungszentren ist auch nicht 24/7 flirrend und elektrisierend. Aber dort in der Provinz spielen anderen Themen eine Rolle als im medial aufgeheizten Berlin. Und wir werden am Ende sehen, dass der vermeintliche Nachteile oft gar keiner ist.
- Da ist der Migrant der dritten Generation, der perfekt Deutsch spricht und integriert ist, aber das Gefühl hat eben nicht dazu zu gehören, wobei er die stillschweigend geforderten Bedingungen alle erfüllt hat. Seine Arbeit ist erledigt, trotzdem hat er das Gefühl abgelehnt zu werden. Oft nicht zu unrecht.
- Da ist die Durchschnittsfamilie, der Paradefall der deutschen Lebensart, die, wenn es um das Thema Rente geht, Sorgenfalten auf der Stirn bekommt. Wird schon, einfach nicht drüber nachdenken, Vertrauen haben?
- Da sind jene Ostdeutschen, die das Gefühl haben, von den blühenden Landschaften nicht so viel mitbekommen zu haben, nie viel Solidarität erfuhren, sich nun aber selbst solidarisch zeigen sollen.
- Da ist die junge Geisteswissenschaftlerin, mit toller Qualifikation, die in Praktika und schlecht bezahlten, befristeten Verträgen in einer Dauerwarteschleife angekommen ist und nach und nach verheizt wird.
- Da ist der spezialisierte Ingenieur, dessen Firma eine Sparte einfach schließt und der nun schon so alt ist, dass er für andere Firmen, die ihre spezialisierten Mitarbeiter suchen, nicht mehr attraktiv ist.
- Da ist der Hartz 4 Empfänger der Arbeit sucht und in demütigender Weise jeden Mist annehmen muss und dessen Neigungen, Stärken und Wünsche bei dem Spiel einfach nicht interessieren.
- Da ist der Maurer, der jetzt schon kaputt ist und sich fragt, wie er die letzten Jahre bis zur Rente, ohne große Abzüge zu bekommen, durchhalten soll.
Alles nur oberflächliche Skizzen von Einzelfällen, aber diese Einzelfälle werden mehr und ihre Stimmung wird schlechter, weil die Aussichten nicht rosig sind. Wenn die Erfolgsmeldungen der immer besseren, reicheren, gebildeteren, gerechteren Welt in zu große Diskrepanz zu den Alltagserfahrungen gerät, wird man irgendwann misstrauisch. Statistisch gesehen werden wir immer älter, reicher, glücklicher, gebildeter und haben obendrein noch so viel Zeit wie nie. Schöner kann es nicht nicht sein, in der Welt der Zahlen.
Das kaputte Wir ist jener Teil von uns, der empfindet, dass wir immer gehetzter sind, Familienplanung schwer ist, weil befristete Arbeitsverhältnisse keine Sicherheit bieten. Jener Teil des sich im unausgesetzten Konkurrenzkampf befindet, wenn er nicht resigniert hat, der über das Thema Rente lieber nicht nachdenkt oder es sind jene Alten, die Angst davor haben ein Pflegefall zu werden. Aus eigene Motiven und weil sie ihren Kindern nicht zur Last fallen wollen.
Der sichere Arbeitsplatz ist heute längst Geschichte, denn wenn früher ganze Generationen Kruppianer oder dergleichen waren und es sicher war, dass man, einmal dort, den Arbeitsplatz bis zur Rente behielt, so kann es heute schnell passieren, dass selbst Big Player Stellen abbauen, im großen Stile umstruktutieren und ganze Sparten schließen. Dazu kommt, dass man das Gefühl hat, dass man viele Probleme nicht los wird.
Längst überwunden geglaubte Themen verfolgen uns erneut oder immer noch. Der kalte Krieg, Religionskonflikte, die Angst vor Terror, innerer Sicherheit und der Klimawandel. Krebs und Herz-/Kreislauferkrankungen sind keinesfalls besiegt, bei den Seuchen meint man, sie könnten wieder kommen und die nächste Generation wird es in sehr vielen Fällen nicht besser haben, sondern ziemlich sicher schlechter dran sein, in den Vereinigten Staaten sinkt sogar die Lebenserwartung wieder. Eine rosige Zukunft sieht anders aus.
In diesem Klima ist die Einstellung „Nach mir die Sintflut“ gar nicht schlecht, zumindest um selbst mit diesen Aussichten klar zu kommen. Psychisch ist es allemal besser, ein klares und erreichbares Ziel vor Augen zu haben, statt den Status Quo verbissen und ängstlich zu verteidigen. Das kaputte Wir ist jener Teil von uns, dem es tatsächlich nicht besser geht und der mit den kollektiven Erfolgsmeldungen nichts anfangen kann und sich eher sogar noch betrogen fühlt. Doch das vermutlich alles überragende Thema ist derzeit ein anderes:
Gerechtigkeit
Das kaputte Wir ist zu einem sehr großen Teil eine Folge empfundener Ungerechtigkeit. Dabei geht es gar nicht darum ob man selbst zufrieden ist, denn das sind sehr viele, an ihnen nagt viel mehr die Idee, dass sie in einer ungerechten Gesellschaft leben. Wir sind nämlich gar nicht so egoistisch, desinteressiert und bösartig, wie man zuweilen hört, wir sind nicht primär egoistisch, sondern ultrakooperativ.
Besser als Menschen zu erklären, wie sie zu denken und zu fühlen haben und ihnen dann vorzurechnen, dass sie falsch empfinden, ist es, sie nach ihrer Vorstellungen zu fragen. Das wurde in der Studie gemacht, die dem oben verlinkten Artikel zugrunde liegt. Ergebnis: Den weitaus meisten Befragten geht es gut, dennoch haben sie das Gefühl in einer ungerechten Gesellschaft zu leben und das finden sie nicht gut. Doch Gerechtigkeit ist keine Gleichmacherei, auch nicht in den Augen der Befragten:
„Denn offenbar verstehen viele Angehörige der sogenannten Generation Mitte unter sozialer Gerechtigkeit und dem Weg dorthin etwas anderes als die Linke und die linken Flügel von SPD und Grünen. Deren klassisches Rezept lautet: Nehmt den Reichen und gebt es den Armen. Doch das ist für die Befragten offenbar nicht das Mittel der Wahl für eine gerechtere Gesellschaft.“[2]
Genau hier ist das Problem, denn mehr Mitgefühl mit den sozial Schwachen würde helfen. Das ist aber bei den Befragten nicht erwünscht. Ihre Ansicht ist, dass Leistung sich lohnen muss und dass unterschiedliche Leistungen auch spürbar werden sollten. Zudem glauben die meisten, dass sich Arbeit lohnen muss und man davon leben können sollte. Das scheint ein typisch menschlicher Punkt zu sein und ich glaube er wäre in Praxis umsetzbar.
Typisch menschlich ist die Entwicklung Trittbrettfahrer abzuhalten. Typisch menschlich deshalb, weil es den Menschen von seinen Primatenverwandten unterscheidet, die Trittbrettfahrer agieren lässt.[3] Mit Trittbrettfahrer ist hier jemand gemeint, der zum Beispiel bei der Jagd keine Rolle gespielt hat, aber Nahrung beansprucht. Schimpansen lassen Trittbrettfahrer gewähren, die Menschen nicht. Sie setzen auf Partnerschaften, die sich aus den Fähigkeiten und Eigenschaften bei der Nahrungssuche ergaben, das sind die Fähigkeiten zur Kooperation, zum Teilen und eine gewisse Impulskontrolle. Sie reagieren vor allem allergisch darauf, wenn jemand nicht teilt oder Trittbrettfahrer ist und nicht mit macht, aber Ansprüche stellt.
Das ist tief in uns verwurzelt und wir mögen es auch dann nicht, wenn es uns selbst gut geht. Von vielen Menschen die Sozialleistungen empfangen nehmen wir an, dass sie Trittbrettfahrer seien, das heißt, wir haben die Idee, dass sie können, aber nicht wollen. Zweitens, kommt hinzu, dass wir uns mit den Armen nicht solidarisieren, aus eigener Abstiegsangst. Wenn man die Idee hat, dass die anderen etwas falsch gemacht haben, als sie abrutschten kann man sich immer noch einreden, dass man selbst pfiffiger ist. Das Gefühl, dass es jeden treffen kann, macht mich ohnmächtiger, eine Variante, die man nicht so gerne wählt.
Der Abstand zwischen denen, die für ihr Geld arbeiten und denen, die das nicht tun, soll sichtbar und deutlich bleiben. Offenbar ist das Gefühl, dass jemand einfach „nur so“ etwas bekommt, schwerer zu ertragen, als das Gefühl, dass jemand zu viel bekommt, auch wenn das die meisten auch nicht lustig finden. Wenn Michael Tomasello, mit seiner, von zahlreichen empirischen Studien unterfütterten These in seinem Buch „Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral“ recht hat, dann ist der Mensch nicht dagegen, dass die Ärmeren mehr bekommen, weil er egoistisch und unsolidarisch ist, sondern, weil er gerecht ist und Unfairness nicht ausstehen kann.
Es ist schwer zu vermitteln, dass jemand jeden Tag für ein karges Gehalt arbeiten geht, während ein anderer fürs Nichtstun einen ähnlichen Betrag erhält. Hier ist auch der Vergleich unmittelbarer, während jemand der in drei Stunden mehr verdient als andere in einem Monat irgendwie in einer anderen Liga spielt.
Solidarität

Rechte Protestdemos verängstigen viele. © opposition24.de under cc
Doch die Entsolidarisierung ist falsch. Wir müssen uns zumuten zu erkennen, dass viele Menschen unverschuldet in prekären oder annähernd prekären Verhältnissen leben. Es ist die Angst richtig hinzuschauen und zu erkennen, dass es jeden treffen kann, oft auch unverschuldet, etwa wenn man vom Partner verlassen wird, die Firma pleite macht, man körperlich oder psychisch erkrankt, weil man den Druck nicht mehr aushält. Das kann einen alles schneller treffen, als einem lieb ist, unverschuldet.
Auch wenn man meint, dass Leistung sich lohnen sollte, muss man sich dennoch fragen, was Leistung heißt. Es gibt zwei Extreme. Das eine ist, dass es hoch- und niederwertige Arbeit gibt und dass der, der mehr verdient, es zurecht tut, weil er mehr verdient. Doch diese Begründung ist zirkulär. Hochwertigkeit definiert den Lohn und der die Hochwertigkeit. Das andere Extrem stammt von Marx, der sagt, dass eine Stunde Arbeit eine Stunde Arbeit und damit Lebenszeit ist, egal ob man die Straße fegt oder eine komplizierte Operation am Herzen durchführt. Das Gegenargument ist hier oft das der Qualität, dadurch definiert, dass die Straße im Zweifel jeder fegen kann (auch der Operateur), aber der Straßenfeger kann nicht operieren. Auf der anderen Seite, sollte doch im idealen Fall jeder machen, was ihm liegt und dafür muss man nicht noch bestraft werden.
Das allgemeine Empfinden fängt das insofern auf, als wir sowohl Fleiß, aber auch Talent oft belohnen und das in den meisten Fällen einigermaßen fair finden. Doch Leistungen sind es auch, Kinder groß zu ziehen, die Eltern zu pflegen oder ein guter Freund und für andere da zu sein, Geld gibt es dafür nicht, aber immerhin Anerkennung, auch dafür tun wir viel.
Der springende Punkt scheint zu sein, dass man einen genügend großen Abstand zwischen denen, die arbeiten und jenen, die das nicht tun, beibehält und den Teil in uns, der keine Trittbrettfahrer mag, zu besänftigen. Auf der anderen Seite hörte ich schon vor Jahren von einer Untersuchung eines Psychologen aus den USA (ich glaube, es war Michael Stone) der herausfand, dass Menschen, die von Sozialhilfe leben sich dann motiviert fühlen zu arbeiten, wenn sie das 1,5-fache dessen durch ihre Arbeit bekommen, was sie aus der Sozialhilfe erhalten. Beide Aspekte passen ganz gut zusammen, weil der monetäre Anreiz dafür sorgen wird viele in Arbeit zu bringen, die könnten, aber nicht wollen und das sollte uns auf der andere Seite dazu bringen uns stärker mit denen zu solidarisieren, die tatsächlich nicht können. Sie brauchen unsere Hilfe und die Ansicht, dass der Wert einer Gesellschaft sich daran bemisst, wie es den Schwächsten in ihr geht, ist meines Erachtens nicht der schlechteste Ansatz.
Ein anderes Argument ist das Bürgergeld oder bedingungslose Grundeinkommen. Oft wird diskutiert, wie und ob das finanzierbar sei und ob die Menschen dann noch arbeiten gehen würden und in der Tat gibt es hier mehr berechtigte Detailfragen, als den Befürwortern lieb sein kann. Moralisch setzt das Grundeinkommen aber auch an einer hohen Stelle an, nämlich bei der Vorstellung, dass wir Menschen ein würdevolles Leben ermöglichen können sollten, in dem sie nicht nur eben überleben, sondern an der Kultur noch teilhaben können. Hier wird der Wert eines Menschen auch monetär dargestellt und ausgezeichnet, aber diese an sich schöne Lesart hat das Problem, dass nicht alle dieses Empfunden teilen und es oft so empfunden wird, als würde davon die Falschen profitieren. Die Schweizer haben in einer Volksabstimmung das Grundeinkommen abgelehnt.
Es gibt ein ganzes Bündel von Gründen, warum das so ist, aber alles in allem kann man sagen, dass die linken Bewegungen heute zahnlos geworden sind. Die Grünen haben den Durchmarsch von der Turnschuhpartei bis ins Establishment geschafft, die Agenda 2010 der SPD ist bei den sozial Schwachen durchgefallen und die Linkspartei konnte nie davon profitieren, dass Deutschland ungerechter wird.
Protest ist heute rechts
Den Protest übernehmen heute rechte Bewegungen, die viele Ressentiments aufgreifen und das Establishment und die Eliten frontal angreifen. Sie haben den Vorteil, dass sie oft nicht zu den Eliten gehören oder wenn, dann den Elefanten im Porzellanladen geben. Provozieren, anecken, Grenzen überschreiten, so machen es alle Protestparteien. Sie sind erfolgreich, weil sie einerseits die Ressentiments der „kleinen Leute“ auffangen, die sehr genau wissen, wer mit ihnen um sozialen Wohnraum, Geld und Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsektor konkurriert und andererseits einen Schuldigen für diese Misere anbieten, die Eliten des Landes.
Elite ist dabei zu einem Begriff verkommen, von Leuten, die sich die eigenen Taschen vollstopfen, während sie sich für die Sorgen und Nöte der kleinen Leute nicht nur nicht interessiert, sondern ihnen auch noch moralische Vorhaltungen macht. Das macht viele richtig wütend und es schließt die Reihen, denn wenn sich jemand nur oft genug in die rechte Ecke gesteckt wiederfindet, obwohl er so nie empfunden hat, sondern sich einfach übergangen fühlt, sagt er sich beim fünften Mal vielleicht: „Dann bin ich eben rechts.“
Damit ist man dann aber wer, sogar jemand der einigen Einfluss hat, einfach dadurch, dass man dazu gehört und den Etablierten, die nicht wissen, wie sie damit umgehen sollten vor allem Angst machen kann. Andere gehen an das Phänomen ganz taktisch heran. Sie teilen die Ideen der Rechten zwar nicht, haben aber gemerkt, dass sonstige Versuche zu protestieren und Gehör zu finden, folgenlos verpufften. Wer rechts ist hat auf einmal wie Identität. Wird von jemandem der sich nicht wahrgenommen fühlte zu jemandem, der wenigstens gefürchtet wird.
Wer das versteht, versteht auch, wieso sich einige Migranten der dritten Generation radikalisieren. Die haben doch hier alles, statt dankbar zu sein, werden sie irre, ist die allgemeine Ansicht. Und auch vor ihnen hat man Angst und auch sie beachtet man erst in ihrer neuen Rolle. Vorher erfüllte man brav die Regeln der Gesellschaft, hatte aber dennoch das Gefühl nicht dazu zu gehören, weil man Ausländern oder Moslem ist. „Dann bin ich eben Islamist.“ Islamisten und Rechte drehen die Bedeutung um, manchen aus dem einstigen Makel eine Auszeichnung, vermischen dies mit Elementen der Jugend- und Subkultur, hier Hooligans, dort Rapper und beide können ausgezeichnet die neuen Medien nutzen. Das was man all die Jahre abgesprochen bekam oder noch suchte, hat man jetzt: Eine Identität, eine soziale Rolle.
Entsolidarisierung schafft eine Identität
Damit ist es nicht nur so, dass Solidarität eine Identität und ein Wir schafft, sondern der einfachere und prägnantere Weg ist, sich zu entsolidarisieren. Wer hat sich denn all die Jahre für uns interessiert? Woher kommt auf einmal das Geld, was für uns angeblich nie da war, aber dann sprudelt, wenn es um Bankenrettung, Griechenland oder Flüchtlinge geht? Jahrelang war man einer von vielen, die nicht weiter auffielen, die man vergessen hatte, von denen man auch nichts wissen wollte. Wendeverlierer, Prekariat, sozial Abgehängte, die ihrerseits dem Staat längst gekündigt hatten und einfach nicht wählen gingen und irgendwie ihr eigenes Leben lebten. Abgehängt, vergessen, verleugnet.
Aus mitunter verständlichen Frust und Wut erwächst ein neues Gefühl, wenn man wieder eine neue Identität hat. Aus Ohnmacht wird im Handumdrehen Macht. Man muss nicht mal auf die Straße gehen, Protest kann heute auch von PC aus passieren. Hatespeech, Hassmails, das kommt umso mehr an, je abstoßender es ist und es hat sich irgendwie längst verselbstständigt. Der Wunsch nach Aufmerksamkeit und das Wissen darum, wie bequem es mitunter ist, sie zu bekommen ist längst Teil unserer kulturellen Gewohnheiten. Nein, das Internet ist gewiss keine Parallelwelt, kein Abklatsch der Realität irgendwo das draußen, die virtuelle Welt ist längst Teil der Realität und sich hier auszutauschen ist nicht weniger real oder emotional aufwühlend, wie eine Begegnung in der realen Welt, die stets auch mit Elementen der Phantasie durchsetzt ist.
Wahrheit und Fake news II

Mit etwas Abstand sieht vieles gleich anders aus. © Ingo Bäuerlein under cc
Wir tun jetzt einfach das, was die anderen schon die ganze Zeit tun: Lügen! Fake, Lüge, Elite, wumm! Alles kommunikative Killerbegriffe mit denen man raus ist. Raus aus der Aufmerksamkeit, aus dem Diskurs. Wenn es im regressiven Trudel überhaupt noch um Diskurs geht. Nicht was wurde gesagt und wie ist das Argument, sondern: Wer sagt es? Und wenn es jemand von den üblichen Verdächtigen sagt, ist im Messe gelesen, man dreht sich um und winkt ab, weil es eben aus der Lügenpresse oder von der Elite geäußert wurde und man überzeugt ist, dass die ohnehin nur Lügen um das Volk zu manipulieren. Alle Bausteine, aus welcher Ecke auch immer, werden gerne als Bestätigung genommen, manchmal sogar besonders gerne wenn es aus der vermeintlich anderen politischen Ecke kommt. Denn man selbst ist ja angeblich rechts, komisch, wenn die Linken genau dasselbe sagen. Da siehst man es wieder, wo tatsächlich gelogen und manipuliert wird.
Hier ist man weniger ideologisch, als viel mehr sauer, mindestens auf Seiten der Anhänger, die sich gar nicht als rechts empfinden und ohne größere Bauchschmerzen auch schon mal das Lager wechseln oder Versatzstücke mehrerer Ideologen, die nach klassischer Lesart eigentlich überhaupt nicht zusammen passen, kombinieren. Man will sich gar nicht unbedingt vor einen ideologischen Karren spannen lassen, man ist einfach nur sauer. Genauer gesagt gibt es vermutlich einen breiten Mix an Motiven, von Menschen die einfach nur auffallen wollen, zu solchen, die eine echte politische Agenda haben, zu einigen, die Spaß am Krawall haben und wieder anderen die wirklich was bewegen wollen, solche die eine Identität suchen und andere die sich taktisch anschließen. So schillernd und bunt die Motive, so vielfältig auch die ideologischen Versatzstücke und so bizarr der Mix an Personen, die oft gesittet, bieder und telegen daherkommen.
Wir sind das Volk?
Die „Wir sind das Volk“ Rufer wissen vermutlich, dass sie es nicht sind. Aber das stört sie nicht, denn was sie eigentlich sagen wollen, ist, dass auch sie eine Stimme haben und vor allem, dass die anderen, von denen sich sich abgrenzen, es mit Sicherheit auch nicht sind, das Volk. Nun ist der Begriff Volk stets verfehlt, weil er suggeriert, dass es eine homogene Einheit gibt, die weitgehend dasselbe denkt, fühlt und will und das ist eben nicht der Fall. Näheres dazu in: Der gesunde Menschenverstand.
Ein Volk sind wir gerade nicht und könnten es nur in Phasen einer noch tiefer gehenden Regression sein. Regression ist ein Massenphänomen bei dem komplexe Sachverhalte und Fragen „gelöst“ oder besser gesagt umschifft werden, indem man suggeriert, es gebe auf alles stets ganz einfache Antworten. Wer etwas anderes behauptet, ist schon Feind, will um den heißen Brei schleichen, wo doch alles ganz einfach ist. Das ist Regression.
Wer hat es gesagt, wird wichtig als die Frage, was gesagt wurde und dann wird versucht herauszufinden, welchen Interessen derjenige wohl nachgeht. Das ist gar nicht schlecht, aber wenn es nur dazu führt den anderen diese und jene Interessen zu unterstellen, weil er einer bestimmten Gruppe angehört, bekommt das oft eine paranoide Komponente. Es wird geargwöhnt, dass jeder der Mitglied der Kirche, der Grünen oder jeder Journalist einer stillen Agenda folgt, weil man nicht mehr soweit kommt, zu erkennen, dass es hinter einer Gruppenzugehörigkeit noch eine eigene, individuelle Identität gibt, die sich mit der Gruppenidentität mal mehr, mal weniger überschneidet. Die Regression zeichnet aus, dass diese tiefere individuelle Identität verleugnet wird und man hört diesen Stimmen auch nicht zu. Es gibt nur: Freund oder Feind?
Uns geht es gut, weil die Zahlen es belegen und Zahlen bekanntlich nicht lügen? Zahlen können nicht nur so und anders, manchmal konträr, interpretiert werden, was sie natürlich auch werden, sondern schon die Erhebung von Daten, aus denen dann Zahlen werden ist immer ein Akt der Vorselektion. Die Erhebung von Daten ist alles andere als eine neutraler Akt und es ist eine Kunst für sich, all die Fallen und Irrtümer zu umgehen wenn man tatsächlich an einer seriösen Erfassung interessiert ist, da lautet der Teufel oft mehr im Detail als einem lieb sein kann, auch wenn man nicht tricksen will. Wenn man es will, gibt es kaum etwas Besseres, als mit vermeintlich neutralen Fakten, Daten und Zahlen um die Ecke zu kommen.
Das kaputte Wir
Das kaputte Wir kommt durch die Bündelung all dieser Faktoren zustande. Wir zerfallen in diverse Splitter von Interessengruppierungen und Menschen, die von diesem Land die Nase gestrichen voll haben. Das konnte insofern ignoriert werden, weil diejenigen die sich nicht mehr gemeint fühlten einfach schwiegen. Sie hatten keine Stimme, keine Lobby man konnte sie gut vergessen, auch, weil es nicht so viele waren. Doch die Zahl der insgesamt Unzufriedenen ist gewachsen, ihre Stimme ist lauter geworden, seit sie merken, dass der Protest von rechts viel ernster genommen wird, als der von links, der schon irgendwie eingepreist war. Teils kommen sogar ehemalige Nichtwähler zurück.
Man konnte all das ignorieren weil es in Deutschland eine satte und zufriedene Mittelschicht gab. Und was nun genau die Mittelschicht definiert ist unklar. Doch seit Jahren schrumpft die Mittelschicht, von 1997 bis 2012 um 5,5 Millionen Menschen oder von 65 auf 58% wie der Deutschlandfunk berichtet. Die Faktoren bleiben die gleichen: Abstiegsangst, Unsicherheit, Zeitverträge.
Das kaputte Wir liegt zersplittert vor uns, gehalten nur durch wechselseitiges Misstrauen und wachsende Verachtung. Dass wir kein Volk sind, ist nicht tragisch, aber auch eine Gesellschaft, die es schafft heterogene Wünsche und Elemente auf der Basis gemeinsamer Grundwerte, Grundinteressen, stiller Übereinkünfte zu vereinen sind wir momentan eher nicht. Das ist tragisch. Sich die Welt schön zu reden ist keine Lösung.
Sogar die Kaufkraft sinkt, nach neuesten Untersuchungen, viel mehr in westdeutschen Städten als in der ostdeutschen Provinz. Regression ist gefährlich und führt zu nichts. Sie stärkt fundamentalistische Gruppen und erzeugt paranoide Gegenreaktionen des Staates. Die Regression endet in der Reorganisation, allerdings auf niederem Niveau, bei dem komplexe Individuen auf einzelne Merkmale reduziert werden. So weit sollten wir es nicht kommen lassen, weil das Deutschland in dem man gut leben konnte, vielen noch in Erinnerung ist. Es waren eher die 1970er, vielleicht von Mitte der 60er bis in die Mitte der 80er. Dass man dann wenigstens deutsch ist, ist die Reduzierung der eigenen Identität auf ein Merkmal, doch auch wenn man mehr als nur Deutsch ist, kann man sein Land lieben und gerne hier leben. Dass wir alle Menschen sind, ist die Erweiterung des nationalen Chauvinismus zu einer universalen Menschenwürde, die in unserem Grundgesetz an zentraler Stelle steht.
Es ist zu billig alles dem Neoliberalismus in die Schuhe zu schieben oder zu sagen, dass alle Deutschen rechts seien und alle Migranten Terroristen. Unser Gerechtigkeitsempfinden ist gestört, nicht weil der Mensch im Kern boshaft, missgünstig und egoistisch ist, sondern fair und gerecht. Dass der Untertanengeist abgelegt wird, ist sicher nicht schlecht, aber nur ein erster Schritt. Protest ist immer leicht, die Neuschaffung schwer. Es ist etwas faul im Staate Deutschland, das stimmt. Oder man in mag oder nicht, ich glaube, der rechte Protest hat mehr Menschen aufgeweckt, als all die Jahre ritualisierter Reden von sozialer Gerechtigkeit. Zu billig dürfen wir uns jedoch nicht abspeisen lassen.
Das kaputte Wir muss zu einem neuen Mosaik zusammen gesetzt werden, und wenn die Wirtschaft nicht diktieren soll, wie das neue Bild zukünftig aussieht, müssen wir das tun. Wo also soll die Reise hingehen, wie überwinden die das „wir gegen die“, in all den vielen Spielarten als Alt und Jung, Deutsch und Migrant, Mann und Frau, Religiöse und Atheisten, Arm und Reich. Schwarz und weiß hilft bei der Neuerschaffung nicht, sondern Kreativität und guter Wille, reife Individuen, die eine Meinung haben und klar sagen, was sie wollen und was nicht. Menschen, die sich wieder trauen auch Grenzen zu setzten, aber, solche die für alle verbindlich sind und auf die sie sich auch selbst verpflichten lassen. Menschen die teilen, kooperieren und ihre egoistischen Impulse zu beherrschen lernen, wie damals in der Steppe.
Quellen:
- [1] Tobias Busch, 2014, http://www.migazin.de/2014/10/27/deutschland-als-kranker-mann-europas/
- [2] Florian Diekmann, 2016, http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/soziale-gerechtigkeit-generation-zwiespalt-umfrage-unter-30-bis-59-jaehrigen-a-1111306.html
- [3] Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, Suhrkamp 2016, S. 97