Wahrheit und Fake news II
Wir tun jetzt einfach das, was die anderen schon die ganze Zeit tun: Lügen! Fake, Lüge, Elite, wumm! Alles kommunikative Killerbegriffe mit denen man raus ist. Raus aus der Aufmerksamkeit, aus dem Diskurs. Wenn es im regressiven Trudel überhaupt noch um Diskurs geht. Nicht was wurde gesagt und wie ist das Argument, sondern: Wer sagt es? Und wenn es jemand von den üblichen Verdächtigen sagt, ist im Messe gelesen, man dreht sich um und winkt ab, weil es eben aus der Lügenpresse oder von der Elite geäußert wurde und man überzeugt ist, dass die ohnehin nur Lügen um das Volk zu manipulieren. Alle Bausteine, aus welcher Ecke auch immer, werden gerne als Bestätigung genommen, manchmal sogar besonders gerne wenn es aus der vermeintlich anderen politischen Ecke kommt. Denn man selbst ist ja angeblich rechts, komisch, wenn die Linken genau dasselbe sagen. Da siehst man es wieder, wo tatsächlich gelogen und manipuliert wird.
Hier ist man weniger ideologisch, als viel mehr sauer, mindestens auf Seiten der Anhänger, die sich gar nicht als rechts empfinden und ohne größere Bauchschmerzen auch schon mal das Lager wechseln oder Versatzstücke mehrerer Ideologen, die nach klassischer Lesart eigentlich überhaupt nicht zusammen passen, kombinieren. Man will sich gar nicht unbedingt vor einen ideologischen Karren spannen lassen, man ist einfach nur sauer. Genauer gesagt gibt es vermutlich einen breiten Mix an Motiven, von Menschen die einfach nur auffallen wollen, zu solchen, die eine echte politische Agenda haben, zu einigen, die Spaß am Krawall haben und wieder anderen die wirklich was bewegen wollen, solche die eine Identität suchen und andere die sich taktisch anschließen. So schillernd und bunt die Motive, so vielfältig auch die ideologischen Versatzstücke und so bizarr der Mix an Personen, die oft gesittet, bieder und telegen daherkommen.
Wir sind das Volk?
Die „Wir sind das Volk“ Rufer wissen vermutlich, dass sie es nicht sind. Aber das stört sie nicht, denn was sie eigentlich sagen wollen, ist, dass auch sie eine Stimme haben und vor allem, dass die anderen, von denen sich sich abgrenzen, es mit Sicherheit auch nicht sind, das Volk. Nun ist der Begriff Volk stets verfehlt, weil er suggeriert, dass es eine homogene Einheit gibt, die weitgehend dasselbe denkt, fühlt und will und das ist eben nicht der Fall. Näheres dazu in: Der gesunde Menschenverstand.
Ein Volk sind wir gerade nicht und könnten es nur in Phasen einer noch tiefer gehenden Regression sein. Regression ist ein Massenphänomen bei dem komplexe Sachverhalte und Fragen „gelöst“ oder besser gesagt umschifft werden, indem man suggeriert, es gebe auf alles stets ganz einfache Antworten. Wer etwas anderes behauptet, ist schon Feind, will um den heißen Brei schleichen, wo doch alles ganz einfach ist. Das ist Regression.
Wer hat es gesagt, wird wichtig als die Frage, was gesagt wurde und dann wird versucht herauszufinden, welchen Interessen derjenige wohl nachgeht. Das ist gar nicht schlecht, aber wenn es nur dazu führt den anderen diese und jene Interessen zu unterstellen, weil er einer bestimmten Gruppe angehört, bekommt das oft eine paranoide Komponente. Es wird geargwöhnt, dass jeder der Mitglied der Kirche, der Grünen oder jeder Journalist einer stillen Agenda folgt, weil man nicht mehr soweit kommt, zu erkennen, dass es hinter einer Gruppenzugehörigkeit noch eine eigene, individuelle Identität gibt, die sich mit der Gruppenidentität mal mehr, mal weniger überschneidet. Die Regression zeichnet aus, dass diese tiefere individuelle Identität verleugnet wird und man hört diesen Stimmen auch nicht zu. Es gibt nur: Freund oder Feind?
Uns geht es gut, weil die Zahlen es belegen und Zahlen bekanntlich nicht lügen? Zahlen können nicht nur so und anders, manchmal konträr, interpretiert werden, was sie natürlich auch werden, sondern schon die Erhebung von Daten, aus denen dann Zahlen werden ist immer ein Akt der Vorselektion. Die Erhebung von Daten ist alles andere als eine neutraler Akt und es ist eine Kunst für sich, all die Fallen und Irrtümer zu umgehen wenn man tatsächlich an einer seriösen Erfassung interessiert ist, da lautet der Teufel oft mehr im Detail als einem lieb sein kann, auch wenn man nicht tricksen will. Wenn man es will, gibt es kaum etwas Besseres, als mit vermeintlich neutralen Fakten, Daten und Zahlen um die Ecke zu kommen.
Das kaputte Wir
Das kaputte Wir kommt durch die Bündelung all dieser Faktoren zustande. Wir zerfallen in diverse Splitter von Interessengruppierungen und Menschen, die von diesem Land die Nase gestrichen voll haben. Das konnte insofern ignoriert werden, weil diejenigen die sich nicht mehr gemeint fühlten einfach schwiegen. Sie hatten keine Stimme, keine Lobby man konnte sie gut vergessen, auch, weil es nicht so viele waren. Doch die Zahl der insgesamt Unzufriedenen ist gewachsen, ihre Stimme ist lauter geworden, seit sie merken, dass der Protest von rechts viel ernster genommen wird, als der von links, der schon irgendwie eingepreist war. Teils kommen sogar ehemalige Nichtwähler zurück.
Man konnte all das ignorieren weil es in Deutschland eine satte und zufriedene Mittelschicht gab. Und was nun genau die Mittelschicht definiert ist unklar. Doch seit Jahren schrumpft die Mittelschicht, von 1997 bis 2012 um 5,5 Millionen Menschen oder von 65 auf 58% wie der Deutschlandfunk berichtet. Die Faktoren bleiben die gleichen: Abstiegsangst, Unsicherheit, Zeitverträge.
Das kaputte Wir liegt zersplittert vor uns, gehalten nur durch wechselseitiges Misstrauen und wachsende Verachtung. Dass wir kein Volk sind, ist nicht tragisch, aber auch eine Gesellschaft, die es schafft heterogene Wünsche und Elemente auf der Basis gemeinsamer Grundwerte, Grundinteressen, stiller Übereinkünfte zu vereinen sind wir momentan eher nicht. Das ist tragisch. Sich die Welt schön zu reden ist keine Lösung.
Sogar die Kaufkraft sinkt, nach neuesten Untersuchungen, viel mehr in westdeutschen Städten als in der ostdeutschen Provinz. Regression ist gefährlich und führt zu nichts. Sie stärkt fundamentalistische Gruppen und erzeugt paranoide Gegenreaktionen des Staates. Die Regression endet in der Reorganisation, allerdings auf niederem Niveau, bei dem komplexe Individuen auf einzelne Merkmale reduziert werden. So weit sollten wir es nicht kommen lassen, weil das Deutschland in dem man gut leben konnte, vielen noch in Erinnerung ist. Es waren eher die 1970er, vielleicht von Mitte der 60er bis in die Mitte der 80er. Dass man dann wenigstens deutsch ist, ist die Reduzierung der eigenen Identität auf ein Merkmal, doch auch wenn man mehr als nur Deutsch ist, kann man sein Land lieben und gerne hier leben. Dass wir alle Menschen sind, ist die Erweiterung des nationalen Chauvinismus zu einer universalen Menschenwürde, die in unserem Grundgesetz an zentraler Stelle steht.
Es ist zu billig alles dem Neoliberalismus in die Schuhe zu schieben oder zu sagen, dass alle Deutschen rechts seien und alle Migranten Terroristen. Unser Gerechtigkeitsempfinden ist gestört, nicht weil der Mensch im Kern boshaft, missgünstig und egoistisch ist, sondern fair und gerecht. Dass der Untertanengeist abgelegt wird, ist sicher nicht schlecht, aber nur ein erster Schritt. Protest ist immer leicht, die Neuschaffung schwer. Es ist etwas faul im Staate Deutschland, das stimmt. Oder man in mag oder nicht, ich glaube, der rechte Protest hat mehr Menschen aufgeweckt, als all die Jahre ritualisierter Reden von sozialer Gerechtigkeit. Zu billig dürfen wir uns jedoch nicht abspeisen lassen.
Das kaputte Wir muss zu einem neuen Mosaik zusammen gesetzt werden, und wenn die Wirtschaft nicht diktieren soll, wie das neue Bild zukünftig aussieht, müssen wir das tun. Wo also soll die Reise hingehen, wie überwinden die das „wir gegen die“, in all den vielen Spielarten als Alt und Jung, Deutsch und Migrant, Mann und Frau, Religiöse und Atheisten, Arm und Reich. Schwarz und weiß hilft bei der Neuerschaffung nicht, sondern Kreativität und guter Wille, reife Individuen, die eine Meinung haben und klar sagen, was sie wollen und was nicht. Menschen, die sich wieder trauen auch Grenzen zu setzten, aber, solche die für alle verbindlich sind und auf die sie sich auch selbst verpflichten lassen. Menschen die teilen, kooperieren und ihre egoistischen Impulse zu beherrschen lernen, wie damals in der Steppe.
Quellen:
- [1] Tobias Busch, 2014, http://www.migazin.de/2014/10/27/deutschland-als-kranker-mann-europas/
- [2] Florian Diekmann, 2016, http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/soziale-gerechtigkeit-generation-zwiespalt-umfrage-unter-30-bis-59-jaehrigen-a-1111306.html
- [3] Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, Suhrkamp 2016, S. 97