- Die Welt der Religionen
Zum einen die religiöse Welt, die in Europa auf einem absteigenden Ast, aber immer noch einflussreich war. Hier geht es nicht nur um Vernunft, sondern um einen Glauben und damit langfristige Überzeugungen, die neuen Hochrechnungen trotzen. Man kann das Gesamtphänomen unmöglich in wenigen Zeilen abhandeln, aber oft waren es auch religiöse Stimmen, die sich kritisch gegen die Allianz aus Wissenschaft und Ökonomie stellten.
- Ein empfindsamer Pluralismus
Die andere einflussreiche Seite der Kritik, die mit Religion oft wenig am Hut hatte oder ihr sogar feindlich gegenüber stand war ein empfindsamer Pluralismus, dem die Religion zu rückwärtsgewandt und die Welt der Vernunft zu kalt, hart und berechnend war. Ein kühler, instrumenteller Funktionalismus, der alles auf Brauchbarkeit und Verkäuflichkeit abklopfte und der den Nutzen zum obersten Prinzip erhob, so lautete die Kritik. Die pluralistische Bewegung sagt, dass wir, um in einer lebenswerten und letztlich auch reicheren, bunteren Welt zu leben auch jene Menschen beachten müssen, die keine Leistungsträger sind. Diese Bewegung ist im Auftrag der Gleichberechtigung unterwegs, setzt auf Menschlichkeit und Rücksicht gegenüber Schwachen, anders Denkenden und Lebenden, den Tieren und der Umwelt.
Langsam, still und leise übernahm diese Lesart in den letzten 50 Jahren die Deutungshoheit und das tat dem Land im Grunde sehr gut. Leider dann irgendwann in einem Ausmaß, das Vielfach das Unterste nach oben kehrte, so dass viele Menschen die Orientierung verloren.
Das Internet ist irgendwie der dritte, praktische Gegenentwurf, denn es ist als ein virtueller Baustein längst Teil der Lebenswirklichkeit, zig fach am Tag, für sehr viele Menschen. Es ist keine Ideologie oder ein Glaubensbekenntnis, sondern die Abstimmung mit den Füßen, oder besser, den Daumen.
Wer sind eigentlich wir?
Es geht uns immer besser, hören wir jahraus, jahrein. Dann kommen die Zahlen und die beeindrucken. Dass es uns wirklich immer besser geht, besagen sie. Dass wir immer mehr Geld haben. Die Kritiker sagen, es sei aber auch alles sehr viel teurer geworden. Darauf wird entgegnet, man müsse letztlich die Kaufkraft vergleichen. Und die bedeutet: Wie lange musste man durchschnittlich arbeiten, um einen Liter Milch, ein Kilo Brot oder einen Kleiderschrank zu erarbeiten? Und da zeigt sich, zwischen 1950 und 2009 ist die Kaufkraft gestiegen.
Wie lange halten die Dinge oder wann muss ich das ganze Gerät austauschen, weil die Buchse der neuen Tastatur nicht mehr in den Computer passt und der alte Computer oder Fernseher mit den Softwareneuerungen überfordert ist, obwohl er noch funktioniert? Was ist mit Strom, Wasser, Benzin, Versicherungen, medizinischen Kosten, wie den Zähnen, die man früher noch von der Kasse bezahlt bekam, heute muss man selbst zahlen oder kann diverse Zusatzversicherungen abschließen, die zuweilen auch nicht billig sind. Brillen, Putzfrau, die fast schon obligatorische Nachhilfe für die Kinder oder Artikel für die Pflege alter Menschen, die man nicht ins Heim geben möchte. Ein Paket Windelhosen ist nicht günstig und wahrlich kein Luxusartikel.
Die Lebensbedingungen haben sich geändert, aber mehr noch, das Lebensgefühl. Aus der Aufbruchstimmung der Wirtschaftswunderjahre und den sozialen Revolutionen der 68er Bewegung ist eine merkwürdige Erstarrung geworden. Ein an sich zufriedenes Völkchen, das niemandem mehr weh tun wollte und beim Sommermärchen von 2006 der Welt auch noch bewies, dass Deutschland nicht nur arbeiten, sondern auch feiern kann.
Daneben sei Deutschland vom kranken Mann Europas zu dessen Zugpferd geworden. Durch die Agenda 2010. Für die einen die wirtschaftspolitische Offenbarung, für die anderen der sozialdemokratische Sündenfall. Trotz des ökonomischen Aufschwungs urteilte die englische Times 2014, wie das Migazin referiert, Deutschland sei erneut der kranke Mann Europas:
„Der Kommentator beschrieb, die Deutschen ruhten sich auf ihren Erfolgen aus und merkten nicht, dass die Zeit und die Entwicklung an ihnen vorbeiziehe. Sie seien reformfaul, bekämen viel zu wenig Kinder, durch ihren Wohlstand und die Überalterung seien sie selbstzufrieden und träge, die Teilung der Gesellschaft und die soziale Ungleichheit nähmen immer stärkere Ausmaße an. Der Staat investiere nicht, sondern konsumiere nur. Das alles müsse im Desaster enden.“[1]
Aber ist das wirklich neu, dass die einen es eben so und die anderen anders sehen?