Verkannt oder verrannt?

Dass wir heute reihenweise falsche Umkehrschlüsse vorfinden, liegt an etwas schrägen gesellschaftlichen Entwicklungen. Da ist zum einen der Hype um Hochbegabung, sozusagen der Vorstufe zum Genie. Jedes Gezappel und jede Lernstörung wird gerne als Indikator für Hochbegabung angesehen und dann wird solange getestet, bis irgendwer dem Kind eine Hochbegabung bescheinigt. Kann man das noch als alberne Marotte abtun, so ist in dem Fall der Umkehrschluss wirklich mal interessant. Warum muss denn jedes Kind heute auch noch hochbegabt sein? Warum schaffen wir es nicht ein Kind zu lieben, das einfach im besten Sinne normal ist?

Ich haben schon vor Jahren mit einer Frau gesprochen, die eine Hochbegabtenschule besucht hat und sie erzählte mir, dass es früher eine Rarität war, dass Eltern mit ihren Kindern kamen, nun würden sie Schlange stehen und weit über 90 % würden wieder nach Hause geschickt. Ebenfalls vor einigen Jahren sprach ich mit einem Professor für Mathematik, der Autor renommierter Bücher aus dem Fach war und berichtete, dass alle paar Wochen jemand zu ihnen an die Uni gekommen sei, der meinte, eine ganz neue, andere, bessere Mathematik gefunden zu haben und in nahezu allen Fällen hätten diese Menschen einige einfache Aspekte übersehen oder fehlgedeutet, ließen sich jedoch nicht wieder von ihrem Irrtum abbringen.

Aber es gibt auch die andere Seite, bei der von merkwürdigen Teilbegabungen die Rede ist. Der Neuropsychologe Oliver Sacks hat in seiner Geschichte der Primzahlzwillinge aus „Der Mann der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, beobachtet, dass Zwillinge, die mit niemandem kommunzierten, sich selbst Zahlen zuriefen. Für alle Beobachter war das einfach nur wirr, für Sacks ein Grund der Sache nachzugehen und er fand heraus, dass die Zwillinge unglaublich große Primzahlen austauschten. Er lernte einige andere Primzahlen auswendig, rief sie den Zwillingen zu und durfte daraufhin „mitspielen“.

Primzahlen sind auch das Stichwort zu einer anderen Erfahrung. Der Chemiker, Apotheker und Zahlentheoretiker Peter Plichta hat mit seinen Büchern über das Primzahlkreuz einen sehr eigenwilligen Ansatz gewählt. Ich hatte vor Jahren die Möglichkeit mit jemandem zu sprechen, der aus mehreren Gründen mit am besten beurteilen kann, ob an Plichtas mathematischem Ansatz etwas dran ist und er beantwortete meine Frage erst ausweichend und dann klar und knapp mit: „Ja!“.

Ist das Genie glücklicher als andere?

Tannen und Berg im Nebel

Das Terrain, in denen das Genie sich bewegt, ist oft so unzugänglich wie faszinierend. Morgennebel im Gebirge von Caspar David Friedrich under gemeinfrei

Manche sind verkannt, krank, einsam, andere werden sich, wie manche Exzentriker, mit dem Leben arrangiert haben. Vielleicht hängt es auch von dem Bereich ab, indem die Genieleistung auftritt. Im logisch-mathematischen Bereich ein Genie zu sein, hat statistisch vielleicht eine etwas höhere Unglücksprognose, das Musikgenie kann durchaus glücklich sein, auch wenn man generell konstatieren muss, dass eine Vielzahl von Höchstleistungen aus allen Bereichen von Menschen kommt, die psychisch als angeschlagen oder krank galten.

Wenn Genies zu Weisen werden, erkennen sie glaube ich, dass das wahre Glück in eher kleinen Dingen und Momenten liegt. Solchen, die wir auf den ersten Blick vielleicht geringschätzen würden. Und noch eine analoge Bewegung gibt es. Man weiß nicht genau, was spirituelle Genies ausmacht, aber nicht selten steht ihr Genie mit erschütternden Ereignissen, oft in Todesnähe, im Zusammenhang und eine wesentliche Erkennntnis des spirituellen Genies ist, als Lebender im Leibe zu sterben. Danach ist alles anders, man schätzt das Kleine und die Kluft zwischen dem Genie und der Welt wird geringer. Denkend oder meditierend kommt man zur selben Einsicht, dass die Symmetrie, das gleiche Recht für alle, wesentlich ist. Kant hat das klar erkannt, ebenso der Mahayana-Buddhismus.

Es ist reizvoll, die Welt aus einer exklusiven Warte zu sehen, gewiss, aber mindestens die spirituellen Genies kehren alle zurück. Entweder wird, wie bei Meister Eckehart das scheinbar Banale gewürdigt.[4] In der östlichen Mystik versucht man polar dazu, das vermeintlich Besondere zu erden, nicht so wichtig zu nehmen. Das Genie weiß, dass es erhebend ist, über das nur Alltägliche hinaus zu gelangen in Sphären, wo kaum jemand wandelt. Doch auch der Alltag ist nicht langweilig, sondern voller Rätsel und Wunder, überall gibt es etwas zu entdecken, eine Brücke, über die manche Genies in unser aller Leben zurückkommen, aus Einsicht.

Der Mahayana-Buddhismus fragt, wie es sein kann, dass man in der Einheit allen Seins lebt, wenn es einen Rest von unerleuchteten Menschen gibt. Epikur fragt, wie man glücklich sein kann, wenn es den Freunden schlecht geht. Kant sagt, dass wir nicht wollen können, weil es nicht vernünftig und gerecht ist, dass Bedingungen, die für den einen gelten, nicht auch für alle anderen gelten. Wenn es dem Genie gelingt, dass das Band zwischen ihm und der alltäglichen Welt nicht reißt, kann es in der Welt glücklich sein und beglückend wirken, was für beide Seiten ein Gewinn ist.

Quellen:

  • [1] Douglas Hofstadter & Emanuel Sander, Die Analogie – Das Herz des Denkens, Klett-Cotta 2014, S. 662
  • [2] Douglas Hofstadter & Emanuel Sander, Die Analogie – Das Herz des Denkens, Klett-Cotta 2014, S. 599f
  • [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Genie#Der_Geniebegriff_heute
  • [4] Vergleiche hierzu die deutsche Predigt: Intravit Jesusu in quoddam castellum, von Meister Eckehart