Ob die Psyche den Körper heilen kann, fragten wir und die Individuations-Therapie macht den Auftakt zu einigen Antwortversuchen. Ihr Begründer Klaus Ulbrich ist in der Szene ein eher ungewöhnlicher Vertreter. Der kaufmännische Geschäftsführer eines Instituts der technologischen Spitzenforschung ist bereits beruflich etabliert und das parallele Interesse an psychologischen Themen ist in diesem Umfeld nicht eben selbstverständlich, auch nicht die Breite seines Interesses. Der diplomierte Verwaltungs- und -betriebswirt ist offen, aber pragmatisch: „Es muss funktionieren.“ Den letzten Anstoß zur eigenen Aktivität gab ihm eine Erkrankung im engsten familiären Umfeld.
Eine schulmedizinischen Behandlungsversuchen widerstehende Allergie eines sehr nahen Menschen behinderte damals die Genesung einer schweren Erkrankung, was die Not noch einmal vergrößerte. Nach vorherigen guten Erfahrungen bekam er in dieser Situation aus dem Familienkreis den Hinweis auf einen renommierten Hypnotherapeuten, dem es gelang, in kürzester Zeit die Allergie zu beseitigen, wodurch die Therapie der Grunderkrankung in vollem Umfang und letztlich erfolgreich fortgesetzt werden konnte. Das faszinierte Klaus Ulbrich, das wollte er lernen und verstehen und er hospitierte in der Folge bei dem Hypnoherapeuten und erlernte dessen Verfahren.
Doch bei aller Offenheit und Zielstrebigkeit ist er nicht unkritisch. Er erblickte die Stärken des Verfahrens, sah aber auch einige Schwächen. Ein schlagendes Beispiel war für ihn ein Raucher, der zur Entwöhnung kam, sich vor der Hypnose-Sitzung eine Zigarette ansteckte und unmittelbar danach gleich die nächste. Ich fragte ihn, was er denn anders macht und die Antwort kam, wie aus der Pistole geschossen: „Ich beziehe das Bewusstsein mit ein.“ Wer sich bei ihm versucht das Rauchen abzugewöhnen, darf erst mal drei Tage nicht rauchen, um die Bereitwilligkeit, den bewussten Willen, zu unterstreichen, was naturgemäß den Suchtdruck erhöht. Denn dann erlebt der Klient viel überzeugender, dass sich in ihm tatsächlich etwas ändert, wenn sich der Suchtdruck durch die Sitzung von dem nahezu unwiderstehlichen Verlangen (vorher) zu einem widerstehbaren Verlangen (nachher) verringert und er diese bewusste Erfahrung sofort mitnehmen und integrieren kann.
Die Individuation
Individuation ist ein Begriff aus der analytischen Psychotherapie von C.G. Jung und bezeichnet dort die Selbstwerdung oder auch Selbstverwirklichung. Der Mensch ist für Jung zunächst ein Rollenspieler oder Maskenträger. Denn die Persona, ist wörtlich die Maske und meint bei Jung zugleich einen Menschen, der noch nicht individuiert ist. Was ihm fehlt ist die Integration der unbewussten Seite, der Schatten und erst beide zusammen ergeben das ganze Ich. Doch es wäre ein Missverständnis, wenn man den Schatten einfach als etwas ansieht, von dem man nichts weiß. Die unbewussten Anteile in allen tiefenpsychologischen Konzepten, sind nicht nur etwas, was man irgendwie vergessen hat, sondern sie bekommen ihre besondere Relevanz dadurch, dass sie weiterhin wirken und sogar umso mehr, je unbewusster sie sind. Der Schatten ist hochaktiv und es gilt, ihn zu sehen, zu verstehen und anzugliedern, mit dem Ziel bewusst und verantwortungsvoll mit diesen Bereichen umzugehen, statt sie zu projizieren.
Obendrein ist das Ziel freier und im besten Sinne ungehemmter, ungezwungener zu werden, sich oder sein Selbst zu verwirklichen. Klaus Ulbrich bezeichnet seine Individuations-Therapie als ein eklektisches Verfahren, was meint, dass es aus verschiedenster Versatzstücken besteht, die vor allem auch die Selbstregulation des Körpers und der Psyche mitberücksichtigen. Der Hypnoseexperte Milton Erickson, der Nobelpreisträger Manfred Eigen, Ordnungstheoretiker Herrmann Haken, sind neben der Autosystemhypnose nach Götz Renartz, der Bewusstseinsentwicklung nach David Hawkins sowie der Bio-Psychosynthese nach Roberto Assagioli und der Kinesiologie weitere Elemente, die in das Gesamtkonzept einfließen.
Hypnose klingt nach der Ausschaltung des Bewusstseins, doch das ist hier nicht der Fall. Ulbrich benutzt die Trance auch diagnostisch. „Man kann sich auch irren“, sagte er, während er einen Fall schildert. Er sei sich nach einem Vorgespräch zunächst ziemlich sicher gewesen, dass bei einem Mann, der viel Anerkennung brauchte, die er sich über exzessiven Sport besorgte, der ihm inzwischen psychosomatische Herzprobleme bereitete, der frühe Tod des Vaters das ausschlaggebende Ereignis gewesen sei. Doch bei der hypnoanalytischen Suche per idiomotorischer Fingerbewegung konnte dies nicht bestätigt werden. Weitere Nachfragen an das Unterbewusste ergaben jedoch, dass der Klient eine Frühgeburt war und hier lag therapeutisch der Hund begraben, so dass der Fall von hier aus behandelt und schließlich gelöst werden konnte.
Um die Asymmetrie abzubauen werden weitere Elemente verwendet, eines ist, dass der Therapeut mit in Trance geht. Im bewussten und halbbewussten Bereich befinden sich Klient und Therapeut somit auf Augenhöhe, des weiteren ist es so, dass heute, wie eben erläutert, Hypnose und Elemente der Psychoanalyse zur sogenannten Hypnoanalyse verbunden werden, wie Klaus Ulbrich hier in einem Radiointerview erläutert.
Freiheit
Die Individuations-Therapie deutet im namentlichen Bezug schon an, dass Freiheit in ihr ein wesentliches Element ist. Freiheit und das, was sie behindert, Emotionen, die den Elementen Schutz, Schuld, Wut oder Strafe zugeordnet werden können. Im Gespräch bekommt die Freiheit eine Farbe zugeordnet und zwar jene, die dem Klienten dazu spontan in den Sinn kommt. Der Klient wird nun aufgefordert zu spüren, wo er die Freiheit schon wahrnehmen kann, wo die Farbe sich problemlos ausbreitet – und wo noch nicht. Dort sind die Blockaden zu finden und dort gilt es herauszufinden, welchen Charakter und Inhalt sie im Einzelfall haben.
Es gibt keine zwei gleichen Menschen, demzufolge ist die Individuations-Therapie individuell, dynamisch und beleuchtet die jeweils andere Seite einer Deutung, die der Klient vielleicht bislang als negativ erachtete. Ein Mensch der sich nicht immer im Griff hat, wird nicht verurteilt, sondern ihm wird erklärt, dass sein starker Antrieb, die Energie und der Wille etwas sind, mit dem man prima arbeiten kann. Aufrufe zur Mäßigung und Anklagen haben solche Menschen schon reichlich gehört, doch selten, dass ihr Sosein immer auch gute Seiten hat. Das ist mehr als bloße Rhetorik, wie wir in Die Lebensbilanz: Gelungen oder missraten? ebenfalls darstellten und umgekehrt haben auch Vorsicht und Zögerlichkeit Licht- und Schattenseiten.
So bedeuten auch Umformulierungen nicht nur nette Worte für weniger nette Erfahrungen zu finden, sondern sie setzen alte Erfahrungen und Skripte ins Licht neuer Kontexte und Erkenntnisse. Das umso mehr, als die Bedeutung die die Sprache für uns hat, immer klarer in Erscheinung tritt. Wir sind Wesen in einer primär durch Sprache konstituierten Welt, der Glaube, dass Begriffe nur Etiketten sind, die man auf Gegenstände oder Ereignisse klebt, ist längst Schnee von gestern. Das Gehirn des Menschen war früher größer, die Menschen geschickter und in jeder Hinsicht körperlich leistungsfähiger und doch war besonders die Sprache ein in der Evolution zugeschalteter Turbo, der mit unverminderter Kraft läuft und sich obendrein entwickelt. Und erst die Entwicklung der Sprache, hin zu einer, die Möglichkeitsformen beinhaltet, vermag es, dass der Mensch zu Fragen wie „Was könnte sein?“ und „Was wäre gewesen?“ durchdringt.
Imagination
Ist Bewusstsein das eine Element, so ist es doch nicht alles. Seit Sigmund Freud ist die Psychotherapie, auch dort, wo sie nicht explizit freudianisch ist, in einem hohen Maße auf die bewusste Erkenntnis und Realität fokussiert. Das zwar mit einigem Recht, doch auf der anderen Seite gibt es immer wieder Indizien dafür, dass auch Methoden, die mit der Umgehung des Bewusstsein arbeiten, mit Bildern, Imaginationen, Emotionen, wie EMDR oder Imaginationstherapien ihre Berechtigung haben.
So ist auch die andere Seite der Individuations-Therapie das Setzen von Bildern und direkten Erfahrungen. Therapie ist immer auch das Öffnen von Fenstern, um Menschen neue Möglichkeiten und Ausblicke zur Verfügung zu stellen, ihnen zu zeigen, was es da sonst noch gibt. Die Erfahrung bei der Arbeit mit Imaginationen ist insofern interessant, als Bilder ein sehr direkter Ausdruck von Emotionen sind. Bilder drücken Emotionen aus und lassen uns Emotionen erleben, je plastischer und realer sie sind, umso mehr nehmen sie Erfahrungen vorweg und schaffen damit andere Möglichkeitsräume und Realitäten.
Was muss der Patient mitbringen?
„Den Willen mitzuarbeiten.“ Therapie bedeutet nie, sich hinzusetzen und dem Therapeuten zu sagen: „Dann zeigen sie mal, was sie können.“ Das ist eine falsche Anspruchshaltung. Therapie ist immer Teamwork und der Therapeut hilft dem Klienten, die Bereiche und Zusammenhänge zu sehen, die er vorher, aus was für Gründen auch immer, nicht sehen konnte. Wenn dem Patienten im Laufe der Zeit dämmert, dass er das, was er hier gesehen und mitgenommen hat im Zweifel ja auch alleine kann, so ist das nicht ärgerlich, sondern das Ziel. Und so ist der Wille zur Freiheit und Unabhängigkeit, die nicht mit Rücksichtslosigkeit verwechselt werden darf, zugleich Element als auch Ziel der Therapie.
Seine Lebenserfahrungen wird man nicht los, es geht auch nicht darum Erlebtes umzuschreiben oder schönzureden, sondern damit ausgesöhnt zu sein. Auch bei traumatischen Erfahrungen in der Kindheit kann das gelingen, so Klaus Ulbrich, wenn einem bewusst wird, dass der andere zu jenem Zeitpunkt auch nicht anders konnte. Das Ziel ist mehr Freiheit und die ist möglich, dennoch sollte man nicht verkennen, dass jemand oft umso determinierter, festgelegter ist, je unreifer er ist. Gelingt dies, so kann man verzeihen. Kinder in Ohnmachtssituationen neigen oft dazu, sich auch dann noch, wenn sie später erwachsen sind die Schuld für das Verhalten anderer zu geben, was zur Folge hat, dass die unbewusste Bearbeitung oft im Wiederholungszwang ein ums andere mal reinszeniert wird. Die Quelle jenes Ereignisses zu finden, bewusst zu machen und zu verarbeiten, auch indem man sich bewusst macht, dass man heute kein kleines Kind mehr ist und sich auch anders verhalten kann, ist ein wesentliches hypnotherapeutisches Element um Wiederholungszwänge zu durchbrechen.
Diese umfassen mitunter auch generationenübergreifende Muster, wie bei dem Fall einer attraktiven, dominanten aber auch selbstdestruktiven Klientin, die sich zu noch dominanteren Männern hingezogen fühlte, was schön war, solange alles gut ging und oft im Fiasko endete, sobald die Liebe verflogen war. Schon die Mutter der Frau erlebte in ihrer Kindheit eine Situation zwischen Lust und Schuld und zog daraus die Lehre, dass man Männer kontrollieren müsse, eine Botschaft die sie, bewusst oder unbewusst, an die Tochter weitergab, samt dem Gefühl des Versagens, wenn die Kontrolle, mal wieder, misslang. In diesem Fall wurde der bewusste Anteil der Psyche angesprochen, indem Ulbrich erläuterte, wie sie ihre gefühlte Schuld dadurch verringern wollte, dass sie versuchte immer dominantere Männer zu kontrollieren.
Um welche Krankheiten geht es?
Analog zur Psychosomatik geht auch die Individuations-Therapie davon aus, dass Krankheiten, wenigstens anteilig, kein Zufall sind, sondern eine Funktion und damit auch eine Botschaft haben. Sie sind ein manifester Ausdruck des Schattens. Erkennt an diesen, seine Botschaft und gelingt es sie auf anderem Wege umzusetzen, zu leben, macht man Krankheitssymptome nicht unmöglich, sondern überflüssig. Dieser Ansatz funktioniert zu gut, um ihn nicht ernst zu nehmen und in der nächsten Ausgabe dieser Reihe werden wir diskutieren, warum er funktioniert.
Neben den schon erwähnten Allergien und weiteren Autoimmunerkrankungen und der Raucherentwöhnung ist das Verfahren bei Verhaltensabweichungen wie Bettnässen, Nägelkauen, bestimmten Zwängen, Süchten und Psychoneurosen gut geeignet, auch bei Übergewicht, Ängsten, der posttraumatischen Belastungsstörung und Blockaden diverser Art. Auch bei klassisch psychosomatischen Symptomen wie Reizdarm, Morbus Crohn, Hypertonie, Schlafstörungen und Schmerzen verspricht Ulbrich sich viel von der Methode. Bei Durchblutungsstörungen wie Morbus Raynaud, bei Krebserkrankungen, Amnesie, der Rehabilitation nach Hirnläsionen. Eher unüblich ist, dass er sein Verfahren auch Schwerstkranken zur Verfügung stellt und seinen Ansatz als Referent einem Palliativnetz im Großraum Hannover vorgestellt hat, wo der Vortrag aufmerksam aufgenommen wurde. Doch die Hypnose in der Palliativmedizin einzusetzen ist tatsächlich ein erfolgversprechender Ansatz, weil er die Situation der Patienten vielfältig verbessern kann.[1] Hier eine schöne und knappe Einführung in die Möglichkeiten der Hypnotherapie in der Palliativmedizin.
Kontraindikationen sind Psychosen, Borderline-Störungen, geistige Behinderungen, Thrombosen und Schwangerschaften und des weiteren im Einzelfall abzuwägen, in Zweifelsfällen in ärztlicher Konsultation, idealerweise bei einem hypnosekundigen Arzt.
Resonanz und Ausblick
Die bisherige Resonanz von Patienten und im regionalen Umfeld ist erfreulich. Ulbrich ist Heilpraktiker für Psychotherapie und ein versierter Referent und präsentiert Therapieelemente zum Anfassen und Mitmachen, so dass die Zuschauer eine direkte Anschauung von Mensch und Methode haben. In mehreren Interviewgesprächen ist mir vor allem aufgefallen, dass er ein begeisterter Mensch ist, der an sich und seine Methode glaubt und die Möglichkeiten von durchaus bewährten Methoden systematisch neu arrangiert, um aus Fehlern zu lernen und neue Bereiche therapeutisch zu erreichen.
Wir werden die Entwicklungen der Ansätze und Verfahren in größeren und unregelmäßigen Abständen weiter verfolgen und ein Update vorlegen. Die Individuations-Therapie macht den Anfang, weil sie den Schritt in die Praxis bereits vollzogen hat und ein kleiner Baustein ist, der mithelfen kann, die noch immer etwas frustrierenden Lücken, auf die uns unsere Leser hinwiesen, ein wenig zu schließen.
Quelle:
- [1] Wolfgang Schulze, Hypnose in der Palliativmedizin, © www.MEG-Stiftung.de 2010, online abrufbar
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