Die Perspektive der Entwicklungspsychologie

Vater mit Sohn auf dem Arm, schwarzweiß

Das Kind findet Schutz und Geborgenheit beim Vater. © Yvette T. under cc

Der Gedanke, eine im besten und nicht im oberflächlichsten Sinne pluralistische Gesellschaft anzustreben, ist nicht verkehrt, sondern gut und richtig. Die gesellschaftliche Linke, die sich das zum größeren Teil auf die Fahnen geschrieben hat, hat keinen Sinn dafür, dass Entwicklung eine stufenweiser Prozess ist und man die Stufen nicht überspringen kann.

Einen Teil des Weges macht aus, dass man lernt, zu gehorchen und sich an Regeln und Wertesysteme anzupassen. Das klingt für unsere Ohren hoch unattraktiv, aber vergessen wir nicht, es ist nur ein Teil des Weges. Und ein anderer Ausdruck für Gehorsam ist eben, sich auf etwas verpflichten zu lassen. Es heißt Verantwortung zu übernehmen. Den Kindern zuzutrauen, die Tür abzuschließen, eine Kleinigkeit einkaufen zu gehen, sie immer mehr am Leben zu beteiligen, ihnen das Vertrauen zu schenken, dass sie das hinbekommen. Wir sagen ihnen, wie es geht und dann lässt man sie machen.

Regeln sind dazu da, dass sie interpretiert werden und irgendwann gibt es andere Interpretationen, neue Wege und Ansätze und es ist gut so. Der bloße Gehorsam geht im besten Fall in die Fähigkeit über, die Regeln, Normen und Anforderung zu prüfen, zu kritisieren, zu durchdenken und infrage zu stellen. Doch von vornherein auf alle Regeln zu verzichten und sich auf nichts festzulegen, bedeutet, nicht in der Lage zu sein Verantwortung zu übernehmen. Ich würde mir nicht die Welt von jemandem erklären lassen, der es nicht schafft eine Zimmerpflanze durchzubringen oder alleine einkaufen zu gehen.

Narzissmus in der Gesellschaft und der Ödipuskomplex

Vielleicht haben Sie bisher den Ödipuskomplex vermisst? Der kommt jetzt ins Spiel. Wir sahen in der letzten Folge, dass die väterliche Autorität für das Kind belastend ist, einengend, aber eben auch verbindlich. Der Vater ist die Autorität für das Kind, an ihm muss das Kind sich abarbeiten und bewähren, mit ihm muss es all die inneren und äußeren Kämpfe ausfechten. Das drückt und es schützt. Es schützt vor den Eindrücken und Einflüsterungen all der anderen Stimmen, die auch weiter gehört werden, aber nur im dominierenden Kontext der väterlichen Interpretation. Ist das gut oder schlecht? Wir scheinen zum ersten Mal in der Geschichte den Ödipuskomplex, dem unterstellt wird ein universaler menschlicher Konflikt zu sein, ein wenig ausgehebelt zu haben und es scheint Gründe dafür zu geben, dass uns das nicht sonderlich gut bekommen ist.

Die Einflüsterungen (oder Anregungen), die nun ungeschützt von allen Seiten auf uns einprasseln, scheinen einen kleinen Teil der Menschen sehr bereichert zu haben, aber möglicherweise haben sie einen größeren Teil verwirrt und verunsichert. Sollte das tatsächlich der Fall sein – und das wäre zu diskutieren – dann wäre eine logische Folge, entweder die ödipale Konfliktsituation wieder zu stärken oder andere Orientierung spendende Strukturen anzubieten oder auszubauen. Das wären Religion, Ideologie und Bürokratie. Alle diese Strukturen haben das Potential gut ud hilfreich zu sein, aber sie alle können auch entarten und das ist das Problem vor dem wir stehen.

Es ist durchaus möglich, dass ein moderates Patriarchat ein größerer Teil der Lösung ist, als bisher angenommen. Jedenfalls scheint eine Entwertung der Vaterrolle und des Mannes mit gravierenden Problemen behaftet zu sein. Zum einen die, die wir im letzten Beitrag vorstellten, zum anderen scheinen Strukturen, die die eigenen Werte und Normen stark hinterfragen und zuweilen entwerten, ein Einfallstor für Beliebigkeiten und narzisstische Pathologien in der Bevölkerung zu sein. Das macht insofern Sinn, als Kriterien der psychischen Normalität, die Kernberg auf der Basis bedeutender anderer Autoren darstellt, auch das Wertesystem, Über-Ich oder Gewissen umfasst:

„Ein dritter Aspekt der normalen Persönlichkeit zeigt sich in einem ausgebildeten und integrierten Über-Ich mit internalisiertem Wertesystem. Dieser Wertekodex muss stabil und auf das Individuum zugeschnitten sein und darf nicht zu stark von unbewussten kindlichen Verboten beeinflusst werden. Eine solche normale Über-Ich-Struktur zeigt sich in dem Gefühl für persönliche Verantwortung und in der Fähigkeit zu realistischer Selbstkritik. Ebenso zählen dazu persönliche Integrität und eine gewisse Flexibilität beim Umgang mit den ethischen Aspekten von Entscheidungen. Ein normal ausgebildetes Über-Ich fühlt sich den Standards, Werten und Idealen seiner Kultur verpflichtet und unterstützt die oben ausgeführten Ich-Funktionen: Vertrauen entwickeln, Gegenseitigkeit anerkennen und tiefgehende Beziehungen zu anderen aufbauen.“[2]

Man kann kritisieren, dass all dies letztlich nur zirkulär ist, aber dann muss man auch konfrontieren, dass uns mehr als willkürliche Setzungen in letzter Konsequenz bisher noch nicht geglückt sind. Wie haben bislang versucht Regeln des guten und richtigen Lebens aus der religiösen Sphäre, aus dem Reich der Natur und dem der Vernunft abzuleiten. Nichts davon konnte alle überzeugen, das geringste Übel scheint zu sein, die Gründe, die man hat, gut und für alle nachvollziehbar zu erklären.

Zum anderen sorgt Verständnis für alle Positionen nicht dafür, dass diejenigen die ich verstehe und toleriere auch mich verstehen und tolerieren. Ins Allgemeine und Politische ausgedehnt, machte Jaques Derrida, der postmoderne Philosoph, auf diesen Zusammenhang aufmerksam:

„In ihrer allgemeinen Form gründet die Aporie, was diesen Punkt angeht, in der Freiheit selbst, in dem Spielraum im Demokratiebegriff: Muss eine Demokratie diejenigen in Freiheit lassen und ihnen die Möglichkeit der Machtausübung belassen, die im Namen der Demokratie und der Mehrheit, die sie voraussichtlich dafür zusammenbringen werden, die demokratischen Freiheiten anzutasten und der demokratischen Freiheit ein Ende zu setzen drohen?“[3]

Einwanderer und Flüchtlinge? Die unerwartete Pointe

Die Ereignisse der Silversternacht in Köln werden kontrovers diskutiert, sie stellen in meinen Augen eine Zäsur dar. Ich hatte mir die ohnehin nicht leichte Aufgabe der Integration anders gewünscht und vorgestellt, aber es bringt meines Erachtens nichts ideologisch an das Thema heranzugehen, sondern man muss die Schwierigkeiten bei der Integration und die Übergriffe offen benennen.

Die mitunter verständlich hochgekochte Stimmung sollte wieder auf ein normales Maß reduziert werden und der Eindruck, dass wir einander etwas zu sagen haben, wieder in den Vordergrund treten. Denn genau das haben wir. Wir müssen nur präzise hinschauen und versuchen, die Polemik zu unterlassen. Insofern gilt es zwei Dinge zu trennen: Die Probleme eines harten Patriarchats oder, wie im letzten Beitrag der Reihe angeklungen, sogar eine sadistische Einstellung, braucht kein Mensch. Willkür, Sadismus, Machtausübung aus Gewohnheitsrecht, nein, das haben wir überwunden und ich glaube so erfolgreich, dass es etwas ist, was wir anderen guten Gewissens erklären können und es lohnt sich, unsere Perspektive anzuhören.

Doch möglicherweise sind wir tatsächlich in unserer Angst und unserer Skepsis gegenüber Autoritäten, ordnenden Strukturen, Vaterfiguren und dem realen Vater zu weit gegangen. Wir finden es gut und richtig vor nichts und niemandem Respekt zu haben erst recht nicht vor einer „natürlichen“ Autorität (die eigentlich eine kulturell erworbene ist), wie vor älteren Menschen, manchmal nicht einmal vor unseren Eltern oder Großeltern. Das ist für Mitglieder eher patriarchal oder paternalistisch geprägter Kulturen extrem schwer zu verstehen und vermutlich auch extrem schwer zu ertragen. Möglicherweise rührt es sogar an unseren eigenen kulturellen Wurzeln, wenn Larry Siedentops Erzählung „Die Erfindung des Individuums: Der Liberalismus und die westliche Welt“ stimmt.

Die Pointe wäre, dass wir trotz aller Probleme, von denen wir inzwischen täglich hören, doch gute Gründe hätten einander anzuhören. Die zurecht geforderte Integration könnte ein Gewinn für beide Seiten sein und kein einseitiger Vortrag über das „richtige Leben“ von „uns“, an „jene“. Mir ist bewusst, dass diese Vorstellung in der aktuellen Lage eine große Herausforderung bedeutet und alles andere als ein Selbstläufer ist. Doch je schneller wir uns trauen auch in diese Richtung zu denken, umso besser kann nach meinem Dafürhalten der Prozess gelingen, der Prozess einer Integration fremder Denk- und Lebensweisen in unsere Kultur und zugleich der Prozess einer Revitalisierung ödipaler Konflikte, deren Abbau durch eine kulturell geschwächte bis entwertete Rolle des Vaters vermutlich schlimmer ist, als das noch immer anstrengende Durchleben der ödipalen Konflikte und des Ödipuskomplexes. Man darf hoffen, ohne zu blauäugig zu sein, auch wenn niemand mehr denkt, dass das alles ein Spaziergang wäre.

Der Narzissmus in der Gesellschaft ist inzwischen möglicherweise die größte Wunde unserer Kultur, weil ihre zersetzende Kraft so groß ist und die Rolle narzisstischer Pathologien zwar in letzter Zeit stärker beleuchtet wird, aber mehr als privates, denn als gesellschaftliches Problem gesehen wird. Wenn wir den Blick erweitern und die Zusammenhänge zwischen dem Individuum und der Gesellschaft erkennen, steigt unsere Chance gegen zu steuern.

Quellen: