graphische Darstellung von Spiral Dynamcis

Spiral Dynamcis, ein System, das Entwicklung abbildet. © Wikimedia Commons under cc

Überleben und Fortpflanzen sind die grundlegenden Triebe der biologischen Evolution. Die Bedürfnisse nach Nahrung, Schutz und Nähe gehören dabei an zentraler Stelle zu diesen Grundbedürfnissen. Menschen mit diesem Weltbild gleichen den Jägern und Sammlern von früher.

Spiral Dynamics

Spiral Dynamics ist eines der vielen Systeme, die versuchen die Stufen der menschlichen Entwicklung einzufangen. Der integrale Denker Ken Wilber hat dieses System übernommen, zuvor sprach er von Entwicklungsdrehpunkten, ein System, das er von den Entwicklungspsychologen Blanck & Blanck übernahm. Der Nestor der schweren Persönlichkeitsstörungen, Otto Kernberg, arbeitet ebenfalls mit einem Stufenmodell, auch der Moralpsychologe Lawrence Kohlberg hat ein solches Stufenmodell entwickelt, weitere Namen aus der Psychologie wären Jean Piaget, Margaret Mahler, Leo Montada, Gertrud Nunner-Winkler, Robert Kegan, Philosophen wie Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel diskutieren diese Systeme und viele der alten Weisheitstraditionen gehen ebenfalls von einem stufenweisen Entwicklungsprozess aus.

Während Kohlberg bestimmte Aspekte der Entwicklung betrachtet, in seinem Fall die Moralentwicklung, geht Spiral Dynamics eher von Durchschnittswerten aus, die unterschiedliche Entwicklungslinien wie Kognition, Emotion, Selbstbild, Ästhetik, Kommunikation und Moral zu einer Art Durchschnitt zusammenfügten, was die komplizierten Wege der Entwicklung einerseits überschaubarer macht, andererseits natürlich unschärfer und weniger individuell wird.

So ist mit den Entwicklungsstufen der Weltbilder einmal ein individueller Prozess gemeint, zum anderen aber auch ein kollektiver, in dem die einzelnen Gemütslagen und Weltbilder typische Stufen überall auf der Welt abzubilden meinen. Eine Sicht die man für eurozentrisch halten kann, aber wir finden zum einen überall auf der Welt die gleichen Basisaffekte und Kernberg formuliert, für das konventionelle Wertemem:

„Es ist berechtigt zu sagen, dass der spezifische Inhalt des Konventionellen durch soziale, politische und ökonomische Faktoren beeinflusst wird: Die Universalität der Struktur der Konventionalität in der Massenkultur jedoch und ihre Attraktivität für die Massen sind nach wie vor erklärungsbedürftig.“[1]

Der Inhalt ist verschieden, die Struktur jedoch überall gleich. Etwas ähnliche bildet sich unter dem Begriff der Achsenzeit ab und bezeichnet das Phänomen, dass in vielen verschiedenen Regionen der Welt nahezu zeitgleich das rationale Mem zum ersten Mal aufkeimte. Doch der Reihe nach:

Überleben ist der höchste Wert

In Spiral Dynamics, aber auch bei Maslows Bedürfnispyramide, doch ebenso in den Vorstellungen biologischer Triebtheorien ist das Überleben ein erster und primärer Trieb, dem alles andere untergeordnet wird. Ist das individuelle Überleben gesichert kommt Nahrung und Schutz ins Spiel. Beispiele dafür gibt es: Wenn Frauen hungern oder magersüchtig werden, setzt oftmals die Periode aus. Es scheint als würde biologisch erst an Fortpflanzung gedacht, wenn das Überleben gesichert ist. Doch ganz so einfach und schematisch scheint es nicht zu sein.

Wir leben heute in Situationen in denen es der Normalfall ist, dass wir für unser unmittelbares Überleben nicht sorgen müssen. In der westlichen Wertehemisphäre ist ausreichend für Nahrung und Schutz gesorgt, wir müssen uns nicht vor dem Wetter, wilden Tieren oder herumziehenden Horden schützen. So findet man in der westlichen Welt ein Weltbild was Überleben im Zentrum hat nur noch in Sondersituationen regressiven Sondersituationen wie Terroranschlägen, Entführungen, bei Obdachlosen am Rande der Gesellschaft, der Massenpanik auf der Duisburger Love Parade oder neuerdings in Teilen des Flüchtlingstreck, der Europa erreicht.

Ist man dann Zeuge solcher Ereignisse passieren eigenartige Dinge. Ein Zeuge, der die Terroranschläge des 11. September aus nächster Nähe erlebte berichtete, wie er um sein Leben rannte und plötzlich das intensive Gefühl hatte, mit der Frau die neben ihm rannte Sex haben zu wollen. Gleichzeitig war ihm die Absurdität dieses Wunsches bewusst, aber während Regressionen kommt es offenbar zu einem emotionalen Gefühlschaos und -cocktail, in dem mehrere Stufen sich vermischen, hier Überleben und Fortpflanzen in direkter Nachbarschaft.

Auch Stanislav Grof, ein transpersonaler Psychologe, beschreibt in „Geburt Tod und Transzendenz. Neue Dimensionen in der Psychologie“ wie Erfahrungen an den existentiellen Randbereichen des Lebens umklappen und ineinanderfließen. Aus Erfahrungen der Enge während des holotropen Atems kann das subjektive Gefühl des Wiedererlebens der eigenen Geburt erwachsen, aber auch eine spirituelle Gipfelerfahrung.

Ein Ereignis und seine Interpretation

Frühmenschen jagen mit Speeren Tiger

Überleben und Fortpflanzen. Urtriebe, die noch in uns sind. © Ben Sutherland under cc

Das regressive Ereignis selbst ist die eine Geschichte, die andere ist seine Verarbeitung. Ein Element was im Grunde für alle Erfahrungen des Lebens gilt nur bei extremen, existentiellen und außergewöhnlichen Erfahrungen wird uns all das noch viel stärker bewusst. Wenn wir einkaufen gehen, ist das für unser Weltbild keine Herausforderung die mit unserem Weltbild kollidiert, wenn wir entführt werden, eine schlimme Diagnose bekommen oder eine spirituelle Erfahrung machen, schon eher. Das Weltbild ist es, was es uns erlaubt einzelne Ereignisse in einen Gesamtkontext einzubetten – oder diesem eben krass widerspricht.

Dann wird das Ereignis selbst zum Testfall für das Weltbild und es besteht die Möglichkeit, dass das Weltbild unter dem Eindruck eines überwältigenden Erlebnisses – oder einer Menge kleinerer Ungereimtheiten – revidiert wird.

Doch hier soll es nicht um das regressive Ereignis gehen, sondern darum, dass, je nach äußerem Bedarf und Anpassung man tatsächlich noch in diesem Weltbild von Überleben und Fortpflanzen als wichtigsten Modi leben kann. Dass erscheint primitiv und ist es auch nach Don Beck, einem der Begründer von Spiral Dynamics. Aber primitiv im Sinne von grundlegend, primär, nicht im abwertenden Sinne von schlicht und überholt.[2]

Zum ersten Weltbild das Menschen hatten gehörte die Fähigkeit ein geradezu unheimliches anmutendes Gedächtnis für Wasserreservoirs zu entwickeln und erfolgreich Nahrung und Schutz zu finden, Leistungen, die uns heute nicht mehr sonderlich beeindrucken, doch wir müssen unser Bild vom primitiven Steinzeitmenschen eventuell etwas revidieren. Der Geschichtsprofessor Yuval Noah Harari schreibt dazu, in Eine kurze Geschichte der Menschheit, dass wir als Kollektiv heute ungleich mehr wissen, als die Menschen damals. „Aber für sich genommen, waren die Jäger und Sammler die klügsten und geschicktesten Menschen der Geschichte. Wir wissen heute, dass das durchschnittliche Sapiens-Gehirn seit Beginn der landwirtschaftliche Revolution geschrumpft ist.“[3] Die Menschen damals waren, so Harari, unglaublich fit und geschickt, leise und effizient und mit scharfen Sinnen ausgezeichnet.

Menschen die einen Flugzeugabsturz überlebt haben und irgendwo auf einer Insel strandeten berichten manchmal davon, dass sozusagen über Nacht ihre Sinne schärfer und klarer wurden. In der Not scheint der Überlebensmodus bei uns allen aktiviert werden zu können. Seit langer Zeit wird diskutiert inwieweit der Mensch eher ein biologisches oder kulturelles Wesen ist. Nahrung und Sexualität sind schöne Themen, um das Verhältnis von biologischem Nutzen und sozialer Komponente ein weiteres mal zu verdeutlichen.

Überleben und Fortpflanzen in der Sackgasse

Wer glaubt, der Mensch sei im Grunde noch immer und primär ein biologisches Triebwesen und die sozialen Errungenschaften lediglich Ausdruck dieser Triebe, der sollte sich fragen, wie noch die stärksten Überlebenstriebe – durch Bulimikerinnen und terroristische Selbstmordattentäter mit Leichtigkeit, weil ihre geistigen Ideale andere sind und das eigene Überleben dabei nachrangig wird – ausgehebelt werden können.

Und das ist nicht alles, beim Sexualtrieb sieht die Situation noch dramatischer aus: Warum macht Sex eigentlich Spaß? Evolutionsbiologisch könnte man argumentieren, damit wir uns gerne fortpflanzen und das tüchtig tun. Wenn die Fähigkeit sich lustvoll erregen zu können einen Nutzen haben soll, dann den, denn ein anderes Ziel als weiteres Leben zu erzeugen hat die Evolution, nach Überzeugung ihrer Interpreten, nicht.

Doch längst ist die lustvolle Sexualität keine Unterabteilung der Fortpflanzung mehr, sondern Fortpflanzung ist ein gelegentliches Ereignis das im Rahmen von Sexualität auftreten kann, aber nicht muss. Masturbation, homosexuelle, aber auch die meisten heterosexuellen Begegnungen haben gar nicht das Ziel Nachkommen in die Welt zu setzen, sondern einfach Lust zu erzeugen, sich zu entspannen und zu befriedigen.

Gundlegend und bedeutsam

Das wirft Fragen auf, Fragen danach, wie „der Mensch“ denn nun funktioniert. Wenngleich selbst die stärksten Triebe nicht alles und vor allem von der Motivation her nicht alldominierend sind, so bekommt man sie doch auch nicht aus dem Leben und den Erklärungen, warum wir sind, wie wir sind, verbannt. Wer es „schafft“ sich von einigen seiner Triebe komplett abzuschneiden, der ist einfach neurotisch.

Was also, ist eigentlich das, was zählt? Und in welcher Reihenfolge? „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, heißt es bei Bertolt Brecht, da ist die Reihenfolge klar, aber wir sahen, dass das nicht immer gilt. In Eros, Kosmos, Logos – Eine Jahrtausendvision trifft der US-amerikanische Bewusstseinsforscher Ken Wilber die Unterscheidung zwischen grundlegend und bedeutsam. Das Verhältnis der beiden ist wie folgt: Je grundlegender, desto weniger bedeutsam; je bedeutsamer, desto grundlegend und überlebenswichtig. Komplexe Eindrücke in einem Gedicht zu konzentrieren ist ein bedeutsamer Akt, aber nicht überlebenswichtig. Nahrung und Schutz zu finden und sich fortzupflanzen, ist von grundlegender Wichtigkeit für das Überleben unserer Spezies, aber den meisten Menschen ist das für ihr Leben nicht genug.

Wir reden von Ehre, Anerkennung, Stolz, wollen unseren sozialen Status erhöhen, ein glückliches, aber auch gelungenes Leben führen, eine Auto und Haus und einen Highspeed Internetanschluss haben, satt und sicher zu sein mit der Möglichkeit sich fortzupflanzen reicht uns heute hinten und vorne nicht mehr aus. Müssen wir also wieder bescheidener werden, back to the roots? Oder brauchen wir mehr und effektiveren Fortschritt? Und wie funktionieren wir nun wirklich?

Wir werden uns an eine Antwort herantasten und sie wird lauten, dass wir in ziemlich verschiedenen Welten leben und gut dran sind, wenn es uns gelingt die Welt des anderen zu verstehen. Überleben und Fortpflanzen sind die ersten Schritte auf dem langen Weg zu dem, was uns ausmacht und dem, was uns möglicherweise noch erwartet.

Quellen:

[1] Otto F. Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Klett-Cotta /J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger (2000), S.298

[2] http://www.zen-akademie.org/cover/don_beck_interview_WIE8.pdf

[3] Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, Deutsche Verlags-Anstalt (2013), S.68f

[4] Ken Wilber, Eros, Kosmos, Logos: Eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend, Krüger (1996), S.90f