Über Weltbilder und deren Bedeutung sprachen wir schon, eine ebenso wichtige wie in Teilen umstrittene Frage ist, ob es Entwicklungsstufen der Weltbilder gibt. Entwicklungsstufen und Entwicklungspsychologie gehören zu den spannendsten aber auch verkanntesten Bereichen der Psychologie. Oft wird sie mit der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen gleichgesetzt, was einerseits richtig ist, weil wir Entwicklung hier gedrängt betrachten können. Die Weltbilder der Kinder ändern sich oft sehr schnell und sie machen überraschende Entwicklungsschritte. Doch andererseits erweckt dieses Bild den Eindruck, als sei Entwicklung ein Thema für Kindheit und Jugend, allenfalls noch fürs jüngere Erwachsenenalter, aber danach täte sich eigentlich nichts mehr. Und das ist nicht richtig.
Insofern ist die Beschäftigung mit Psychologie oft weniger linear, als eher sprialförmig oder wie ein Mandala: Man kommt immer mal wieder dem Ausgangspunkt nahe, sieht und versteht Jahre später die Dinge anders, tiefer, besser. Und damit sind wir mitten im Thema, da auch das Weltbild des Forschers sich verändert. Und bei der Frage ob es Entwicklungsstufen der Weltbilder gibt. Ein Weltbild ist kein Sahnehäubchen, das man sich abseits des praktischen Lebens im Alltag leistet und das irgendwie abstrakt, hoch politisch oder philosophisch ist, sondern ein Weltbild ist genau der Erfahrungs- und Erlebensraum, in dem wir uns in jedem Moment bewegen. Die offenen und stillen Erwartungen die wir an die Welt haben, das, von dem wir glauben, dass die Welt genau deshalb und genau so funktioniert.
Faszinierend und verstörend: Die soziale Wahrnehmung
Solomon Aschs Experimente zur sozialen Wahrnehmung gehören zu den Klassikern der Sozialpsychologie. Die Experimente, die inzwischen gut und oft wiederholt worden sind, lösen immer wieder eine Mischung aus Unglauben, Fassungslosigkeit und Staunen aus. Doch wichtiger als die Phänomene als solche ist es, zu verstehen, wie sie eigentlich funktionieren.
Das Experiment ist im Grunde vollkommen simpel und gerade deshalb so eindrucksvoll. Es geht um Folgendes: Man zeigt einer Gruppe von Menschen verschieden lange Linien auf einer Abbildung. Eine der Linien wählt man aus und soll nun sagen, ob die anderen Linien kürzer, länger oder gleich lang sind. Eine Aufgabe, die jedes kleinere Kind problemlos bewältigt – eigentlich. Denn nun kommt der Clou. Das Experiment ist so angelegt, dass nur ein Mitglied der Gruppe, ohne es zu wissen, die eigentliche Testperson ist, die anderen sind in den Versuch eingeweihte Mitarbeiter. In der vermeintlichen Gruppe der Befragten äußert nun jeder, mit einer sicheren Selbstverständlichkeit, dass eine der an sich deutlich längeren Linien genau so lang ist, wie die anfangs ausgewählte. Was sagt nun die eigentliche Versuchsperson? Sagt sie: „Moment, ihr müsst euch irren, die Linie ist doch deutlich länger, das sieht doch jedes Kind“? Manchmal ja. Doch in 40% der Fälle sagt die Versuchsperson, wie alle vor ihr auch, dass die beiden Linien gleich lang seien.
Da man, wenn man die Abbildung selbst sieht, zunächst denkt, dass das doch wohl nicht sein kann, da der Unterschied so drastisch ist, ist die nächste Frage, wie es bei 40% der Menschen eben doch sein kann. Und der wichtige Punkt ist, dass es eben nicht so läuft, dass der Einzelne die Linien zunächst als unterschiedlich lang wahrnimmt und dann mit sich ringt, sondern durch die Aussagen der Menschen vor ihm, die Linien tatsächlich als gleich lang wahrnimmt.
Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir nicht alle über die gleichen, von unseren Sinnen präsentierten Rohdaten verfügen, die dann, nachher, interpretiert werden, sondern dass, ganz im Gegenteil, die Interpretation bereits die Wahrnehmung beeinflusst. Mit anderen Worten, unsere Umgebung, unser vermeintliches Vorwissen, unser Weltbild beeinflusst unsere Wahrnehmung bis hinein in den sinnesphysiologischen Bereich. Der eine oder andere kennt das von Berichten von Massenphänomen, wie Massenpaniken oder -psychosen, doch man ist sich oft nicht bewusst, wie weit in den „normalen“ Bereich dieser Einfluss eigentlich reicht.
Und eine weitere Konsequenz ist: Wenn der Einfluss schon bis in den Bereich der normalen Wahrnehmung reicht, um wie viel mehr sind wir dann in der Frage von Geschmäckern, Wertvorstellungen, dem was man tun und lassen sollte von unserer sozialen Umgebung beeinflusst? Wir dürfen zurecht annehmen, dass die Prozentzahlen dann noch mal deutlich in die Höhe schnellen, wenn man schon das Offen-Sichtliche nicht sieht. Man denkt gerne, man sei die Ausnahme, doch auch das war immer so und wenn man mal die Jahrzehnte zurückblättert und sich die typischen Mode- und Musikstile ansieht und -hört, merkt man, dass es da sehr zeittypische Stile gibt, von den Klamotten über die Haare, Autos und die Einrichtung der Wohnung, aber eben auch in den Wertvorstellungen und Innenwelten, wenn man sich ansieht, wie sich die Einstellungen zur Homosexualität, der Rolle der Frau oder des Pflichtbewusstseins über die Jahrzehnte geändert hat.
Dieser erstaunliche Befund ist längst nicht alles, was an dem Thema Entwicklung spannend ist, es gibt nämlich noch andere Kontroversen. Das eine Lager vertritt dabei diese Ansicht:
Entwicklung bedeutet neuer und besser
Sucht man Belege dafür, wir man schnell fündig. Entwicklung wird hier immer als ein Zuwachs an Kompetenzen verstanden. Einfaches Beispiel: Ein Kind kann zunächst nur krabbeln, irgendwann beginnt es auf zwei Beinen zu laufen. Krabbeln kann es auch dann noch, wenn es laufen kann, so dass Entwicklung hier einfach ein Zugewinn an Kompetenzen bedeutet. Man gewinnt das eine, ohne das andere zu verlieren. Blicken wir auf die Sprache, finden wir Artikulation, Sprachverständnis, Wortschatz und so weiter und entdecken auch hier dasselbe Muster. Man kann immer noch brabbeln, wenn man Desoxyribonukleinsäure aussprechen kann, aber nicht umgekehrt. Ob musikalische oder mathematische Fähigkeiten, sowie auch Körperbild und -beherrschung überall entdecken wir dieses Muster, dass entwickelter die Bedeutung von höher entwickelt, besser, komplexer und kompetenter meint.
Und ein ähnliches Verständnis haben wir auch bei den Entwicklungsstufen der Weltbilder. Der Klassiker in unserer Zeit ist eigentlich der Schritt vom mythisch-religiösen zum wissenschaftlich-rationalen Weltbild. Zahllos die Berichte darüber die zurückgeblieben die Menschen früher gelebt und vor allem gedacht haben. Für Erdbeben, Überschwemmungen und ausbleibenden Regen sollte die Götter oder moralische Verfehlungen verantwortlich sein. Zwar gab es schon immer den einen oder anderen, der daran zweifelte, aber dass höhere Mächte die Geschicke lenken war die kollektive Überzeugung und als man die Götter vom Thron stieß, die Aufklärung, die wissenschaftlich-technische Revolution und schließlich auf breiter Front die Industrialisierung einsetzte, konnte man sich von dem mythisch-religiösen Weltbild nahezu vollständig emanzipieren.
Heute sind wir nicht mehr im Zeitalter der Dampfmaschinen, sondern der Mikrochips, der Molekularbiologie, der Raumsonden und des auf Technik basierenden Internets, wir wissen wie Erdbeben und Wetterphänomene entstehen, haben uns auf breiter Basis von den religiösen Bildern und Deutungen emanzipiert und Menschen, die in weiteren Teilen in einem rational-wissenschaftlichen Weltbild aufgewachsen und unterwegs sind, haben – freundlich ausgedrückt – große Schwierigkeiten damit, dass es Menschen gibt, die heute noch religiös sind. In einer Mischung aus Verärgerung und Mitleid blicken sie auf die, aus ihrer Sicht, offensichtlich irgendwie Zurückgebliebenen und sind damit auch Vertreter der Einstellung, dass die neuere Sicht, die bessere, überlegene, kompetentere ist.
Doch es gibt eine andere Fraktion, die genau das Gegenteil sagt, nämlich:
Entwicklung bedeutet anders zu sein
Nicht besser, nicht schlechter, einfach nur anders. Dabei beruft man sich bei dieser Einstellung auf die Erkenntnisse der Wissenschaft, genauer der Evolutionsbiologie. Diese sagt: Entwicklung ist Anpassung. Und zwar eine Anpassung an die äußeren Verhältnisse. Seien es klimatische, geographische oder innerartliche, zunächst müssen die basalen biologischen Bedürfnisse von Überleben, Nahrung und Fortpflanzung gesichert sein. Wird die Nahrung knapp oder die Konkurrenz groß entsteht ein hoher evolutionärer Druck und die Arten müssen sich immer neue Nischen des Überlebens suchen. Auf diesem Weg entstehen Flügel, die Fähigkeit in Vulkanquellen zu überleben, scharfe Zähne, dicke Panzer oder neue Formen des sozialen Zusammenlebens. Mit Weltbildern könnte es genau so sein. Sie entstehen, um die Welt in der man lebt zu erklären, sind damit eine Orientierungshilfe, wie die Sinne es auch sind.
Daraus entwickelt sich, wenn man genauer hinschaut, eine eigenartige Spannung. Einerseits ist man der Überzeugung, dass das wissenschaftlich-rationale Weltbild den mythisch-religiösen Weltbildern überlegen ist und zwar ohne wenn und aber. Doch auf der anderen Seite behaupten Vertreter derselben Fraktion eben, besser und schlechter gäbe es eigentlich nicht, sondern alles was zähle, sei eine erfolgreiche Anpassung an die momentanen Bedürfnisse. Das ist ein Widerspruch.
Wann genau ist etwas gut?
Eine einfache Frage, die Antwort ist es jedoch keinesfalls. Denn gut zu sein heißt ja je nach dem, wo man sich befindet und wen man fragt etwas anderes. Die Diskriminierung von Homosexuellen finden die meisten von uns heute rückständig und unverständlich, doch vor 50 Jahren war das heute so normale und akzeptierte Phänomen ein Straftatbestand. Das Bild der Frau änderte sich erst in den später 1960ern, bis dahin galten die Ideale, dass Mutti nur glücklich sein kann, wenn die Wäsche weiß ist, die Familie satt und die Gläser fleckenfrei sauber.
Vor 100 Jahren war die militärische Uniform noch etwas, was ein Mann mit Stolz trug und man verlor im Zweifel oft lieber ein Auge, eine Hand, ein Bein oder sein Leben als seine Ehre. Und auch heute divergieren die Vorstellungen von Ehre, aber auch Pünktlichkeit, Tischsitten und sozialen Rollen noch äußerst stark, je nach dem in welchen Teil der Welt man reist.
Andere formulieren daher radikaler: Gut und böse, richtig und falsch sind, eben weil sie relativ sind, grundsätzlich zu nichts zu gebrauchen und bleiben im Kern immer fragwürdig. Auch sie seien eben nur momentane Anpassungsphänomene, was man schon allein daran sieht, dass das was heute gut sein kann, morgen böse ist und umgekehrt. Und eigentlich seien diese moralischen Kategorien etwas, was man grundsätzlich überwinden müsse. Sie seien irgendwie ein Relikt des ehemals mythisch-religiösen Weltbildes, auf das wir heute verzichten können.
Dieser Gedanke ist durchaus nachvollziehbar, wirft aber etliche Fragen auf. Sollte man sich den überhaupt allem anpassen, ist Anpassung wirklich in allen Fragen des Lebens die beste Strategie? Aus biologischer Sicht mag das eine evolutionär sinnvolle Strategie sein und zweifelsfrei ist der Mensch auch ein biologisches Wesen, die Frage ist nur: Sind wir einzig und allein biologische Wesen? Die Antwort ist einfach: Nein!
Denn das war ja die Überraschung aus den Experimenten zur sozialen Wahrnehmung, dass diese so einen ungeheuer starken Einfluss haben. Vertreter Evolutions- oder soziobiologischer Strömungen wollen uns gerne erklären, wir wären immer noch Triebwesen, was natürlich einerseits richtig ist, aber jede Bulimikerin und jeder Selbstmordattentäter zeigen uns, dass selbst die grundlegendsten biologischen Antriebe von entsprechend aufgeladenen Wertvorstellungen pulverisiert werden können.
Wir können auch anders und da wird die Fragen ob wir alles sollten was wir könnten, die nach Ethik und Moral, dann doch wieder laut. Vielleicht wäre bei den Nazis Anpassung der bequemere Weg gewesen, aber auch der richtige? Es gibt heute immer mehr Tricks und Hilfsmittel, sich den Bedingungen der Leistungsgesellschaft anzupassen, nicht wenige helfen mit Doping nach, aber ist es wirklich gut sich da immer besser und effektiver anzupassen, um nicht abgehängt zu werden oder ein riesiger Irrsinn, bei dem nur, systembedingt niemand mehr weiß, wie er zu stoppen ist?
Doch manche wollen moralische Kategorien dennoch überwinden und schlagen eine andere Sichtweise vor:
Nützlich statt gut
Es ist der Gedanken der sozialen Anpassung, der hier weitergesponnen wird. Warum mit belasteten Begriffen wie gut und böse oder richtig und falsch agieren, wenn man neutraler einfach schauen könnte, ob eine Verhaltensweise nützlich ist? Aber hier möchte man erkennbar abstreifen, was man nicht los wird denn die Frage nach der Nützlichkeit impliziert sogleich die nächste Frage: Nützlich, für wen oder was?
Für die Evolution? Die Menschheit? Die Gesellschaft? Meine Familie? Für mich? Und was bitte ist das: Die Sicht der Evolution? Es ist zwar unfreiwillig komisch, wenn Menschen sich berufen fühlen, sich zum Sprachrohr der Evolution zu machen und uns erklären, was „die Evolution“ will, aber bei aller Komik bleibt es der begrenzte Blick eines Menschen auf die Welt. Mit „der Evolution“ hat noch niemand geredet und man kann es auch nicht. Zumal die Evolution buchstäblich nichts ausschließt, alles was momentan existiert, Massenmörder, Triebtäter, Angepasste und Exzentriker, sind von „der Evolution“ abgenickt, sonst würden sie nicht existieren.
Und ist ein evolutionsbiologisch nützliches Verhalten tatsächlich immer wünschenswert? Eine Frau zu vergewaltigen, ein Kind zu töten, Krieg zu führen ist als evolutionsbiologisch sinnvoll irgendwie zurechtzubiegen, wie übrigens auch das konträre Verhalten, aber eine Sicht, die nachträglich allem was passiert einen evolutionären Nutzen zuordnen kann, ist als Orientierung schlicht zu nichts zu gebrauchen.
Wir sind also doch wieder darauf zurückgeworfen unsere Kategorien, von dem was wir wollen und nicht wollen, selbst zu bilden und genau das ist es, was sich in unseren Weltbildern ausdrückt. Nun stellt sich die Frage also erneut: Besser und schlechter oder nur anders? Wie sind die Entwicklungsstufen der Weltbilder zu bewerten?
Davon mehr in den nächsten Folgen.