Die chronischen Erkrankungen

Erkrankungen, die aussichtslos zu sein scheinen erfahren in manchen Fällen noch einmal eine dramatische Wendung und wir haben uns dem Thema mit der Reihe über Wunderheilungen bereits gewidmet. Doch unterhalb dieser finalen Erkrankungen, die deshalb besondere Beachtung finden, weil jede dieser Heilungen eine Sensation ist, gibt es eine ganze Reihe stillerer Leiden, die die Lebensqualität deutlich und manchmal drastisch einschränken. Manche Patienten führen sie in die Verzweiflung und ziehen ihnen, durch die Dauer und vor allem, die oft fehlende Aussicht auf Heilung, den Zahn. Verkannte Leiden werden sie dadurch, dass der Grad der Verzweiflung oft unterschätzt wird, dem Menschen mit solchen Erkrankungen ausgesetzt sind.

Die medizinische Lage ist von den psychischen oft nicht zu trennen, denn bei mehrmaligem Wechsel der Therapie, immer neuen Hoffnungen und Erwartungen, kurzzeitigen Besserungen und abermaligen Enttäuschungen, sinkt irgendwann die Bereitschaft die ganz neue Therapie, von der die wohlmeinende Freundin irgend etwas gehört oder gelesen hat, auszuprobieren. Man fühlt sich irgendwann wie ein Versuchskaninchen, möchte sich vor neuen Enttäuschungen (und aberwitzig klingenden Therapievorschlägen) schützen, stößt damit jedoch erneut anderen vor den Kopf. Auch ein Arzt wird nicht in Jubel ausbrechen (außer, wenn er besondere Herausforderungen liebt), wenn er es mit einem Patienten zu tun hat, der schon bei zig Kollegen war, die ihm kaum helfen konnten.

Was sind das für Krankheiten, an die wir hier denken? Schmerzen zum Beispiel. Nicht akute, die im Zusammenhang mit einem klar definierbaren Krankheitsgeschehen auftauchen, sondern chronische Schmerzen, die die Patienten langsam verzweifeln lassen und oft nicht oder unzureichend mit einer körperlichen Ursache korrelieren.

Oder das breite Feld der Allergien. Es klingt so harmlos, weil man vielleicht an Heuschnupfen denkt, ein paar Nieser im Frühling, doch die Lage ist für schwerer betroffene Allergiepatienten nicht selten ganz anders. Längst haben Allergien sich auf ganz andere Bereiche, wie Nahrungsmittel, Insektenstiche und Medikamente ausgedehnt, können potentiell lebensbedrohlich sein, so dass mitunter einfachste Dinge des Lebens umfangreich organisiert werden müssen. Dazu kommen immer mehr Nahrungsmittelunverträglichkeiten die irgendwo in der Grauzone zwischen Allergie, Darmerkrankung und Stoffwechselstörung angesiedelt sind. Auch an Asthma ist in diesem Zusammenhang zu denken oder an Juckreiz oder Rötungen der Haut, die quälend und entstellend sein können.

Man muss an die verschieden starken Autoimmunerkrankungen denken, die mitunter chronisch oder chronisch rezidivierend (immer wiederkehrend) sind, bei denen es längere symptomfreie Episoden gibt, doch man weiß, dass immer ein Damoklesschwert über einem hängt.

Es gibt einige Überempfindlichkeiten, bei denen ebenfalls unklar ist, wo Menschen einfach hochsensibel sind oder wo sie in für alle Beteiligten ungesunder Weise um sich und ihre Symptome kreisen. Doch wer will sich anmaßen zu beurteilen, ab wann jemand übertreibt? Die erste Pflicht ist es, Patienten in ihrem Leid ernst zu nehmen. Das heißt nicht, dass man alles macht, was sie sagen, man kann ihnen auch alternative Deutungen anbieten und hinschauen, wo ein körperliches Leiden eventuell eine Stellvertreterfunktion hat, aber die Therapie, gerade chronischer Symptome, kann nur mit dem Patienten stattfinden.

Akzeptieren oder therapieren?

Es ist eine ernstzunehmende Frage, ob man wirklich alles therapieren kann und muss. Die Welt in der wir leben ist nicht perfekt, sollte man es von daher nicht einfach tolerieren lernen, dass wir eben nicht alles ändern können? Vielleicht wäre das tatsächlich eine vernünftige Forderung, aber unsere Lebenswirklichkeit ist eine andere. Wenn grundlegende Bedürfnisse abgedeckt sind, sind wir nicht einfach froh und glücklich, sondern es dämmern neue Bedürfnisse am Horizont des Bewusstseins. Das ist nicht böse oder undankbar, sondern auch eine evolutionäre Gegebenheit. Neue Ebenen der Komplexität scheinen stets auch neue Pathologien im Schlepptau zu haben. Die Maus kann Krebs bekommen, der Stein nicht. Ein Mensch kann neurotisch werden, eine Mücke nicht.

Es ist zwar im Einzelfall gut, wenn man sich beizeiten besinnt und merkt, wie gut es einem tatsächlich geht und Dankbarkeit empfinden kann. Doch gerade Menschen mit chronischen Erkrankungen ist diese Erfahrung versperrt, weil sie permanent an ihr Leid erinnert werden. Deshalb ist es keine Frage von entweder – oder, Akzeptanz oder Therapie, sondern man kann beides machen. Sich ein Stück weit bewusst werden, dass unsere Welt ein Ort ist, der gerade uns in Mitteleuropa mit allem versorgt, was wir zum Leben brauchen, doch zugleich haben wir alles Recht der Welt unser Leid ernst zu nehmen und den Versuch zu wagen, es zu ändern. Verkannte Leiden in der beschriebenen Form sind wahrlich kein Spaß und leider sind unsere Möglichkeiten heute nicht sonderlich gut, etwas an diesen Zuständen zu ändern.