Ob Menschen durch Tagträume Realitätsflucht „begehen“, scheint zunächst durch die im ersten Teil dieser Serie genannte Studie von Wilson et al. (2014) entkräftet zu werden. Demnach scheinen es Menschen eher vorzuziehen, sich den Aufgaben in der Realität zu stellen, anstatt sich, durch die Forscher aufgefordert, „zwangswegzuträumen“. Doch inwiefern der Zwang hinter der verordneten „Traumpause“ steht, bleibt dabei offen.
Eine von Killingsworth und Gilbert durchgeführte Studie (2010) zeigt demgegenüber, dass Menschen durchaus des Öfteren am Tag träumend pausieren, demnach durch Tagträume der Realitätsflucht nachgehen, und sowohl Arbeitszeit als auch Gemüt darunter leiden können.
Gedanken schweifen hat im Alltag hohen Stellenwert
Die Forscher der Harvard Universität fanden heraus, dass im Schnitt circa 46,9 Prozent der Tageswachzeit mit gedanklichen Abschweifungen verbracht wird, über Dinge, welche mit den bestehenden Aufgaben nichts zu tun haben.
Im Gegensatz zu der verordneten „Zwangspause“ in der oben beschriebenen Analyse von Wilson et al. (2014) sollten die Probanden in der Studie von Killingsworth und Gilbert via iPhone-App zu verschiedenen zufälligen Zeitpunkten Auskunft darüber geben, wie zufrieden sie gerade sind, was sie gerade machten, ob sie dabei über etwas anderes als die Tätigkeit betreffendes sinnierten etc.
Es zeigte sich, dass die Teilnehmenden nicht weniger als 30 Prozent der Zeit während jeder Aktivität (ausgenommen der Ausübung sexueller Aktivitäten) mit „Mind-Wandering“ beschäftigt waren. Darüber hinaus gaben die Personen die größte Zufriedenheit bei sexueller Aktivität, allgemein bei Bewegung und bei der Teilnahme an Gesprächen an. Am wenigsten zufrieden waren sie dagegen während der Ruhepausen, beim Arbeiten oder daheim am PC.
Gilt für Tagträume Realitätsflucht aus Unzufriedenheit?
Killingsworth und Gilbert konnten zeigen, dass das gedankliche Abschweifen ein stärkerer Prädiktor in Bezug auf die Unzufriedenheit war als die ausgeübte Tätigkeit als solche. Durchgeführte Time-lag-Analysen lassen zudem vermuten, dass die Tagträumerei der Grund und nicht die Konsequenz der Unzufriedenheit war.
Unzufriedenheit als Ursache der Realitätsflucht bei Tagträumen scheint nach den Ergebnissen dieser Studie nicht unbedingt der Fall zu sein: Menschen träumen offenbar nicht, weil sie unzufrieden sind (wonach es keinen Grund zur Realitätsflucht gäbe), sondern aus der Träumerei kann eine gewisse Unzufriedenheit resultieren.
Womöglich können Tagträume, unabhängig von der empfundenen Zufriedenheit, auch aufgrund mangelnder Motivation für die auszuführende Tätigkeit eine Realitätsflucht darstellen, etwa, weil man den Alltag kurzzeitig etwas bunter gestalten möchte.
Diese Realitätsflucht beim Tagträumen bringt Nachteile mit sich.
Flucht aus dem Alltag = Ressourcenverschwendung?
Durch Tagträumen bzw. „Mind-Wandering“ schwindet die kognitive Kapazität für andere Tätigkeiten, wie der Review von Mooneyham und Schooler (2013) zusammenfassend aufführt. So zeigen sich unter anderem Einschränkungen beim Lesen sowie bei der Absolvierung von Aufmerksamkeits- und Eignungstests.
Obwohl „Mind-Wandering“ Vorteile in Bezug auf autobiografisches Denken und zukunftsorientierte Planung haben kann, zeigt sich, dass sich die individuelle Fähigkeit, die geplanten Ereignisse tatsächlich vorzubereiten, nicht zwingend verbessert.
Weil also Tagträume in gewisser Hinsicht eine Flucht aus dem Alltag, eine Realitätsflucht, darstellen, scheinen sie neben den vermuteten (und teils bereits durch Studien untermauerten) Vorteilen in Bezug auf Kreativität, Problemlösen und Motivation auch Nachteile mit sich zu bringen.
Ab wann sind Tagträume Realitätsflucht? Die Dosis macht das Gift
Schooler rät zu differenzieren, ob und wann Tagträume angebracht sind. Bei Tätigkeiten, welche die Konzentration erfordern, sind Tagträume selbstredend eher ein Hemmnis und könnten als solches als Realitätsflucht bewertet werden. Nimmt man sich dagegen Ruhepausen, schweift der Geist bei (bezüglich der Konzentration) „niederen Arbeiten“ ab, oder weiß man bei einer bestehenden Aufgabe gerade nicht weiter, könnten Tagträume willkommen sein. Realitätsflucht ließe sich dann als „gezielte Auszeit“ interpretieren.
Mooneyham und Schooler (2013) betonen die Balance, welche man bezüglich des Gedanken schweifen lassen und der Konzentration auf ausgeübte Tätigkeiten finden muss. Metakognitive Strategien einzuüben, könnte dabei helfen, um den Wechsel zwischen Zeiten gezielter Konzentration und Zeiten für Tagträumen kontrollieren zu können, ohne dass die Gefahr bestünde, dass Tagträume Realitätsflucht mit sich bringen und eine erschwerte Bewältigung des Tages in Unzufriedenheit mündet.
Quellen:
- Bengsch., D. (2012). Tagträume spornen die Kreativität an. Verfügbar unter: http://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article13813193/Tagtraeume-spornen-die-Kreativitaet-an.html [14.01.2012].
- Killingsworth, M.A. & Gilbert, D.T. (2010). A Wandering Mind Is an Unhappy Mind. Science, 330(6006), 932.
- Mooneyham, B.W. & Schooler, J.W. (2013). The costs and benefits of mind-wandering: a review. Canadian journal of experimental psychology, 67(1), 11-8.
- Wilson, T.D., Reinhard, D.A., Westgate, E.C., Gilbert, D.T., Ellerbeck, N., Hahn, C., Brown, C.L., Shaked, A. (2014). Just think: The challenges of the disengaged mind. Science, 345(6192), 75-77.