Die Forderung nach Authentizität hört man immer wieder: Werde authentisch! Sei du selbst! Komm‘ zu dir! Finde deine wahren Bedürfnisse!
Blöd nur, wenn einem Leute dann genau erklären, was die eigenen wahren Bedürfnisse sind: Löse dich von allen Bindungen und Beengungen, vor allem vom Mainstream. Wenn ich das aber gar nicht will? Wenn ich mich im und mit dem Strom im Grunde ganz wohl fühle? Wenn ich gar kein Revoluzzer und Einzelgänger bin und sein will? Bin ich dann nicht mehr authentisch? Und wenn ich das befolge, bin ich nicht gerade dann eine Marionette?
All die vielleicht gut gemeinten Befreiungsversuche haben als Anregungen ihren Sinn, aber sie bekommen oft den Charakter von Zwangsbeglückungen, wenn man versucht sie anderen überzustülpen. Notorisch anders zu sein, das kann auch anstrengen, von Unsicherheit getragen sein, der Schwierigkeit, den eigenen Weg zu finden oder überhaupt zu wissen, was man eigentlich will. Wie auch?
Gerade in jungen Jahren, in der Zeit der Adoleszenz. Man ist voller Ideale, Enthusiasmus und Tatendrang mit einem Kopfschütteln darüber, wie die anderen leben und mit der Welt umgehen. Man weiß in der Regel zunächst, was man nicht will. Das ist die Zeit in der man sich, bei entsprechender Neigung oft zum ersten Mal, mit psychologischen Ideen und Weltanschauungen auseinandersetzt.
Die Sturm und Drang-Zeit birgt nicht selten auch eine Gefahr. Die Gefahr, sich zu schnell einzurichten, in dem Glauben, man habe die Welt bereits vollständig durchschaut. Es ist eine Zeit, in der man sehr viel in Frage stellt und sich häufig radikalen Weltbildern und Denkansätzen zuwendet. Möglicherweise ist das gar nicht schlecht, denn durch große Schritte gelangt man schnell an Ziele, auch dann, wenn man plötzlich vor einer Wand steht. Gut ist, wenn man das dann erkennt.
Authentizität, das heißt auch, sich immer wieder selbst zu entlarven, zu durchschauen, die eigenen Peinlichkeiten der Schnellschüsse und Besserwissereien konfrontieren und ertragen zu können, statt sie zu leugnen oder zu projizieren.
Authentizität als Ideal
Authentizität ist hier oft als Ideal geachtet, als unausgesetztes Bemühen sich selbst über die Motive der anderen, aber vor allem des eigenen Daseins Rechenschaft abzulegen und nicht mehr zu betrügen. Tröstungsideen und seichte Legitimierungsversuche sind authentischen Menschen verhasst. Alles nicht echt.
Andererseits: Selbst der extreme Wellenreiter, der alles mitmacht, was gerade Trend ist, will ja eventuell genau das, was er tut. Mit welchem Recht kann man ihm die Authentizität absprechen und sagen: „Das willst du in Wirklichkeit gar nicht“?
Nichts ist im Grunde paradoxer und schwieriger, als sich ‚ganz natürlich‘ verhalten zu sollen, ein: „Ach, sei einfach du selbst“ zu befolgen.
Authentizität ist ein Ausdruck der oft mit dem Existenzialismus in Verbindung gebracht wird: Dort ist die Bedeutung tatsächlich, alles Inauthentische als verlogen oder bestenfalls vorläufig zu entlarven, zum wahren Kern vorzudringen, die nackte Absurdität des Daseins schonungslos zu erkennen und je nach Disposition, lachend oder mit bitterer Miene zu ertragen.
Und doch scheint etwas dran zu sein, an der Forderung der Selbstfindung oder sogar der Selbsttranszendenz. Man muss nur aufpassen, dass nicht auch Authentizität zur Masche wird. Ich bin der, der immer spontan und direkt ist und sagt, was er denkt. Auch das kommt mir inzwischen etwas vereinfachend vor, denn das Leben ist doch komplexer. Mal bin ich selbstsicher, mal unsicher. Ich kann angstfrei und kühl in einem Bereich sein, ängstlich besorgt im anderen. Hier engagiert, dort desinteressiert.
Vielleicht stimmt es ja, dass nur wer sich ändert, sich selbst treu bleibt. Authentizität, darin klingt das Echte, Wahre, Ursprüngliche, Eigentliche an, das wirkt aber manchmal wie die Werbung für ein Vollkornbrot. Mit 60 Jahren zu sein wie mit 30 oder mit 20 wie ein 5-Jähriger, das ist eher peinlich als authentisch. Und woran erkenne ich das Eigentliche?
Authentizität als Entwicklung
Man spürt manchmal, dass eine Phase des Lebens vorbei ist und das ist oft mit Schmerzen des Abschieds und der Trennung verbunden. Wenn man sich darüber selbst belügt, das erscheint mir inauthentisch. Weiß man jedoch um die eigenen Ängste und Zweifel, muss man sie nicht jedem auf die Nase binden, das scheint mir ein falsches Ideal zu sein.
Die Forderung nach Authentizität ist eventuell als Appell gedacht. „Du verpasst was, wenn du einfach nur so vor dich hinlebst“, soll es wohl heißen. Das stimmt oft. Dann allerdings ist Authentizität Mittel zum Zweck und nicht mehr authentisch, eigentlich.