Austherapiert!
Ein Moment, in den man sich nur schwer hineinversetzen kann. Wochen bis Jahre der Hoffnung und dann kommt irgendwann die Nachricht, dass man medizinisch nichts mehr machen kann. Ein Schock, vielleicht aber auch, nach all dem Kampf, eine Erlösung. Ich muss nicht mehr leben, endlich darf ich sterben. Gerade wenn möglicherweise ein Angehöriger trauert, oder man sich in der Pflicht sieht, jemanden nicht alleine lassen zu dürfen.
Für diejenigen, die es als völligen Schock empfinden, geht der Kampf weiter, aber unter anderen Vorzeichen. Es ist fast vorbei und der Tod rückt näher. Was bleibt jetzt noch, was will ich noch klären, erleben? Alle schulmedizinischen Therapieversuche werden abgesetzt, bis auf die Schmerzmittel. Trauer bricht sich vielleicht die Bahn, Verzweiflung, aber womöglich auch Ruhe, Frieden.
Manche nehmen den Kampf noch einmal auf, ahnen oder wissen, dass jetzt nur noch ein Wunder helfen kann. Einige nehmen Zuflucht zur Alternativmedizin, wenn das nicht schon längst parallel lief, andere überlegen zum Wunderheiler zu gehen oder sich Therapieverfahren aus Nischenbereichen anzuvertrauen.
Das stellt ein Ärgernis für einige dar. Aus unterschiedlichen Gründen geraten manche Menschen in Rage, wenn sie davon hören. Neben dem Hinweis auf die unterschiedlichen Qualitätsstandards im Rahmen alternativer Verfahren, ist ein Argument schwer von der Hand zu weisen: Es kommen überproportionale viele Menschen, die austherapiert sind, zu solchen, die nichtetablierte Verfahren anbieten. Die Austherapierten, die, für die es keine Hoffnung mehr gibt, finden hier ihre Zuflucht und austherapiert zu sein, bedeutet wirklich, dass nach menschlichem Ermessen nichts mehr zu machen ist.
Es ist weder fair noch klug, diese Verfahren generell in Misskredit zu bringen, da Heilungen geschehen, selten, aber immer wieder. Hier wäre zu prüfen, was genau einen verärgert. Dort, wo nichts mehr zu machen ist, kann man es immerhin mit dem bewussten Loslassen versuchen. Das Argument, dies brächte nichts, ist nicht sonderlich schlagend, da alles andere ja bisher auch nichts brachte. Wir sind an dem Punkt, an dem alles versucht wurde – und gescheitert ist.
Die Rolle von Glauben, Religion und Spiritualität
Man ist häufig der Meinung, der Glaube könne helfen, doch das gilt nur für bestimmte Fälle. Sehr stark gläubigen Menschen hilft er, zweifelnde Menschen verunsichert er eher. Der Inhalt des Glaubens ist im Grunde egal. Wer nie geglaubt hat, wird im Angesicht des Todes selten zum wirklich religiös Gläubigen werden. Die vage Hoffnung bringt nicht viel.
Es muss kein Gottesglaube sein. Wer an den Fortschritt der Wissenschaft, seinen Operateur, ein neues Verfahren glaubt, ist ebenfalls gut dabei. Vielleicht ist es oft die Beziehung die dahintersteckt, das Vertrauen in eine an sich gute Welt. Oder eine Erlaubnis, die man sich selbst gibt. Aus welchem Grund sollte ausgerechnet mir eine Wunderheilung zustehen? Da braucht man etwas, was einen selbst überzeugt. Im Lichte der Placeboforschung muss man sagen, dass es rational ist, zu glauben.
An der Grenze des Todes gibt es nichts mehr zu erreichen, nur noch Leben, von Tag zu Tag. Genau dieses „Sein im Moment“ ist im Grunde das, was spirituelle Traditionen von jeher anstreben. Da sein, präsent sein. Mehr meint Erleuchtung nicht. Aber Spiritualität ist kein Garant für Wunderheilungen. Der spirituelle Theoretiker und Praktiker Ken Wilber schreibt in seinem Buch Psychologie der Befreiung, dass spirituelle Meister sogar auffallend häufig an Krebs sterben.
Eine Spiritualität, die sich anklammert, ist keine. Wer mit dem Tod ausgesöhnt ist, der stirbt leichter, vielleicht hat er auch mehr Chancen, dann doch noch, unter anderen Vorzeichen, am Leben zu bleiben. Wenn überhaupt, dann ist das der Bogen. Man kennt es von Nahtoderfahrungen. „Du musst noch mal zurück“, ist oft die Botschaft und dann geht das Leben weiter.
Doch Spiritualität ist nicht wertlos, im Gegenteil, auch therapeutisch nicht, wir kommen später drauf zurück. Vielleicht ist Erleuchtung das größte Geschenk überhaupt, doch das muss jeder selbst beurteilen. Die Todesnähe ist ein Bereich, in dem Widerstandslosigkeit, einer der Bausteine von Erleuchtung, als Möglichkeit noch einmal ganz nahe rückt. Und es geht vielleicht gar nicht darum, das, was man gefunden hat, noch jahrelang in gelebtes Leben zu verwandeln, es reichen womöglich wenige Minuten um dem Leben doch noch etwas zu entnehmen, was man bis dahin nie gefunden hat. Tiefer Friede am Ende, er wäre uns allen zu wünschen.