Das Verhältnis zwischen Ich und Gemeinschaft ist sonderbar. Eine Gesellschaft, das ist nicht einfach Zusammenschluss vieler Individuen, sondern sie folgt eigenen Regeln, bei denen das Ich in den verschiedenen Arten von Gemeinschaft mitunter verschluckt wird.
In der Masse wird das Individuum als reifes Ich oft unerkennbar, das heißt, der Grad an Differenziertheit, zu dem man fähig wäre, wird auf ein frühes, kindliches Niveau reduziert. Das kann erschrecken und entspannen. Parteiisch ein Fußballspiel zu gucken ist erst richtig erfüllend, doch ist diese Schlichtheit von „wir gegen die“ bei anderen Fragen eher hinderlich.
Doch Ich und Gemeinschaft, das kann auch ein Ich im Arbeitsprozess sein, in dem jeder organisiert seinen Teil zum Ganzen beiträgt. Eine seltsame Doppelrolle. Zwar bin ich oder sind meine Fähigkeiten hier gefragt, dennoch nur Teile von mir, meine Fähigkeit als funktionierendes Mitglied einer Produktionsgemeinschaft. Meine politischen Einstellungen, moralischen Vorstellungen, meine Lieblingsmusik spielen hier keine Rolle.
Auch die Familie und unsere Wahlgemeinschaften, wie Parteien oder Religionen, verlangen vom Individuum die Erfüllung bestimmter Rollen.
Individualität als Massenprodukt
Eine ironische Zuspitzung finden wir bei Werbung und Konsum: Beworben wird die Einzigartigkeit, die Individualität, meine ganz spezielle Art – und um ihr Ausdruck zu verleihen, soll ich ein Massenprodukt kaufen, mich mit etwas ausstatten, anhand dessen alle Anderen erkennen sollen, dass ich anders bin. Die Werbung macht das gut: „Einzig, nicht artig.“ Konventionelle Zutaten fürs Anderssein.
Doch auch unsere wirklich individuellen Leistungen werden im weltweiten Web auf den diversen Plattformen zum Produkt, was angesichts der Masse der Konkurrenzprodukte kaum mehr auffällt. Viele haben ihr Video im Netz, betreiben ihre eigene Website oder versuchen irgendwie aufzufallen, noch cooler, noch krasser, noch sexier zu sein… wie all die Millionen anderen. Individuelle Performance als kollektiver Lebensstil.
Das Besondere für alle schließt sich schon von der Idee her aus. Und die Karawanen ziehen weiter, wie immer im selbstgesetzten Abstand. Feist, Zigarre rauchend, Fleisch essend, Rotwein trinkend, so war der Manager der Wirtschaftswunderzeit. Heute ist die Unterschicht oft überfüttert und könnte sich zur Not mit Lachs und Schampus vom Discounter um die Ecke versorgen, ihr Fleischkonsum ist kaum zu toppen, während die Mittelschicht längst zu asketisch-agilen Biokonsumenten mit abrufbarer Sozialkompetenz und hoher Fitness geworden ist.
Die Mittelschicht ist diskreter geworden und interessiert sich wieder für Werte und die Umwelt, wenn auch nicht immer für die Mitwelt. Auch dies ist ein Wechselspiel von Ich und Gemeinschaft, ein Milieudenken.
Jenseits des Rollenspiels
Gibt es überhaupt einen Weg, wie man seine Individualität leben kann, ohne gleich wieder in Stereotypien zu verfallen?
Man muss den Rollen nicht total entwachsen und es geht auch kaum. Auch zwischenzeitliche Regressionen sind nicht schlimm, wenn man sich bewusst ist, dass man sie hinter sich lassen und abstreifen kann. Wer das weiß, braucht auch nicht angestrengt, in präkonventioneller Art, gegen alle Arten von Regeln zu rebellieren, in der Meinung, sie seien nur geschaffen, um einem das Leben zu verderben.
Man ist sich bewusst, dass man selbst immer auch Strippenzieher im Spiel ist und nicht die Marionette unbegründet autoritärer Vorschriften. In begründeten, vor dem eigenen Gewissen zu verantwortenden, Ausnahmefällen ist man Willens und in der Lage (und manchmal verpflichtet) die Regeln zu brechen. Ist dieses reflexive Ich einmal errichtet, so wird man doch auch immer wieder vom gewollten oder manchmal auch unbeabsichtigten Eintauchen in Massenprozesse erfasst, doch man spürt eine gewisse Sicherheit, diese auch wieder unbeschadet verlassen zu können.
So sind Ich und Gemeinschaft nie wirklich zu trennen, eher handelt es sich um ein fließendes Kontinuum, in dem mal die Eingebundenheit in Massenprozesse und Rollenspiele und mal die Seite der kritisch-reflexiven Distanz überwiegt. Bisweilen lässt man sich mit dem Strom treiben, um sich vom Ichsein zu entspannen oder erfüllt die ins Ich gesetzen Erwartungen, weil man nichts dagegen einzuwenden hat. Wo das Ich gefordert ist, kann es jedoch die Leitung übernehmen: Das dynamische Wechselspiel zwischen Ich und Welt, Ich und Gemeinschaft, die niemals ganz getrennt zu finden sind.