Eltern vergeben zu können ist nicht immer einfach – und manches Mal sogar unmöglich. Je nachdem, was in der Kindheit vorgefallen ist. Deshalb ist dieser Artikel auch keine grundsätzliche Fürsprache, den Eltern zu vergeben. Ob und inwieweit du die nachfolgenden Ansätze umsetzen möchtest, liegt allein in deinem Ermessen.
Eltern vergeben bedeutet nicht Kindheit vergessen
Beim Vergeben geht es darum, den inneren Frieden zu finden und das Vergangene gut sein zu lassen. Damit ist jedoch nicht gemeint, das Geschehene in der Kindheit gutzuheißen. Vielmehr soll die Aufarbeitung kindlicher Prägungen dabei helfen, zu verstehen, warum man so ist, wie man ist. Im nächsten Schritt geht es darum, damit abzuschließen und sich von den alten Lasten zu befreien. Außerdem kann, je nachdem ob du es möchtest, die Beziehung zu den Eltern anders gestaltet werden.
Durch die nachfolgenden Punkte wird dir eine Abgrenzung von den Eltern zunehmend gelingen.
1. Sich negative Prägungen bewusst machen
Hast du negative Erfahrungen im Umgang mit deinen Eltern gemacht, dann hast du vermutlich eine Generationslast geerbt. Du hast ungesunde Verhaltensweisen gelernt, vermutlich auch viele Ängste und Selbstzweifel erworben. Vielleicht fühlst du dich minderwertig oder irgendwie nicht gut genug. Möglicherweise bist du aber auch sehr impulsiv, weil du sofort in die Verteidigung gehst. Egal ob du zu ängstlich, zu unsicher oder zu impulsiv geworden bist, nun geht es darum, wieder zu einer gesunden emotionalen Baseline zurückzufinden.
Mehr Gelassenheit in den Alltag zu bringen, das ist das Ziel vieler von negativen Prägungen Betroffener. Je bewusster du dir über deine Prägungen wirst, desto besser kannst du dich von ihnen und damit auch von den dysfunktionalen Verhaltensweisen deiner Eltern abgrenzen.
2. Abgrenzen heißt: den Kreislauf durchbrechen
Vermutlich werden deine Eltern ähnliche Probleme im Alltag haben und viele schadhafte Glaubenssätze von ihnen auf dich übertragen worden sein. Möglicherweise waren sie auch schon immer ängstlich, unsicher oder frustriert. Sie wussten nicht, glücklich und selbstbewusst zu leben. Diese Generationslast an dysfunktionalen Verhaltensweisen gilt es nun zu durchbrechen.
Sobald man versteht, wie man ist, hat man einen Ansatzpunkt zur Veränderung. Nicht immer gelingt dies sofort, doch wer sich mancher hinderlicher Glaubenssätze und Verhaltensweisen bewusst ist, der kann beharrlich an einer Verbesserung arbeiten. Es gilt deshalb, neue Gewohnheiten einzuüben, andere Denkweisen auszuprobieren, sich zu ermutigen, außerdem die eigenen Emotionen zu regulieren und sich respektvoll sich selbst und anderen Menschen gegenüber zu verhalten.
Das Wichtigste ist, es im Umgang mit den eigenen Kindern und anderen Menschen besser zu machen als die eigenen Eltern. Damit die Kinder nicht unsere Ängste, Selbstzweifel, unsere Frustrationen und Verzweiflungen übernehmen, dürfen wir sie nicht auf sie übertragen. Wir müssen ihnen ein anderes Rollenmodell vorleben. Weiterhin können wir mit unseren Ängsten und Schwächen offen umgehen. Kinder haben dafür oft mehr Verständnis, als wir denken. Natürlich sollte das Besprechen solcher Punkte in einem kindergerechten und angemessenen Rahmen erfolgen. Die eigenen Kinder dienen nicht als Zuhörende und Therapierende für unsere Probleme. Doch wir können uns bei unseren Kindern für die gemachten Fehler entschuldigen und ihnen erklären, warum wir so sind, wie wir sind. Im Anschluss gilt es, das Verhalten gegenüber den Kindern auch tatsächlich zu ändern.
Viele unserer Eltern gaben hingegen unreflektiert ihre dysfunktionalen Verhaltensweisen an die Kinder weiter, indem sie sich beispielsweise emotional an ihnen abarbeiteten, ihren Frust und die negativen Gefühle an ihnen ausließen und keine Verantwortung für ihr eigenes Verhalten übernahmen. Je nachdem wie weit dieses missbräuchliche Verhalten ging, wird seitens der betroffenen, nun erwachsenen Kinder ein Urteil gefällt, ob ein Verzeihen gegenüber den Eltern möglich ist oder eben nicht.
3. Abgrenzen von den Eltern durch inneren Abstand
Für einen entspannten Kontakt zu den Eltern ist es wichtig, einen inneren Abstand zu ihnen zu gewinnen. Viele Eltern werden sich vermutlich im Alter nicht mehr ändern. Sie besitzen weder die Einsicht noch die Bereitschaft dafür. Damit du nicht wieder und wieder emotional aufgewühlt bist, wenn deine Eltern dir mit altbekannten Verhaltensweisen und Ansichten begegnen, darfst du diese nicht mehr emotional an dich heranlassen.
Das geht am besten, wenn du für dich akzeptierst, dass sie nun einmal so sind, wie sie sind. Es ist nicht deine Aufgabe, sie zu verändern, sie emotional zu erreichen, ihnen etwas bewusst zu machen oder sie zu retten. Deine Eltern sind älter als du. Sie hatten Zeit, an Reife und Erfahrung zu gewinnen. Sie entscheiden sich dafür, wie sie ihr Leben leben möchten. Dabei solltest du es belassen.
Deine Aufgabe ist es, dies zu akzeptieren. Begegne ihnen mit höflicher und freundlicher innerer Distanz. Du solltest aufhören, bei ihnen nach etwas zu suchen, was sie nicht fähig sind zu geben. Auch wenn es dir vermutlich in deiner Kindheit so vorgekommen ist oder es dir von deinen Eltern so suggeriert wurde, deren wertendes Verhalten dir gegenüber hat eigentlich gar nichts mit dir zu tun. Es sind ihre eigenen Ansichten von sich, anderen Menschen und dem Leben, die sie auf dich als Kind übertragen haben. Und viele von ihnen sind sich darüber vermutlich nicht einmal bewusst.
Ein guter Tipp für mehr inneren Abstand ist es, auf die Interaktionen mit den Eltern in der Art zu blicken, als würde man einen Film anschauen. Dadurch bist du emotional weniger involviert und kannst insgesamt höflicher bleiben.
4. Vergeben durch emotionale Reife
Deine negativen Prägungen in der Kindheit sind wie eine schwere Bürde, die dich ein Stück weit auf deinem Lebensweg behindert. Sie können aber auch ein Booster für dich sein. Durch diesen wird dir vor Augen geführt, an welchen Punkten deines Daseins du feilen musst. Arbeitest du deine Vergangenheit immer mehr auf und stellst dich deinen Ängsten, Selbstzweifeln und ungesunden Glaubenssätzen, hast du die Chance, emotional zu reifen.
Aus psychologischer Sicht kann ich sagen, dass nicht wenige erwachsene Kinder emotional reifer sind als ihre Eltern. Das ist oftmals deshalb so, weil die erwachsenen Kinder heutzutage in einem anderen Zeitgeist leben. Während aus elterlicher Sicht die Fürsorge eines Kindes hauptsächlich darin bestand, ihm eine gute Ausbildung und ein Heim zu schenken, haben jüngere Generationen ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass auch seelische Wunden einem Kind langanhaltend schaden können. Sie wissen um die Wichtigkeit einer stabilen Psyche, um den Herausforderungen des Lebens begegnen zu können. Wir als Gesellschaft haben uns sozusagen weiterentwickelt.
Wir haben neue Werte gelernt und Erkenntnisse für eine gesunde seelische Entwicklung gewonnen. Das Wohlbefinden der Kinder ist bei vielen Eltern viel mehr in den Mittelpunkt gerückt. Die Kinder laufen nicht mehr einfach so nebenher, wie es in der Kindheit vor einigen Jahrzehnten noch der Fall war. Damals wurden die kindlichen Bedürfnisse, die kindliche Persönlichkeitsentfaltung und oftmals auch die kindliche Würde übergangen. Heutzutage besteht dahingehend in vielen Familien eine viel größere Sensibilität.
Auch diesbezüglich bitte ich zu verstehen, dass ich mich bei diesen Resümees lediglich auf einen Großteil der Eltern beziehe und bewusst vorgenommenen emotionalen, körperlichen und sexuellen Missbrauch sowie Vernachlässigung ausklammere. Hierbei wurden Eltern zu Täterinnen und Tätern und das dürfte unverzeihlich sein.
Eltern vergeben und eine neue Ebene gestalten
Den Eltern vergeben zu können, hat viel mehr mit dir als mit ihnen zu tun. Erkenne ihre Unzulänglichkeiten und was diese mit dir gemacht haben und arbeite die Folgen davon auf. Versuche nicht, deine Eltern zu ändern. Begegne ihnen auf einer neuen Ebene von dem Standpunkt einer erwachsenen Person, die du nun bist.
Lasse dich nicht mehr in alte Glaubenssätze, Schuld- und Schamgefühle sowie in eine Überverantwortung ihnen gegenüber verwickeln. Übergehe etwaige Anspielungen deiner Eltern dahingehend einfach. Es ist nicht notwendig, sich davon emotional catchen zu lassen. So lebt es sich für dich viel ruhiger. Den Eltern vergeben zu können bedeutet, ihnen mit Respekt zu begegnen, sich aber auch von ihnen abzugrenzen, um nicht wieder in dysfunktionale Familienstrukturen abzurutschen. So entsteht eine neue Dynamik, bei der du die Kontrolle über dein Leben und dein Verhalten behältst und die sich zu deinen Gunsten entwickelt.