Wo stehe ich auf dem Weg?

Nisargadatta Maharaj Porträt

Er gilt als einer der großen Lehrer, aber war alles andere als ein ruhiger Geist. © Arturo Espinosa under cc

Die unbefriedigende Antwort ist, dass man es nicht weiß. Dafür gibt es den Guru. Wenn Spiritualität eine authentische Größe im Leben ist, wird man zuverlässig auf den Guru treffen, wenn man einen braucht. So wie auf jedes andere Hilfsmittel, das man auf dem spirituellen Weg braucht. Dieser ist nicht vom Lebensweg getrennt. Die gute Nachricht ist, dass alles schon da ist, was man jetzt gerade braucht, verflochten mit dem eigenen Leben. Man braucht also nicht angestrengt danach zu suchen.

Wenn man enttäuscht ist, weil der Guru noch nicht an der Haustür geklingelt hat – das wäre dann der spirituelle Ritterschlag – kann man schauen, wer es ist, der enttäuscht ist und warum eigentlich. Ist man dann doch noch nicht so weit, wie man dachte? Das ist tendenziell auch wieder ein Egoding. Man möchte sehr spirituell sein und ist mit dem, was und wer man ist, nicht zufrieden.

Gelassenheit und die Frage, wo ich mich im Leben wohlfühle, können auch hier helfen. Wohlfühlen nicht im Sinne der Komfortzone, sondern im Sinne des Angekommenseins. Wenn es kein Empfinden für ein Angekommensein gibt und ein wenig Komfort das ist, was vielleicht fehlt, ist eben das der nächste Schritt. Die Botschaft der östlichen spirituellen Wege, dass Leben Leid bedeutet, passt nicht zu unserer Weltsicht, die meint, Welt in kleinen Schritten verbessern zu können.

Das Leben als leidvoll heißt nicht, dass man sich 24/7 mies fühlen muss, sondern, dass die erhoffte Gesamtbilanz manchmal nicht aufgeht. Bei einigen Menschen aber doch. Sie leben gerne, äußern das auch so und würden wollen, dass es immer so weiter geht. Man kann sich für sie freuen, aber die Reaktion von Menschen, für die Spiritualität eher eine Glaubenssache ist, ist häufig eine andere. Ärger und Abwertung. Man lässt sie wissen, sie seien eben noch nicht so weit. Der heimliche Neid auf die, die sich nicht für Spiritualität interessieren.

Doch, es gibt keinen Grund für spirituelle Arroganz. Dort wo man ist, ist man berechtigterweise, das gilt als böse, wenn es anderen schlecht geht und wirkt auf manche so, als wolle man ihnen die Schuld für ihr Leid in die Schuhe schieben. Doch auch spirituell ambitionierte Menschen reagieren darauf manchmal böse, vielleicht aus der heimlichen Angst heraus, die anderen könnten mit ihrer Ignoranz doch richtig liegen. Dann hätte man sich selber abgestrampelt und verzichtet, und wofür?

Das ist die Frage, was ich eigentlich von einem spirituellen Weg habe. Die Antwort ist widersprüchlich. Einerseits: Nichts. Andererseits: Eine Form dauerhaften Glücks. Das muss aufgeschlüsselt werden.

Ist Erleuchtung das Ziel?

Im Grunde reicht man den Stab nur weiter, denn auch hier lautet die Antwort: Ja, aber auf der anderen Seite muss man schauen, was Erleuchtung bedeutet. Erleuchtung ist nach spirituellen Aussagen nichts, was man erreichen kann. Aus zwei sehr ähnlichen Gründen, wenn man in den Buddhismus und Advaita Vedanta schaut. Wenn das Leiden des „Ich“ (die erste der vier edlen Wahrheiten) dadurch zustande kommt, dass sich die Dinge ständig wandeln, das „Ich“ sie aber festhalten will, dann kann Erleuchtung nichts sein, was man erreichen muss, denn dies wäre nur ein weiteres Glied in der Kette all dessen, was kommt und geht. Wenn es stimmt, dass alles, was entsteht, auch wieder vergeht.

Die Quelle oder Wurzel der Erleuchtung muss daher also etwas Festes, Unverrückbares sein. Die andere Idee ist, dass das einzig Beständige der Wandel selbst ist, was relativ einleuchtend ist, aber das „Ich“ sträubt sich gegen diese Einsicht, will immer irgendwie tricksen, mit anderen Worten: das „Ich“ ist insofern das Problem, als es sich dem Wandel ständig in den Weg stellt. Da die Welt sich davon aber nicht beeindrucken lässt und dennoch wandelt, ist das Resultat Leid. Das „Ich“ hätte es gerne anders, als es letztlich kommt. Daher die Analyse des Buddha, dass das (Anhaften des) „Ich“ das Problem ist.

Beim Advaita Vedanta fragt man eher, was dieses „Ich“ denn im Kern ist und beide Traditionen sagen, das „Ich“ würde letztlich gar nicht existieren und sei lediglich eine Illusion. Da aber auch die Illusion ihre Gesetze hat und man erst einmal erkennen und einsehen muss, dass es sich beim „Ich“ um eine Illusion handeln könnte, ist die Sache in der Praxis kompliziert, letztlich am ehesten deshalb, weil das „Ich“ an nichts weniger Interesse hat, als zu verschwinden, sondern alles auffährt, um sich irgendwie zu arrangieren und eine Folge davon ist, dass das „Ich“ sich für Spiritualität begeistert.

Es will nicht sehen, dass spirituelle Wege stets das Ende des „Ich“ bedeuten, sondern hat einige Verbesserungsvorschläge, von denen beide Seiten doch profitieren könnten. Wenn Spiritualität erst zum Ego-Projekt geworden ist, muss man eine große Schleife drehen, bis das „Ich“ damit vor die Wand fährt. Bis dahin ist es begeistert. Man kann sich durch Meditation beruhigen, sie ist so gesund und sinnvoll, vielleicht ist an Zauberkräften ja doch was dran, man wertet sich auf, weil man da noch diese spirituelle Seite an sich hat, aber all das ist im Grunde ein notwendiger Teil des Weges, denn nur ein „Ich“ kann sich entschließen, den spirituellen Weg bewusst zu gehen, die Irrtümer und Fantasien des „Ich“ sind notwendig mit dabei.

Erleuchtung ist in jedem Fall keine Eigenschaft des „Ich“. Das wird dann irgendwann auf dem Weg klar, doch in aller Regel wird das „Ich“ alles tun, um auch daraus keine Konsequenzen ziehen zu müssen. Einer der effektivsten Wege ist eine falsche spirituelle Bescheidenheit. Man sagt, man sei nicht erleuchtet und dass das in diesem Leben sowieso nichts wird. Stattdessen fokussiert man sich auf Zwischenziele. In der Psychotherapie ist das super, in der Spiritualität nicht. Denn hier wird das „Ich“ bedient, dem es nun erst mal besser gehen soll. Man ist jetzt auch noch bescheiden, einsichtig durch Meditation, Erleuchtung dann vielleicht in vielen Leben, aber erst mal will man die Aussicht auf Trost genießen. Wer soll getröstet werden, wer braucht den Trost? Das „Ich“, dessen Geschichten nicht so ganz aufgehen.

Echte spirituelle Bescheidenheit

Fragt man sich, was gegen die falsche spirituelle Bescheidenheit hilft, so ist das echte spirituelle Bescheidenheit. Das heißt nun nicht, dass man sich super fühlen muss, wenn im Leben alles schief geht, aber wenn man sein „Ich“ wirklich loswerden, überwinden oder abbauen will – und was sonst, wäre ein spiritueller Weg? – dann bietet einem das Leben genügend Möglichkeiten. Gewöhnlich empfindet man viele davon als lästig, den Dienst mit der Kollegin tauschen zu müssen, sich die ewigen Probleme eines Bekannten anzuhören, der einfach nicht wieder auf die Beine kommt, jemanden mit einer Reifenpanne am Straßenrand zu sehen und nicht vorbeizufahren. Es gibt genug zu tun, an dem das „Ich“ nicht den größten Spaß hat.

Doch auch vom Erfolg gilt es sich zu distanzieren, Schritt für Schritt vom „Ich“ weg, auf das Selbst zu. Das Selbst hat den Inhalt zu existieren, mehr erst mal nicht. Also nichts, was das „Ich“ auch nur im Geringsten interessiert, es will sich auf die Welt einlassen und seine Aufmerksamkeit ständig nach außen richten, auf die anderen, auf die Welt und die dort möglichen Vergnügungen und Verwicklungen. Nur zu sein ist für das „Ich“ maximal unattraktiv.

Das „Ich“ will Unterhaltung, Verwicklung, oft auch Drama und denkt sich über eine derart reduzierte Spiritualität: och nö, lieber nicht. Sooo schlimm ist es ja nun doch nicht mit dem „Ich“ und unterm Strich macht das Leben schon Spaß und so weiter. Aber auch hier sollte man nicht arrogant sein, sondern sich eher freuen. Wenn jemand in einer Phase des Glücks ist, schön, Glückwunsch. Es wird vermutlich irgendwann anders kommen, wir wissen nicht wann, vielleicht im nächsten Leben, warum sollen wir uns nicht mit dem anderen freuen?

Wenn es im eigenen Leben gut läuft, hat man oft keine Motivation für spirituelle Wege dieser oder jener Art. Wenn man spirituellen Hunger verspürt aber vielleicht doch. Auch da ist Faszination im Spiel, auch die Faszination des „Ich“ für Spiritualität, aber man lässt nicht locker, auch wenn man begreift, dass für das „Ich“ auf dem Terrain nichts zu holen ist. Man lässt nicht locker, auch wenn es gut für das „Ich“ läuft. Man kommt immer wieder dahin zurück, dass man praktiziert, dass man nicht hinter die einmal gewonnenen Erkenntnisse zurückfällt. Man lässt sich nicht davon frustrieren, wenn der Weg nicht linear weitergeht und wenn man nicht den großen Guru trifft.

Man kann die Bausteine Stück für Stück zusammensetzen und es sind Bausteine aus der Innenschau der Psychologie, der Philosophie, der Kunst und aus expliziten spirituellen Techniken. Jeder Weg nach innen ist gut. Man braucht sich keine Sorgen um den perfekten Weg zu machen, denn dort, wo man sich befindet, ist der perfekte Ort. Das „Ich“, als das man sich empfindet, hat da vielleicht ganz andere Vorstellungen, aber man kann dem Weg ja vertrauen oder, wenn man es nicht tut, dreht man eben jeden Stein um, bis man zu einer befriedigenden Erkenntnis gekommen ist. Eine davon kann sein, dass man dem Weg aus guten Gründen vertraut.

Gelassenheit

In der Biografie der meisten Menschen auf einem expliziten spirituellen Weg, kommt das eine oder andere seltsame Ereignis vor. Oft sind es solche, die sie auf den Weg gebracht haben. Manche behalten sie für sich, andere erzählen davon. Oft hört man, über Spiritualität könne man nicht reden, sie würde sich der Logik entziehen und dergleichen. Dazu zwei Anmerkungen:

  1. Ich glaube in den meisten Fällen nicht, dass sich die Erlebnisse der Logik entziehen, aber sie passen in vielen Fällen nicht zu unserem naturalistischen Weltbild. Meiner Auffassung nach ist das naturalistische Weltbild allerdings kaum noch zu retten, insofern sollte es uns nicht zu sehr irritieren.
  2. Spirituelle Erlebnisse, die so umwerfend sind, dass man sie nicht in Worte fassen kann, passieren den meisten Menschen nicht und das muss auch nicht schlimm sein und ist kein Qualitätsmerkmal spiritueller Erkenntnis. Die subjektive Wucht authentischer spiritueller Erfahrungen ist in diesen Fällen so groß, dass es keinen Sinn ergibt, diese Ereignisse biografisch zu deuten.

Diese Ereignisse, vermutlich auch seltsame Zufälle im Leben, die authentische Hingabe an das Leben, aber auch das Zusammentreffen mit einem echten Guru oder Gottesvisionen sind in gewisser Weise Projektionen des „Ich“, hinein in die Welt, die die Botschaft haben zurückzukommen und sich nach innen zu wenden. Auch der Guru ist unsere eigene projizierte Zukunft, das Ziel ist reine Existenz. Dem „Ich“ erscheint das unendlich langweilig, den Erleuchteten als pures oder größtes Glück. Das ist die Lücke.

Spirituelle Wege schließen diese Lücke. Man braucht sich hier und jetzt kein Bein auszureißen, um auf den Weg zu kommen und die Vertreter der Traditionen, die mich ansprechen, sagen durch die Bank, dass der spirituelle Weg mit dem Alltag kompatibel ist. Man kann seinen familiären und beruflichen Verpflichtungen problemlos nachgehen, die Erleuchtung findet ihren Weg.

Quelle:

[1] Eine komplizierte Beziehung – Spiritualität und Religion (1), psymag.de Psychologie-Online-Magazin 2015, https://www.psymag.de/8258/beziehung-spiritualitaet-und-religion-meditation/