Menschen, die sich selbst finden müssen, haben sich in der Kindheit meist aus den Augen verloren. Sie durften sich nicht frei entfalten, weil sie stets auf die Bedürfnisse der anderen Rücksicht nehmen mussten. Deshalb hatten sie in ihrer frühen Entwicklung keine Chance, ihre Persönlichkeit, Wünsche und Vorstellungen vom Leben wertfrei zu entdecken.
Überangepasst: Konzentration auf fremde Erwartungen
Menschen, die zur Überanpassung neigen, haben gelernt, sich unterzuordnen und die Bedürfnisse anderer vor ihre eigenen zu stellen. Sie bemühen sich darum, unkompliziert und hilfsbereit zu sein. Sie fürchten sich vor Ablehnung und Liebesentzug, wenn sie es »wagen«, Grenzen zu setzen oder sich auf sich zu konzentrieren. Oft wurden sie von ihren Bezugspersonen in der Kindheit dafür »abgestraft«, wenn sie versuchten, für sich einzustehen.
Bei vielen Betroffenen wurde das Verhalten bewertet und die Liebe war an Bedingungen geknüpft. Beispielsweise mussten sie einer dominanten Bezugsperson gefallen, da es andernfalls Probleme daheim gab. Oder sie mussten sich um eine emotional schwächere Bezugsperson sorgen, die sich nicht um ihr eigenes Leben kümmern konnte. Es gibt viele Gründe, warum Kinder sich zurücknehmen müssen, um zu funktionieren. Sie fügen sich, weil sie um eine harmonische Beziehung zu ihren Bezugspersonen bemüht sind. Dadurch, dass überangepasste Kinder immer alles richtig machen wollten und nicht für ihre Grenzen und Bedürfnisse einstehen durften, wissen sie heute als Erwachsene eigentlich gar nicht, wer sie sind.
Unsichtbar vor sich selbst: Nicht fähig zu Entscheidungen
Lisa beschreibt es so: »Hättest du mich in meiner Jugend gefragt, ob ich lieber ins Café oder ins Restaurant gehen möchte, wäre eine typische Antwort von mir: ›Keine Ahnung. Was willst du?‹ Und ich hatte wirklich keine Ahnung. Wenn ich in meinem Bauch hinein spürte, fühlte ich dort nichts. Beziehungsweise ich konnte die Gefühle in mir drin nicht zuordnen. Automatisch kamen Gedanken hoch wie: Was möchte mein Freund lieber machen? Wirke ich langweilig, wenn ich die eine Option wähle? Allein bei dieser einfachen Frage war ich innerlich angespannt und sofort ging ein Kopfkino los. Ich brauchte wirklich eine gewisse Zeit, bis ich überhaupt etwas gefühlt habe, und noch etwas mehr Zeit, bis ich es mir erlaubt habe, dass ich als Mensch sein darf.«
Nicht als Mensch sein dürfen
Überangepasste Menschen sind in vielen Dingen blind für sich selbst. Ihre Wahrnehmung und ihre Gedanken sind auf die andere Person oder allgemein ihr Umfeld fokussiert. Sie schauen nicht von sich nach außen und überlegen, was ihnen Spaß macht und was sie in der Welt erleben könnten. Stattdessen schauen sie vom Außen auf sich: Was denken andere von mir? Wie müsste ich sein, um mich nicht lächerlich zu machen? Es ist also auch eine Form der Selbstzentrierung. Nur dass diese nicht mit Egoismus, sondern mit Selbstunsicherheit einhergeht.
Toni: »Jedes Mal, wenn ich an der Kasse stand, hatte ich Angst. Hinter mir war eine Schlange von Menschen. Ich begann automatisch, verunsichert zu sein. Meine Hände zitterten leicht, wenn ich das Geld aus der Geldbörse holte. Ich verlor ein Centstück oder so. Das lag nicht etwa daran, dass ich irgendwie Angst hatte, einen Fehler zu machen. Nein, ich wollte den anderen Menschen hinter mir nicht zur Last fallen. Nicht etwa, weil ich so langsam war. Vermutlich war ich sogar sehr schnell. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich nicht dort sein darf. Meine Therapeutin riet mir in der Situation zu einem inneren Mantra: ›Ich darf hier auf der Welt sein. Ich habe genauso ein Recht, hier zu sein, wie alle anderen auch.‹ So verrückt es klingt, aber es half.«
Sich selbst finden: Sich einen Stellenwert einräumen
Damit überangepasste Menschen, sich selbst finden können, sollten sie zunächst einmal lernen, für sich einen Stellenwert einzuräumen. Das fängt mit wohlwollenden Glaubenssätzen an. Gute Glaubenssätze für überangepasste Menschen können zum Beispiel sein:
- Ich darf sein.
- Ich bin liebenswert.
- Ich stehe für mich ein.
Doch es gibt noch weitere Ansatzpunkte, damit Überangepasste sich selbst finden können.
1. Ändere deinen Fokus
Anstatt dass du von außen auf dich blickst und dich damit bewertest und beschämst, wie andere über dich denken könnten, solltest du deinen Fokus der Aufmerksamkeit in die entgegengesetzte Richtung lenken. Stelle dir das am besten wie bei einem Scheinwerfer vor. Der Strahler zeigt nicht mehr auf dich, sondern du bist der Scheinwerfer und richtest deinen Strahl nach außen in die Umgebung.
Je mehr du deine Wahrnehmung so trainierst, desto leichter wird es dir fallen, nicht mehr darüber nachzugrübeln, wie du bei anderen Menschen ankommen könntest. Schaue von dir aus auf die Welt.
2. Erkenne deine Bedürfnisse
Überangepasste Menschen sind durch jahrelanges Training sehr geübt darin, die Erwartungen anderer Personen zu erkennen und sich darauf einzustellen. Ihre eigenen Erwartungen fallen dagegen hinten runter.
Lerne, deine Bedürfnisse von den Erwartungen anderer abzugrenzen. Ein guter psychologischer Tipp ist es, in den inneren Abstand zu gehen. Stelle gedanklich eine Glaswand zwischen dich und die andere Person.
- Was sind deine Wünsche und was sind die Erwartungen einer anderen Person, die sie an dich stellt?
- Wo fühlst du dich von einem anderen Menschen gesteuert oder manipuliert? Lerne, auf dein Bauchgefühl zu hören. Es lässt dich mit der Zeit immer deutlicher spüren, wann jemand deine Grenzen übertritt.
3. Sich selbst finden: Spüre die Ruhe
Spüre die Ruhe, wenn du dir selbst gut tust. Yoga oder Meditation sind geeignete Praktiken, um wieder mehr in den Kontakt mit sich zu kommen. Überangepasste Menschen müssen nicht nur lernen, bei sich anzukommen, sondern sie müssen auch lernen, bei sich zu bleiben. Viel zu schnell verlieren sie sich sonst wieder aus den Augen. Regelmäßige Yogapraktiken und andere meditative Übungen helfen dir dabei, deinen inneren Bezug nicht mehr zu verlieren.
Je häufiger du die Ruhe spürst, desto schneller bemerkst du, wie es sich anfühlt, wenn du dich fremdgesteuert fühlst. Es erregt zunehmend ein Unwohlsein, sobald du etwas machen sollst, was du nicht möchtest – und was im Grunde auch nicht deine Aufgabe ist.
4. Hinterfrage deine Schuldgefühle
Überangepasste Menschen haben oft mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Viele von ihnen mussten in der Kindheit Verantwortung für emotional unreife Erwachsene übernehmen, weil diese Personen in gewisser Weise keine Verantwortung für ihr Verhalten oder ihr Leben übernommen haben. Überangepasste mussten in der Kindheit oft etwas ausgleichen. Sie mussten mehr machen, weil andere zu wenig machten. Übernahmen sie diese Verantwortung nicht, verhielten sie sich also in den Augen der erwachsenen Personen falsch, stiegen Schuldgefühle in ihnen auf, die letztlich nichts mit ihrem eigenen Verhalten zu tun hatten. Sie fühlen sich schuldig für das unreife und gemeine Verhalten anderer. Sie fühlen sich schuldig, für das, was man ihnen angetan hatte.
Sanni: »Wenn mein Vater mich anschrie, dann drehte er es immer so hin, dass ich es verdient hätte, dass man mich anschrie. Er beschimpfte mich, dass ich zu blöd sei, weil ich Mathe nicht kapierte, und dass ich mich nicht genügend anstrengen würde. Meine Mutter war das komplette Gegenteil. Sie war absolut in sich gekehrt. Sie war total abwesend, weil mein Vater sie auch immer anschrie und beleidigte. Wenn sie dann weinte, versuchte ich, sie zu trösten. Aber ich kam nicht an sie heran. Ich weiß noch, wie ich entdeckte, dass sie Antidepressiva nahm. Und mein erster Gedanke war: Ich habe versagt. Ich konnte ihr nicht helfen.«
Frage dich:
- Was gehört wirklich zu dir an Verantwortung?
- Und was liegt nicht in deinem Verantwortungsbereich? Wo musst du dich abgrenzen, weil es nicht zu dir gehört? Gib die Verantwortung für die Angelegenheiten, die nicht zu dir gehören, ab.
5. Übe dich in gesunder Kommunikation
Gerade weil überangepasste Menschen sich so schnell schuldig fühlen, ist eine respektvolle Kommunikation mit anderen wichtig. Grenze dich freundlich, aber bestimmt ab. Natürlich darfst du jemanden trösten oder ihm deine Unterstützung anbieten, aber es muss in einem gesunden Maß geschehen, bei dem du dich nicht aufopferst. Sobald du dich in deinem Leben zurücknehmen müsstest, geht die Hilfsbereitschaft zu deinen Lasten. Dann entspräche dein Handeln keinem eigenverantwortlichen Handeln mehr. Ebenso gut darfst du dich aus einer Situation entfernen, in der man dich beleidigt oder anschreit oder dir auf andere Art nicht respektvoll begegnet. Das ist dein gutes Recht. Bleibe innerhalb deines Lebens und deines Verantwortungsbereiches und lasse alles Übrige los. Denke daran: Das, was du für egoistisch hältst, ist für andere ein völlig normales und eigenverantwortliches Handeln.
- Werde innerlich stärker. Sei für dich da. Richte dich auf.
- Erlaube anderen Menschen mit destruktiven Verhaltensweisen keinen Zugriff auf deine Seele.
- Niemand hat einen Einfluss auf deinen Selbstwert, solange du es nicht zulässt.
Höflichkeit erspart dir Reue
Bleibst du insgesamt höflich in einer sozialen Interaktion mit Menschen, die destruktive Verhaltensweisen an den Tag legen, wirst du im Anschluss keine Reue spüren. Denn würdest du Reue spüren, wären deine Energien wieder an die andere Person gebunden. Dann bist du wieder mit den Gedanken bei anderen, anstatt dich selbst zu finden. Möglicherweise wärst du nach einem Konflikt oder einer angespannten zwischenmenschlichen Situation stunden- oder gar tagelang damit beschäftigt, darüber nachzusinnen, warum die Situation dermaßen aus dem Ruder lief. Du wärst immer wieder dabei zu überlegen, ob du dich eventuell nicht doch falsch verhalten hättest. Dann versuchst du zu eruieren, inwieweit du dich hättest anders verhalten können. Das Geschehene würde dich nicht loslassen und somit wärst du von deiner Überverantwortung beziehungsweise Überanpassung immer noch nicht befreit. Bleibst du dagegen respektvoll, befreist du dich von den Vorwürfen anderer, aber auch von deinen eigenen Selbstvorwürfen und Selbstgeißelungen, zu denen überangepasste Menschen häufiger neigen. Solange du anderen Menschen gegenüber respektvoll bleibst, wirst du auch dir gegenüber nachsichtiger begegnen können. Ein respektvoller Umgang mit anderen, inklusive einer gesunden Abgrenzung, falls diese aufgrund eines problematischen Verhaltens deines Gegenübers nötig wird, ist also vor allem ein Geschenk an dich selbst.