Die Frage ob nicht alles ganz anders ist oder sein könnte hat heute wieder Konjunktur und das oft aus gutem Grund und auf vielen Gebieten.
Es war fast ein wenig langweilig
Da ist diese Anekdote über Max Planck, der als junger Mann vor der Wahl stand entweder Physik zu studieren oder Pianist zu werden und ein Physik Professor soll ihm von dem Studium der Physik abgeraten haben, mit den Worten: „Die Physik ist eine nahezu voll ausgereifte Wissenschaft.“ Es seien noch hier und da ein paar Details zu klären, das wäre es dann aber auch.
Wir wissen, Planck entschied sich anders, wurde Nobelpreisträger und einer der bedeutendsten Physiker aller Zeiten und vor allem blieb in der Physik kein Stein auf dem anderen, nicht zuletzt durch Planck, Einstein und eine Garde erstrangiger Wissenschaftler in einem erstaunlich kurzen und dichten Zeitfenster.
Man brauchte Jahrzehnte um das was da begriffen wurde in die Breite zu bringen und zu verarbeiten, es heißt verstehen könne man die Quantenphysik Plancks ohnehin nicht, aber erfolgreich damit rechnen.
Als Kind war ich an Naturwissenschaften allgemein und Astronomie besonders interessiert und es war eine Zeit in der dann wieder sehr viel, sehr abgeschlossen, fertig erschien. Wieder sollten noch Details geklärt werden, doch im Grunde meinte man zu wissen, wie alles vom Prinzip her funktioniert. Die Frage: Und wenn alles ganz anders ist?, kam nicht auf, oder wenn war sie höchstens etwas für Sonderlinge oder eine nette Idee für Science Fiction Autoren, doch man glaubte zu wissen, dass das eben (leider) keine Realität werden würde. Es war fast ein wenig langweilig, aber eben auch stabil und sicher, man konnte sich also der privaten Entfaltung zuwenden.
Ich brauche es nicht noch mal zu wiederholen, wir alle merken, die Zeiten haben sich geändert, so dramatisch, dass sich etliche Menschen überfordert und abgehängt vorkommen.
Der anstrengende alltägliche Bereich
Den Alltag zu bewältigen ist heute schon oft eine logistische Großtat. Verständlich, dass sich mancher zurück sehnt, in reale oder phantasierte – oft etwas idealisierte – Bereiche der Vergangenheit. Früher wollten alle ins Mittelalter zurück, weil es irgendwie eine coole Zeit zu sein schien, heute dringt der Wunsch nach einem Backlash, einem Zurück zur guten alten Zeit ins Politische vor. Oft auch in Form einer grundsätzlichen Politikmüdigkeit, auch als Resultat einer Erfahrung, in der Politik häufig geräuscharm im Hintergrund ablief.
Heute ist viel mehr transparent und auf alles in der Welt ist eine Smartphonekamera gerichtet, demnächst dann mit immer perfekteren Deepfakes verfälscht. Das Pendel wird allerdings zurück kehren, denn wenn die Fälschungen perfekt geworden sind, kann sich jeder, der bei einem Verbrechen oder sonst etwas live gefilmt wird darauf hinausreden, dass dies eben ein Fake Film gewesen sein muss und alles ganz anders war.
Das wird sicher noch interessant werden, ist im Grunde aber eine der langweiligeren Ebenen, doch das Oberthema der Simulation kommt wieder hoch. Aktuell getriggert durch die Möglichkeiten der KI, in Verfälschungen von Bild und Ton, die Fortschritte bei den ChatBots, aber schon der Philosoph Descartes fragte sich, ob die ganze Welt nicht nur ein Traum sein könnte und versuchte einen Weg aus der Ungewissheit heraus zu finden durch den methodischen Zweifel. Er sagt, er könne alles bezweifeln, aber nicht, dass er gerade zweifelt. Da der Zweifel eine Form des Denkens ist, war dies sein Ankerpunkt: Ich denke, also bin ich.
Und schon einige Jahrhunderte vor Christus entstand Der Schmetterlingstraum von Zhuangzi. Die verbindende Frage war und ist, was nun Realität ist und was Phantasie.
Leben wir in einer Matrix?
Das ist ein modernes Szenario, das in Grunde die gleiche Frage auf die Möglichkeit überträgt, dass wir uns in einer Computersimulation befinden könnten. Etwa als Hirn in einer Nährlösung dem Welt nur als Simulation eingespielt wird. Oft fokussiert man sich auf die Frage, ob wir das merken würden oder nicht. Die andere Frage, vielleicht die entscheidende, ist, was es denn eigentlich ändern würde?
Wir würden uns irgendwie betrogen, ausgeliefert, manipuliert vorkommen, wenn es so wäre, aber warum eigentlich, wenn wir die perfekte Simulation gar nicht als solche bemerken würden? Was würde es ändern? Wir wüssten dann, das Morgen alles anders sein könnte. Aber ist das nicht sowieso der Fall?
Was wäre schlimmer, die Vorstellung einer abrupten Veränderung oder dass jemand sie bewirken könnte? Denn im Grunde sind all unsere Vorstellungen von Sicherheit und Stabilität Illusionen.
Und wenn alles ganz anders ist? Für viele von uns ist es das, nach traumatischen Ereignissen im Leben. Ein plötzlicher Arbeitsplatz- oder Statusverlust, der unerwartete Tod eines lieben Menschen, das jähe Ende einer Beziehung von der man glaubte, sie würde ewig halten und in den letzten Jahren sind wir alle ein wenig damit konfrontiert worden, dass das Leben auf einmal ganz anders sein kann, nehmen wir nur die Überschriften: Klima, Corona, Krieg.
Insofern leben wir alle in einer Illusion, aber wir können das ganz gut verdrängen, bis hier und da ein Bruch in unser Leben tritt. Wir retten uns über die Befürchtung, dass es uns tatsächlich treffen könnte, in welchem Bereich auch immer. ‚Eigentlich dachte ich die ganze Zeit, dass wir eine gute Ehe führen, bis meine Frau eines Morgens die Koffer packte und mich verließ.‘ So etwas hört man dann zuweilen.
Wir wollen uns das gerne statistisch vom Leib halten und sehen zu, dass wir mehr Dinge richtig als falsch machen und glauben, dass uns dann irgendwie nichts passieren wird. Es wird halt schwieriger in den letzten Jahren, das stresst. Doch das sind nur die eher langweiligen Aspekte. Was, wenn alles ganz anders ist?
Kosmologie
Die Frage, ob wir in einer Matrix leben ist keineswegs nur Inhalt von Science Fiction oder komischen philosophischen Gedankenexperimenten, sondern sie begegnet uns auch im Rahmen der Kosmologie, der Wissenschaft des Universums. Da wird die Idee mit der Matrix dann noch mal aufgriffen, im Zusammenhang mit dem holographischen Prinzip, einer Theorie darüber, wie unser Universum aussehen könnte. Dort heißt es dann:
„Im Extremfall könnte sogar das gesamte Universum nur als Hologramm bestehen, das auf seiner Umrandung, auf seiner wie auch immer gearteten einhüllenden, abgelegt ist. Dann wäre unsere „Welt“ in Wirklichkeit nicht drei-, sondern nur zweidimensional und wir würden in einer Projektion leben.“[1]
Das klingt irgendwie so unvorstellbar wie es ist, steht aber auf der Basis der Physik. Wären wir nur Figuren in einem flachen, kosmischen Comic Heft?
Doch es könnte noch abgefahrener sein, Es gibt die Theorie, dass es nicht ein Universum gibt, sondern dass das was wir als Universum erleben und berechnen nur eine von sehr vielen, beliebig vielen Blasen ist, jede mit eigenen Naturgesetzen, einige würden sofort in sich zusammenfallen, viele wären ganz anders als unseres, manche unserem ähnlich und ein paar könnten eine nahezu exakte Parallelwelt zu unserem sein, nur in Details verschieden, es gäbe dort vielleicht jemanden wie Sie, genau jetzt eben diese Zeilen lesend. Welten über Welten, aber:
„Wir sind ja nicht dagegen gefeit mit einer Blase zu kollidieren. Vielleicht entstand ja schon in unserer unmittelbaren Nähe eine Blase, die uns bereits gerammt hat. Wir haben es nur noch nicht bemerkt. Die Auswirkungen dieses Auffahrunfalls würden sich ja nur maximal mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Es würde also etwas dauern, bis sich z.B. die Naturkonstanten und alle anderen Parameter abrupt ändern. Das bedeutet: Ein „Aus“ käme für unser Universum schlagartig, ohne Vorwarnung. Das könnte in der nächsten Sekunde geschehen, in tausend Jahren, oder vielleicht nie. Noch bevor Sie das letzte Wort auf der soeben aufgeschlagenen Seite lesen, könnte unser Universum ein Ende haben.“[2]
Lebenslügen
Zur Entspannung kurz zurück in unseren Bereich. Wobei uns die kosmischen Möglichkeiten, die dann wirklich mal umfassend katastrophal wären, irgendwie nicht so richtig berühren. Schon die Gefahr durch Supervulkane oder Meteore ist nicht ohne, also, wenn sie den dann kämen, aber gemessen am Crash zweier Blasen, die dachten, sie seien einmalige Universen, ist das nicht der Rede wert. Nach wie vor ist unser Alltag uns emotional näher, weil wir ihn eben so kennen.
Wir stehen fassungslos da, wenn Menschen, denen wir vertraut haben uns hintergehen. Auch dann erlebt man, wie es ist, wenn alles ganz anders ist, zwar nur auf der individuellen Seite, aber die hat eben eine maximale Bedeutung für uns. Wenn der Mann eine Beziehung zur besten Freundin hat. Wenn ein Schicksalsschlag uns einen geliebten Menschen nimmt. Wenn eine Beziehung sich völlig destruktiv entwickelt. Wenn man eine verheerende medizinische Diagnose erhält. Oder man einfach merkt, dass man sich in irgendeinem Bereich der einem im Leben wichtig war über Jahrzehnte etwas vorgemacht hat.
Es ist immer das Gefühl, dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird die Reaktionen sind zunächst Angst, Verzweiflung und Depression. Auch das eine Situation, in der mit einem Mal alles ganz anders ist. Für die Welt viel kleiner, aber das Individuum hat nur diese eine, eigene Welt.
Neue Ungewissheit
In der Wissenschaft und Philosophie leben wir in einer Zeit neuer Ungewissheiten. Das ist spannend, aber irritierend. Wir sind ein alterndes Land, da will man es eher nicht so spannend, sondern irgendwie die Ernte einfahren, es reicht der Tatort man Sonntag für den Kick. Doch auf einmal ist alles verrückt und unklar, heißt, anders als gewohnt.
Zum einen in Wissenschaft & Technik, aber auch sozial. Immer mehr Minderheiten fordern lautstark ihr Recht, auf einmal muss die Normalbevölkerung sich rechtfertigen, das war man anders herum gewohnt. Der gute alte Herrenwitz, er zieht nicht nur nicht mehr, man steht auf einmal als Trottel da, zumindest in bestimmten Kreisen, in anderen avanciert man damit zum Widerstandskämpfer im erlebten Kulturkampf.
In manche Diskussionen um Rassismus in der Mathematik und etliche Aspekte kultureller Aneignung muss man sich erst einarbeiten, ob das alles sein Ziel erreicht, da darf man angesichts neuer Umfragen Zweifel haben. Wenn alles ganz anders ist, zerfällt erst einmal vieles in seine ehemaligen Bestandteile und man sucht die Rezepte der alten Zeit, Backlash oder Regression.
Hat Carl Popper sich geirrt, als er meinte, man würde der Wahrheit über den Irrtum nahe kommen? Die Idee ist, dass je kühner man sich irrt, man der Wahrheit mit umso größeren Schritten näher kommt. Sie setzt voraus, dass die Wahrheit etwas Fixes ist. Aber der Wahrheitsbegriff ist unterm Strich doch relativ fluide und das führt uns dazu, dass, wenn alles ganz anders ist, dies auch für den Wahrheitsbegriff gilt.
Das Selbst
Die Selbst ist schwierig zu fassen, weil es sehr unterschiedlich definiert wird. Manchmal wird es als irgendwie höhere Instanz des Ich angesehen, ohne dass man so ganz genau sagen kann, was es sein soll, manchmal wird es als mit dem Ich identisch beschrieben, wenn vom Selbstkonzept die Rede ist.
Und wenn alles ganz anders ist, als wir uns das vorstellen, könnte das Selbst alles sein, was es am Ende gibt. Knüpfen wir beim Wahrheitsbegriff wieder an, dann ist der des indischen Mystikers Ramana Maharshi, der in unserer näheren Vergangenheit als herausragend gilt, so, dass nur das wahr oder real ist, was auch im traumlosen Tiefschlaf existiert, alles andere ist bei ihm Illusion.
Nach ihm gibt es kein Ich und das konsequent, das heißt niemand hat eines und das heißt, dass es, wenn man dieses Ich zu fassen versucht – wie in Spirituelle Selbsthilfe etwas näher ausgeführt – immer nur ein Selbst findet. Dieses Selbst ist aber kein Teil von mir oder meinem Ich, sondern radikal anders, weshalb es genau ein Selbst gibt, sozusagen für alle, was nicht schlimm ist, da das Ich ohnehin als Illusion betrachtet wird.
Auch das ist völlig anders, als alles was wir kennen, aber ähnlich wie in der Kosmologie hört es auch hier noch nicht auf. Das Welt und die anderen werden demnach als Projektion des Ich betrachtet und verschwinden daher auch mit ihm, wenn man die Projektionen zurück nimmt. Fragt sich, wie sich dieses Verschwinden anfühlt, wie man es erlebt. Nach Aussagen am ehesten so, dass alles was wir kennen noch erhalten bleibt, mit der Ausnahme, dass das Ich weg ist, das heißt das Gefühl ein Seher zu sein, der von irgendeinem Innen in die Welt, das Außen, schaut ist nicht mehr vorhanden.
Was heißt es dann, dass die Welt verschwindet? Sie ist nicht weg, der Bildschirm wird weder schwarz noch grell weiß, aber alles was ist, bin ich. Die anderen sind keine anderen mehr, weil das diverse Iche voraussetzen würde und die soll es nicht geben, sondern nur ein Selbst. Ich betrachte nicht alles was erscheint, sondern ich bin alles was erscheint. Aber eben nicht im Sinne des alten Ich, das sich als getrennt erlebt, sondern im Sinne des Selbst, das überall ist. So könnte es sein, wenn alles ganz anders ist.
Quellen:
- [1] Josef M. Gaßner/Jörn Müller, Kosmologie – Die größte Geschichte aller Zeiten, S.Fischer 2022, S. 240f
- [2] Josef M. Gaßner/Jörn Müller, Kosmologie – Die größte Geschichte aller Zeiten, S.Fischer 2022, S. 238