Ängste besiegen zu können, ihnen Herr zu werden, ist ein großer Bestandteil eines Lebens, das mehr Gelassenheit bereithält. Im ersten Teil der Artikelserie haben wir unter den Punkten 1-3 psychologische Gamechanger für das eigene Leben besprochen und dabei auch schon indirekt auf die Bewältigung von Ängsten Bezug genommen. Nachfolgend kommen die Punkte 4-6, welche die individuelle Sichtweise elementar ändern können und ein Leben mit mehr Ruhe ermöglichen.

Ängste besiegen durch veränderten Blickwinkel

Ängste haben ihre Funktion, weil sie uns im Ursprung vor gefährlichen Situationen warnen sollten. Würden wir zum Beispiel eine Schlange auf dem Waldboden entdecken, machen wir, ohne groß darüber nachzudenken, Anstalten zu fliehen. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass es sich nicht um eine Schlange, sondern um einen Stock handelt. Die erste Reaktion, der Fluchtinstinkt, verläuft nicht über die cortikalen Areale im Gehirn, weil dieser Verarbeitungsweg länger dauern würde, sondern über Gehirnareale wie die limbischen Gehirnbahnen, die uns in Sekundenbruchteilen in höchste Alarmbereitschaft versetzen und eine schnelle Reaktion ermöglichen. Wir reagieren emotional und motorisch, der Verstand bleibt für diese Sekundenzeit sozusagen außen vor.

Reh blickt wachsam auf, im Hintergrund auf Lichtung andere Rehe

Die Überlebensmodi wie Kampf, Flucht oder Totstellen (Freeze) im Angesicht von bedrohlichen Situationen tragen Tiere und Menschen als evolutionäre Anlage in sich. © Jonas Rösing under cc

Statt Flucht kann es auch einen Kampfmodus geben oder den Freezemodus, also dass wir in einer angstvollen, lähmenden Starre verharren, uns tot stellen. Bei Tieren findet man alle drei Überlebensmodi, wenn sie sich beispielsweise einem Raubtier gegenübersehen. Entweder besteht die Chance für sie auf Überleben durch Flucht oder Kampf oder eher durch den Totstellreflex.
Solche elementaren Reaktionen tragen wir bis heute in uns. Schließlich haben sie sich aus evolutionärer Sicht über die Jahrtausende als Überlebensmechanismen etabliert. Sie sind nützlich – außer bei irrationalen Ängsten von Menschen in der heutigen Zeit.

Die Angst frühzeitig erkennen

Menschen, die mit irrationalen Ängsten zu tun haben, kann ein frühzeitiges Erkennen des Angstmodus helfen, um nicht von den Gefühlen übermannt zu werden. Es gilt, zu bemerken, dass man sich in einem solchen Zustand der Alarmbereitschaft und des „Überlebens“ befindet, ohne das ein rationaler Grund dafür vorliegt. Im zweiten Schritt gilt es nach der Bewusstmachung, innerlich einen Schritt zurücktreten und sich beispielsweise auf etwas anderes zu konzentrieren oder sich zu beruhigen (mittels Spaziergängen, Telefonaten mit Freund:innen, Yoga, meditativen Praktiken etc.). Je nachdem, wie stark und wenig kontrollierbar die Ängste einem erscheinen, ist eine psychotherapeutische Begleitung wie zum Beispiel eine kognitive Verhaltenstherapie empfehlenswert.

In Bezug auf die Angst ergeben sich in Abfolge der Punkte 1-3 aus dem ersten Teil der Artikelserie die folgenden Aspekte 4-6, um zu mehr Ruhe und Gelassenheit im Leben zu finden.

4. Angst ist kein guter Ratgeber

Die Angst in dir versucht dich zu beschützen. Aber vielleicht kennst du diesen Spruch, dass die Angst kein guter Ratgeber ist. Sie ist eher wie ein nervöser Berater, der dich vor allem und jedem warnt. Leider ist sie dadurch auch kein besonders kompetenter Berater, weil sie zu oft als Warnsignal anspringt, alle Energien und Kapazitäten in dir hochfährt, dabei aber in ihrer Bewertung falsch liegt. Schließlich sind die Situationen, von einem neutralen Standpunkt aus betrachtet, nicht unbedingt so, dass eine Angstreaktion erforderlich wäre. Jeder halbwegs erfolgsorientierte Unternehmensvorstand würde die Angst als Unternehmensberater deshalb feuern: Zu viel Ressourcenverschwendung, zu wenig Outcome! Kündigung! (Diesen Vergleich hörte ich zum ersten Mal bei der Psychotherapeutin Stefanie Stahl und ich finde ihn äußerst passend.)

Die Kompetenzen des Beraters einschränken

weiße Tafel mit Schrift, Schema zum Marketing

Einen Berater, der übertreibt und meistens falsch liegt mit seiner Einschätzung, würde jedes Unternehmen feuern. © Matt Ray under cc

Wir können uns also getrost bei der Angst für ihre Wachsamkeit bedanken, sollten aber in Bezug auf irrationale Ängste in eine gewisse Distanz zu ihr gehen. Zukünftig wird sie vom Unternehmensvorstand nur noch für die spezifische Abteilung begründbarer Ängste eingesetzt, also zum Beispiel, wenn sie uns warnt, nicht zu einem fremden Menschen ins Auto zu steigen oder ohne Sicherung eine Felswand hinaufklettern zu wollen.

Wenn wir, wie oben beschrieben, den Angstmodus frühzeitig erkennen und unterbrechen, erleben wir mehr innere Kontrollüberzeugung in Bezug auf negative Emotionen wie Ängste. Streng genommen ist die Angst ja ein im Kopf erzeugtes Gefühl. Wir sind nicht die Angst, sie ist nur für den Moment in uns. Zu jeder Zeit sind wir also über der Angst angeordnet. Das sollte man sich veranschaulichen, um Ängste besiegen zu können.

Annahme von Gefühlen führt zur Regulation

Es ist jedoch wichtig, die Ängste nicht zu verdrängen, weil sie uns dann wie ein übermächtiges Ganzes erscheinen können. Nein, vielmehr gilt es, die Ängste in uns zu akzeptieren, sie auszuhalten und wie auf Wolken an uns vorbeiziehen zu lassen. So behalten wir zwar die Oberhand, akzeptieren aber die Angst in uns.
In der Regel sind die Ängste aushaltbar. Bei starkem Leidensdruck empfiehlt sich jedoch immer eine psychotherapeutische Intervention, die professionell den Umgang mit Ängsten angeht und zu einer Verringerung des subjektiven Leidens beitragen kann.

Übrigens, auch bei anderen negativen Gefühlen wie Wut, Verzweiflung, Trauer etc. gilt das Prinzip, dass deren Annahme zur Regulation führt. Auch diese Gefühle können wir wie auf Wolken an uns vorüberziehen lassen. Außerdem ist es empfehlenswert, nicht jedem emotionalen Impuls eine Handlung folgen zu lassen. Dann machen wir uns zum Spielball unserer Emotionen. Wir wären erstaunt, wie viele Gefühle wir für richtig und wahr erachten, die schon am nächsten Tag keine Wichtigkeit mehr haben.
Die meisten wichtigen Entscheidungen sollten, unter Berücksichtigung des Bauchgefühls, in einer ruhigen Minute mit Vernunft erfolgen, anstatt mit einer impulsgeleiteten Handlung einherzugehen.

5. Problematisches Verhalten = Überlebensstrategie

Nahezu alle problematischen Verhaltensweisen sind im Ursprung Überlebensstrategien. Überanpassung, People Pleasing, Perfektionszwang, Katastrophisieren erschienen uns einst als die beste Option, um mit schwierigen Lebenssituationen umzugehen. Manche Kinder, die sich im Elternhaus stark unterordnen mussten, haben sich eine Strategie der Überanpassung angewöhnt. Sie nehmen ihre eigenen Bedürfnisse zurück, sind ruhig, brav, lernwillig und hilfsbereit – auch noch in ihrem Erwachsenenalter. Sie haben dann Schwierigkeiten, Grenzen zu setzen, ihr eigenes Leben selbstbestimmt zu führen und können wahlweise oft zu einem Spielball oder emotionalen Fußabtreter für andere Menschen werden. Menschen, die sich weniger abgrenzen und für sich einstehen können, haben mitunter eine höhere Neigung zu depressiven Erkrankungen oder Angsterkrankungen.

Erwachsener mit Kind auf Skateboard an der Hand, Schattenbild

Für das eigene innere Kind können wir selbstfürsorgliche Erwachsene sein, indem wir uns um unser Wohlergehen kümmern und eigenverantwortlich agieren. © Boris Thaser under cc

Für das Ängste besiegen ist es demnach wichtig, zu erkennen, dass solche Verhaltensweisen einst dem „Überleben“ in der Kindheit dienten, sie aber heute eine weniger hilfreiche Funktion für uns haben. Sie stehen weder für unser Wohlergehen, noch für eine realistische Abbildung der Realität. Folglich können wir sie, ganz ohne Schuld- oder Schamgefühle, versuchen abzulegen.

6. Ängste besiegen: Selbstwert unabhängig machen

Der eigene Wert oder der Wert deines Lebens hängt nicht von der Bewertung oder den Gefühlen anderer Menschen ab. Wenn wir unser Wohlergehen von anderen Menschen oder Situationen abhängig machen, verleihen wir diesen eine unnötige und völlig fehlplatzierte Macht. Um sich von dem Verhalten anderer Menschen weniger emotional triggern zu lassen, hilft es, ihr Verhalten vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte zu betrachten. Dadurch kommen wir in eine innere Distanz zu der Person. Wir treten aus der Zone, innerhalb derer sie versucht, uns emotional zu erreichen, heraus. Dadurch werden wir vom Empfangenden der destruktiven Botschaft zu einem Beobachtenden. Aus der Passivität und der Opferrolle, in die uns der andere hineindrängen wollte, gehen wir in die Aktivität und das persönliche Kontrollerleben. Wir müssen auf das Verhalten eines anderen Menschen auch nicht reagieren. Die Reaktion der anderen Person liegt in ihrem Verantwortungsbereich. Unsere Reaktion in unserem.

Je mehr wir innerlich abgegrenzt sind, desto stabiler wird unsere innere Mitte, desto ruhiger wird auch unser emotionales Erleben und desto weniger werden unsere Ängste. Alles Gute für dich!

Reminder: Psychologische Inhalte im Internet wie beispielsweise zum Thema „Ängste besiegen“ ersetzen keine professionelle Psychotherapie. Mit einer guten psychotherapeutischen Intervention kann sich dein Seelenleben entscheidend verbessern.