Keine Lust auf Sex in der Partnerschaft oder in verschiedenen Phasen des Lebens ist gar nicht so selten, wie man annehmen möchte. Einige schließen sogar für sich aus, jemals wieder Sexualität praktizieren zu wollen. Die Beweggründe können unterschiedlicher Natur sein. Es gibt viele Facetten von gelebter Liebe. Ebenso variantenreich können die partnerschaftlichen Konzepte sein.
Mehr Sex in einer Partnerschaft führt nicht zwangsläufig zu einer gesteigerten Zufriedenheit, wie Forschende der Carnegie Mellon Universität in Pittsburgh in einer Studie herausfanden.
Sara* und Anastasia* genauso wie Marie* und Thomas* sind zwei Paare in ihren Dreißigern, die für sich beschlossen haben, gemeinsam eine romantische Liebe ohne Sexualität zu leben. Wir haben sie getroffen und mit ihnen über ihren Beziehungsalltag sowie über ihre Gedanken in Bezug auf das, was eine partnerschaftliche Verbundenheit ausmacht, gesprochen.
Inwieweit gibt es körperliche Nähe in eurer Partnerschaft?
Vielen Dank, dass ihr euch die Zeit für ein Gespräch nehmt, um uns eure Einblicke in ein intimes Thema zu gewähren. Mit einer Vorstellung von einer romantischen Beziehung zwischen zwei Menschen werden die meisten wohl auch die gemeinsame Sexualität verknüpfen. Damit zusammenhängend sicherlich das gemeinsame Kuscheln, Umarmungen, Küsse, alles in allem eine körperliche Nähe, die Beziehungspartner:innen miteinander teilen. Wie ist das in euren Beziehungen, inwieweit praktiziert ihr die körperliche Nähe zueinander?
Anastasia: Also wir kuscheln schon viel und schenken uns Nähe. Aus den Umarmungen ziehen wir Kraft und Geborgenheit. Sara und ich küssen uns auf die Wange oder auf den Mund. Alles, was darüber hinausgeht, wollen wir beide für uns nicht.
Sara: In der medialen Gesellschaft herrscht eine Überladung von Sexualität. In der Werbung, in den Filmen, im Internet, überall wo man hinschaut, begegnen einem sexuelle Reize. Ich lebe seit meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr ohne Sex. Und ich verspüre auch keinen Drang mehr dahingehend. In meinem früheren Erwachsenenalter gehörte Sex immer wie selbstverständlich dazu. Es war nichts, worüber man nachgedacht hat. Man hatte Dates und dann schlief man miteinander. Irgendwann begann ich, die ganze Sache zu hinterfragen.
Der Auslöser: »Da wusste ich, etwas muss sich ändern«
Gab es einen direkten Auslöser für den Verzicht auf sexuelle Aktivitäten?
Sara: Bevor ich Anastasia kennenlernte, traf ich mich mit Frauen und Männern. Es war eine wilde Zeit, manchmal wachte ich in Betten auf, deren Besitzer:innen ich am Morgen nicht mal mehr mit dem Namen ansprechen konnte.
(Sara atmet schwer aus. Es belastet sie sichtbar.)
Falls du es nicht erzählen magst, weil es dich emotional mitnimmt, ist das auch in Ordnung.
Sara: Doch ich möchte darüber sprechen. Als ich eines Nachts wach wurde, hockte der Typ, mit dem ich geschlafen hatte, neben mir im Bett. Er rieb sich an mir und war kurz davor zu kommen. Und ich ließ es zu. Bis heute kämpfe ich mit den Tränen, weil ich diese Situation zugelassen habe. Aber ich war gerade erst wach geworden und völlig überrascht von seinem Verhalten. Außerdem hatte ich Angst, weil ich nicht wusste, wozu er noch fähig wäre. Ab da an wusste ich, etwas muss sich ändern. Nun lebe ich seit etwa zwölf Jahren gänzlich ohne Sex und bin dabei sehr zufrieden. Ich habe einfach keine Lust auf Sex und ich glaube, das hatte ich früher auch nicht unbedingt. Da lebte ich es nur so aus, weil Filme und Musikvideos unterschwellig vermitteln, dass ein mit Sexualität verbundenes Leben ein sehr aufregendes Leben ist. Tatsächlich empfinde ich mein Leben mit Anastasia heutzutage viel intensiver. Ich bin weniger abgelenkt.
»Ich verspüre schon Lust auf Sex«
Anastasia: Im Gegensatz zu Sara verspüre ich schon hin und wieder Lust auf Sex. Aber ich habe nicht den Wunsch, diesen mit einem anderen Menschen auszuleben. Ich liebe Sara, aber ich möchte die sexuelle Intimität nur für mich zelebrieren. Für mich ist Sexualität mittlerweile etwas sehr Persönliches, das ich nur mit mir selbst gestalten möchte. Ich kann nicht sagen, ob sich das Bedürfnis später wieder verändern wird und an meine frühere Einstellung angleichen wird. Vorstellen kann ich es mir momentan nicht. Es gefällt mir ohne einen anderen Menschen einfach besser, wenn ich den Vergleich mit meinen Erfahrungen aus früheren Beziehungen ziehe.
Keine Lust auf Sex vs. die Jagd nach sexuellen Eroberungen
Thomas: Als Mann mit traumatischen Kindheitserfahrungen sehe ich mich oft mit den stereotypen Vorstellungen von klassischer Männlichkeit konfrontiert. In der Gesellschaft ist ein männlicher Geschlechtsstereotyp verankert, nach dem wir Männer sexuell performen müssen und auf der Jagd nach sexuellen Eroberungen sind. Ich selbst erlag diesen Vorstellungen.
Marie: Allerdings. Was ich von Thomas über seine Vergangenheit gehört habe, gleicht einem Roman.
Thomas: Aber stolz darauf bin ich nicht. Früher war es ein falscher Stolz, eine Illusion. Heute habe ich mehr Reife, um mein Verhalten mit anderen Augen zu sehen. Früher ging ich mit Freunden in den Club und unser Ziel war es, Frauen aufzureißen. Mit der Zeit merkte ich, wie sehr ein solches Verhalten die Denkweise begrenzt und wie stark mein Umgang mit Frauen darauf reduziert war. Mein sexuelles Streben wurde zu einer Sucht. Als ich Ende Zwanzig war, arbeitete ich meine Vergangenheit therapeutisch auf. Seitdem bin ich auch in Selbsthilfegruppen engagiert, in denen wir uns bemühen, veraltete Geschlechterrollen zu reflektieren.
Marie: Bevor ich Thomas kennenlernte, habe ich nie darüber nachgedacht, ob eine Partnerschaft auch ohne Sex gehen könnte. Andererseits war mir der Sex in einer Partnerschaft auch nie so wichtig. Wenn ich ehrlich bin, war es für mich oft mit einer gewissen Normalität verbunden. Man hört ja immer wieder: Die Sexualität ist der Anzeiger für eine Partnerschaft. Stimmt etwas nicht in einer Beziehung, sieht man es sofort an der Häufigkeit des Sexes. Ich finde das eine sehr veraltete Vorstellung.
Indirekter Anspruch auf Sex in Partnerschaften?
Führen demzufolge die sexuelle Überreizung in den Medien sowie veraltete Vorstellungen dahingehend, was eine glückliche Partnerschaft ausmacht, zu einer sexuellen Übersättigung bei einigen? Eine gewisse sexuelle Ermüdung, bei der die Beteiligten keine Lust auf Sex mehr verspüren?
Marie: Ich denke schon. Für mich zumindest kann ich das so unterschreiben. Sexualität wird mit romantischen Partnerschaften in Verbindung gebracht. Für viele gilt, eine Beziehung ohne Sex ist eine Freundschaft. Früher hätte ich wahrscheinlich auch so argumentiert. Durch die Beziehung mit Thomas konnte ich jedoch erfahren, dass es noch weitere Unterschiede zwischen einer Partnerschaft und einer Freundschaft gibt. Ich hatte sonst immer Partner, die an mich einen gewissen Anspruch auf Sex stellten.
Sara: Wie die Pflichten einer Ehefrau.
»Fühlte mich unbewusst verpflichtet zu Sex«
Marie: Ja, genau! Viele Menschen haben solche Vorstellungen noch immer verinnerlicht. Selbst wenn meine früheren Partner keinen direkten Druck auf mich ausübten, so fühlte ich mich doch unbewusst verpflichtet. Sie warteten unbewusst darauf, fragten manchmal nach, wenn der Zeitraum ohne Sex zu lang wurde. Und dadurch hatte ich dann erst recht keine Lust auf Sex. Dass Thomas in diese Richtung überhaupt keine Versuche unternahm, um mit mir zu schlafen, verunsicherte mich aber dann doch. Am Anfang unserer Beziehung hatte ich sogar Probleme damit, weil Thomas nicht mit mir schlafen wollte. Ich fühlte mich automatisch abgewertet. Und ich dachte, er würde mich nicht anziehend finden. Dementsprechend kam bei mir die Eifersucht auf, da ich davon ausging, andere Frauen würden ihm besser gefallen. Erst mit den Jahren merkte ich, dass er wirklich kein Interesse mehr daran hat. Vielleicht reguliert sich der Sexualtrieb zurück, sobald man ihm nicht nachgibt. Ich weiß gar nicht, wie es wäre, wenn es zwischen uns doch mal zu Sex käme.
»Sex: kein Indikator für emotionale Passung«
Habt ihr schon einmal über diesen eventuellen Fall gesprochen, dass es aus einem intimen Moment heraus zu einer stärkeren körperlichen Nähe kommen könnte?
Thomas: Besprochen nicht direkt. Aber ich glaube, wir gehen beide davon aus, dass der Sex zwischen uns nicht grundlegend etwas ändern würde. Ich kann für mich sagen, ich finde es sehr befreiend, Sexualität außen vor zu lassen. Nach meinem Empfinden habe ich eine ganz andere Sensibilität für Marie, im Vergleich zu meinen früheren Beziehungspartnerinnen. Ich sehe sie viel intensiver. Wir sind inzwischen fünf Jahre zusammen und für mich wird unser gemeinsamer Alltag immer besser.
Woran liegt das, dass du dich so gut fallenlassen kannst bei Marie?
Thomas: Ich finde sexuelle Kompatibilität ist nicht zwingend ein Indikator für eine emotionale Passung. Ich für meinen Teil habe mich, bedingt durch meine Vergangenheit, in dieser Körperlichkeit nie sicher gefühlt. Körperliche Nähe ist für mich mit einem unangenehmen Gefühl verbunden. Deshalb hatte ich sicherlich auch oft im betrunkenen Zustand Sex. Ich musste mich selbst ausblenden. Letztendlich war der Sex für mich purer Stress. Eben weil Marie und ich die körperliche Komponente außen vor lassen, fühle ich mich bei ihr so nah und sicher, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
»Keine Lust auf Sex: Mit dir stimmt etwas nicht«
Anastasia: Das bemerke ich bei mir auch. Sara und ich haben eine unglaubliche Nähe zueinander. Wir sind mit der Annahme aufgewachsen, und sie wird auch heute noch postuliert, Sexualität müsse jedem Spaß machen. Wenn du keine Lust auf Sex hast, dann stimmt etwas mit dir nicht. Du solltest zum Therapeuten gehen oder dich untersuchen lassen. Aber ich frage mich, was ist so schlimm daran?
Sara: Genau. Wir müssen essen, trinken und schlafen, um zu überleben. Darüber hinaus müssen wir aber nichts. Warum darf es im Jahr 2023 keine Menschen geben, die nun mal keine Freude an Sexualität verspüren? Jeder sollte das für sich entscheiden können.
Anastasia: Mir fällt der Vergleich ein, wenn man auf einer Party angeschaut wird, weil man keinen Alkohol trinkt. Manche wollen es halt nicht. Momentan befindet sich die Ansicht bei vielen Menschen diesbezüglich in einem Wandel.
Marie: Stimmt, es wird akzeptierter. Für viele gilt es sogar als übergriffig, sobald man jemanden zu einem Glas Wein oder ein Bier überreden möchte.
Thomas: Es wäre schön, würden wir eine ähnliche Freiheit in Bezug auf die praktizierte oder eben nicht praktizierte Sexualität erlangen können. Marie und ich teilen eine große emotionale Intimität. Wir zeigen uns verletzlich und teilen intime Aspekte des Lebens, die ich mit meinen Freunden beispielsweise nicht teilen würde.
»Wir nahmen etwas weg und erhielten einen Zugewinn«
Sara: Das sehe ich auch so. Darin besteht für mich auch der Unterschied zu einer Freundschaft. Anastasia und ich teilen nicht nur den Alltag miteinander, gemeinsame Aktivitäten, Hobbys, Alltagsprobleme, sondern wir fühlen uns wie eine Familie. Anastasia hat aus einer früheren Partnerschaft ein Kind. Wenn ihr Sohn bei uns ist, teilen wir die Familienzeit miteinander, unternehmen gemeinsam Dinge und haben Spaß wie jede andere Familie auch. Fragt mich jemand, wie es ist, in einer Partnerschaft ohne Sexualität zu leben, fällt mir immer meine damalige Umstellung von einer Mischkost auf eine vegetarische, überwiegend pflanzliche Ernährung ein.
Anastasia: Ich liebe ihren Vergleich. Der ist passend.
Sara: Bei dem klassischen Drei-Komponenten-Essen hast du immer Fleisch auf dem Teller. Das Gemüse ist nur die Beilage. Lässt du das Fleisch aber weg, fällt dir überhaupt erst einmal auf, wie unglaublich variantenreich und vielfältig die Gemüsesorten und das damit zubereitete Essen ist. Wir nehmen wesentlich mehr Gemüsesorten zu uns im Vergleich zu den verschiedenen Fleischarten. In ähnlicher Form ist das für mich auch bei einer Partnerschaft ohne Sexualität. Oberflächlich betrachtet haben wir einen Aspekt der Partnerschaft weggenommen, doch bei näherem Hinsehen ist es ein Zugewinn für unsere Intimität.
»Offene Kommunikation ist entscheidend«
Anastasia: Ein entscheidender Punkt ist, miteinander in Kontakt zu bleiben und über die Bedürfnisse beider zu sprechen, stets eine offene Kommunikation zu pflegen. Sara und ich hatten in der Kindheit beide Angst, mit unseren Eltern in den direkten Austausch zu gehen. In unseren Herkunftsfamilien wurde nicht offen kommuniziert. Deshalb haben wir zwei uns geschworen, nie den Gesprächsfluss zwischen uns versiegen zu lassen.
Letztendlich schafft eine Partnerschaft einen Raum zwischen zwei Menschen, die beide an der Ausgestaltung beteiligt sind. Basierend auf ihren eigenen Bedürfnissen und Antrieben wird das Miteinander kreiert. Besteht keine Lust auf Sex in einer Partnerschaft, gilt diese Form des partnerschaftlichen Zusammenlebens lediglich als eine weitere Facette dessen, was an gelebten Beziehungen möglich ist.
*Namen von der Redaktion geändert.