Die Normalität ist auch zum verrückt werden

Er ist ganz in seiner eigenen Welt versunken. Sollten wir ihn bedauern, beneiden, beglückwünschen? Hören wir lieber, was er dazu zu sagen hätte. Wikimedia/DIRECTMEDIA Publishing GmbH gemeinfrei
Schauen wir uns nur an, was heute normal ist: Krieg, Klimawandel, wachsende Aggression und Armut, eine durch Überbürokratisierung zunehmend gelähmte Gesellschaft. Was machen wir? Weiter. Warum eigentlich? Sind wir verrückt, dass wir uns darüber wundern, dass das, was man uns vor Jahrzehnten schon als Folge angekündigt hat, wenn wir uns nicht ändern, dann auch tatsächlich so eintrifft, weil wir nichts geändert haben? Sind wachsende Ängste, Depressionen und sonstige Beschwerden da nicht eine angemessene Reaktion? Aber sind schizophrene Menschen dann supergesund, auch wenn oder gerade weil sie mit der Welt nicht klar kommen. Das ist auch kein sehr überzeugendes Kriterium, da man nicht alles, was bedrängt aus der Welt schaffen kann.
Unsere Normalität birgt vielleicht den Hauptfehler in sich, dass man die Subjekte und ihre Innenwelt marginalisiert. Man hat zu funktionieren, wie ist egal, wenn nicht, wird man ausgetauscht. Doch es gibt vier Trends die dem entgegenstehen: Erstens, der demographische Wandel in Europa, der immer weniger junge Arbeitskräfte auf den Markt spült, zweitens, der bewusste Aspekt, dass die, die noch da sind, andere Vorstellungen von der Arbeitswelt haben und diese auch einfordern. Drittens, der unbewusste Protest, durch Menschen, die psychisch krank werden und einfach nicht mehr können. Viertens, gibt immer mehr Menschen, die diese Zusammenhänge durchschauen und Menschen nach ihren Neigungen einsetzen, dort wo es ihnen Spaß macht, statt sie irgendwo zu verheizen, weil ja im Zweifel viele andere Schlange stehen.
Damit wird der Einzelne vom Verschiebepüppchen auf einmal zu einem Akteur, dessen Einstellungen und Vorstellungen wirklich zählen, der kompetent mitgestaltet. Genau dieser Trend, hin zu einem viel stärkeren Subjektivismus, der das Individuum nicht nur als Datenträger und Experimentierfeld sieht, sondern als einen starken Akteur im Spiel, ist in der multimodalen Schmerztherapie zu beobachten. Aber nicht nur da, auch neue Ansätze der Psychiatrie und Psychotherapie gehen in die Richtung, das subjektive Empfinden und den Umgang eines Menschen mit bestimmten Symptomen ernst zu nehmen. Wenn innere Stimmen oder bestimmte Zwänge den Betroffenen gar nicht stören, warum soll man sie mit großer Anstrengung versuchen weg zu bekommen? Nur weil es irgendwelchen Normvorstellungen nicht entspricht? Die Normierung von allerlei Werten haben uns ja zu einer Biologisierung der Psychiatrie und Psychologie geführt, nur blieben die Erfolge großenteils aus.
Objektivität und Subjektivität
Das Problem ist, dass der Begriff Objektivität einen gewissen Wohlklang erzeugt. Damit sind weitere Begriffe wie Wahrheit, Genauigkeit, besseres Wissen verbunden, während subjektiv so nach willkürlicher Empfindung klingt. So wurde es, nicht ohne Ideologie, aber auch über Jahrzehnte verbreitet, dass Subjektivität irgendwie minderwertig ist. Aber das ist ein ideologischer Drill oder wenn man es milder formulieren will, Mode, eine Gewohnheit.
Die subjektive Aneignung und Einbindung von psychiatrischen Symptomen, ist ein prognostisch positiver Aspekt. Wenn man sie zu einem Sinnganzen erweitert und diese sinnvolle Ganzheit kann nur eine sein, die für den Menschen Sinn ergibt, der diese Symptome erlebt hat. Man rätselt bis heute noch daran herum, ob nicht manche Erfahrungen von Mystikern eine Krankheit als Ursache hatten. Vielleicht, aber für manche können die Symptome Auslöser höchster Erfahrungen sein, für andere sind sie ein quälender Albtraum. Die Fähigkeit die Symptome in ein authentisches Sinnganzes einzubinden macht mit Sicherheit einen gewaltigen Unterschied aus.
Der Philosoph Wolfram Eilenberger weist immer wieder darauf hin, dass die durchaus naheliegende Möglichkeit mystische Erfahrungen als Folgen großen Leidens darzustellen, für die Erlebenden überhaupt keine Option ist. Die subjektive Wucht ist so groß, dass Versuche der Erklärung bestimmter Normabweichungen und damit Versuche diese Erfahrungen objektivierend darzustellen, ganz einfach lächerlich wirken. Damit macht auch er die Bedeutung des Subjektivität stark.
Spitzwegs Bilder und die psychologische Diagnostik
Alle Zeiten und Kulturen haben ihre eigenen Vorstellungen von Normalität. Daraus ergibt sich immer wieder die Frage nach den Schnittmengen und Größen, die eventuell für alle gelten. Die Formulierung universeller Menschenrechte folgt dieser Einstellung für die psychiatrische und psychologische Diagnostik würde die starke Beeinträchtigung lebenswichtiger Funktionen als pathologisch gelten, wenn ein Mensch sein Leben nicht mehr eigenständig organisieren kann, was in erster Linie für schwere Formen von Demenzen, Suchterkrankungen und Psychosen gilt.
Wenn wir die Funktionalität der Gesellschaft nicht ganz vergessen, sind sicher auch schwer antisoziale Züge bedenklich, auch wenn der Serienmörder privat gut für sich sorgen kann und halbwegs zufrieden ist. Aber es gibt Psychopathen, die ihr eigenes Potential kennen und beherrschen können.
In Carl Spitzwegs Bildern finden wir immer wieder einen Blick auf das Leben in sozialen Nischen. Menschen, die abseits der damaligen Norm lebten, manchmal als soldatischer Vorposten oder Eremit im buchstäblichen Sinne an den Rändern der Gesellschaft, oft auch mitten in der Stadt, jedoch irgendwie abgeschottet in ihrer eigenen Welt. Doch ihr Dasein wirkt in Spitzwegs Darstellung selten trist und gescheitert. Manchmal etwas schrullig, aber man kann sich vorstellen, dass manche Exzentriker in ihrer Nische besser aufgehoben sind und mehr aufblühen können, als in dem, was zur jeweiligen Zeit als gerader Weg gilt.
Auch hier wäre es geraten, die Menschen zu fragen, wie sie sich fühlen, bei der Zucht ihrer Kakteen oder vor ihrem Bücherregal. Auch hier entscheidet nicht das Symptom, nicht der Blick oder die Bewertung von außen, das Subjekt selbst gibt uns die relevante Auskunft. Sie haben ihre für sie und die Gesellschaft passende Position gefunden und sind vermutlich glücklicher als auf dem üblichen Weg.
Für die Gesellschaft ist es gut, wenn sie ihre Individuen fragt, für diese ist es gut, wenn sie kompetent Auskunft geben können. In der multimodalen Schmerztherapie hat sich das schon bewährt, für die psychiatrische und psychologische Diagnostik darf man erwarten, dass es Fortschritte bringt. Das Subjekt und seine innere Welt sollten uns wieder interessieren, damit können wir den vor 250 Jahren eingeschlagenen, einseitigen Weg erweitern.
Quellen:
- [1] Verrückt – Die Normalität des Wahnsinns (1/4) – WDR 5 Tiefenblick, 07.01.2023, von Martin Hubert https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/tiefenblick/tiefenblick-verrueckt-feature-100.html