Der sexuell perverse Westen

Regenbogenflagge mit Aufschrift: All are welcome

Sind im Westen alle willkommen? © Jennifer Boyer under cc

Man könnte die Vorwürfe immer feiner verästeln und an ihnen ist sicher etwas dran, doch auch die Antworten sind nicht von der Hand zu weisen, jede Seite sieht ihre Argumente als die besseren an. Wir werden einige später näher betrachten.

Auffallend ist, dass sich die Kritik am Westen immer wieder auch an dem Umgang mit Sexualität entlädt. Von innen und neuerdings auch von außen. Hier gibt es vor allem den Vorwurf, der Westen würde zu liberal mit der Homosexualität oder der LGBTIQ Szene und Pornografie umgehen.

Generell ist es so, dass Homosexualität in urbanen und subkulturellen Inseln im Westen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelebt wurde, sowohl in den USA, als auch in Deutschland.[2][3] Offiziell wurde die Homosexualität in den USA zuerst 1962 in Illinois erlaubt, in anderen Bundesstaaten konnte sie bis 2003 bestraft werden.[2]

In Deutschland wurden Homosexuelle in der Nazizeit strafrechtlich verfolgt, in der Bundesrepublik ist die Homosexualität seit 1969 straffrei, der DDR war man da deutlich schneller.[4]

„Anfang 2017 wurden die Ergebnisse einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) aus 2016 bekannt. Demnach sind 95 Prozent der Befragten der Meinung, dass es gut ist, Homosexuelle gesetzlich vor Diskriminierung zu schützen. 80,6 Prozent sind außerdem der Meinung, dass Lesben und Schwule auch heute noch unter Herabwürdigung und Ungleichbehandlung zu leiden haben.“[5]

Dass Homosexuelle im Westen übermäßig protegiert werden, kann man nicht behaupten, sie werden nur nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Die Homosexualität wird von nahezu allen Weltreligionen kritisch bis ablehnend gesehen und so haben es Homosexuelle im ländlichen, konservativen und religiösen Milieu allgemein schwerer als in den urbanen Regionen und in Teilen der Künstler- und Kreativenszene, die auch die erwähnten subkulturellen Inseln des frühen 20. Jahrhunderts darstellten.

Auffällig ist jedoch, dass der sexuelle Missbrauch in der katholischen Kirche, die sich extrem schwer damit tut Homosexualität anzuerkennen, verglichen mit den Zahlen sonstiger Missbrauchssituation sehr hoch im Bereich von männlichen Kindern und Jugendlichen ist. Zugleich werden die Zahlen des Missbrauchs in der Kirche stark in den Fokus gerückt, die bei weitem meisten Fälle treten im familiären Bekanntenkreis auf, gefolgt von der eigenen Familie.

Es existiert der Vorwurf, es sei ein bewusstes politisches Programm des Westens, andere Nationen oder Regionen mit ihrem Werterelativismus oder einer zu ausgedehnten Toleranz zu infizieren, die auch die Sexualität einschließt und sich dabei moralisch überlegen zu gebärden. Aus einer liberalen Position kann man argumentieren, der Westen solle demütiger sein, weil auch er keineswegs über eine lange Tradition in Sachen Gleichberechtigung verfügt, der Weg von einer Aufhebung des Verbots zur wirklichen Akzeptanz ist weit und keineswegs beendet.

Aus einer konservativen Position heraus könnte man argumentieren, der Westen hätten keine ausreichenden gesellschaftlichen Schutzmechanismen und ließe sich inzwischen, durch eine falsch verstandene Toleranz von jeder Minderheitengruppe auf der Nase herum tanzen. Die Frage ist, wo Konservativismus in Autoritarismus übergeht.

Schaut man sich die Punkte der F-Skala zur autoritären Persönlichkeit an, dann findet man, dass manche der Kritikpunkte am Westen von einer solchen Einstellung herrühren. Darauf gehen wir später noch ein.

Es wird immer wieder – zuletzt auch von einem unserer Gastautoren – eine Nähe von Pornografie, die durch das Internet praktisch jedem (dessen Staat über die betreffende Infrastruktur verfügt) und immer zur Verfügung steht und Narzissmus gezogen und auch zur Kinderpornografie, die immer mehr von Kindern und Jugendlichen selbst konsumiert und verbreitet wird. Je nach Quelle ist es unterschiedlich wo in der Welt die meisten Internetpornos konsumiert werden, aber Deutschland ist immer weit vorne mit dabei. Siehe hier, hier und hier.

Wofür steht der Westen? Auf der einen Seite wollen wir die Freiheit und Gleichberechtigung von Frauen und fordern diese ein, wenn es um Diskussionen von Verschleierung oder Kopftuch geht, aber die Frage, wie der Westen mit Frauen umgeht, wenn diese auf Sexobjekte reduziert werden und in erschreckend hohem Ausmaß Gewalt erleben müssen wollen wir nicht so gerne hören. Doppelmoral?

Die Verfügbarkeit von Pornos zu jeder Zeit ist kein Zeichen einer sexuellen Befreiung und Offenheit, sondern eher die Reduzierung der Liebe auf einen Pol, den von Lust und Leidenschaft. Liebe wird aber als die Integration von sexueller Leidenschaft und Zärtlichkeit und Sorge angesehen. Im konventionellen Film ist gewöhnlich die Sexualität zugunsten der trauten, asexuellen Zweisamkeit unterdrückt, im Porno spielt die Beziehung und Begegnung auf Augenhöhe keinerlei Rolle. Welche Seite der Liebe unterdrückt ist dabei eher nebensächlich, beide Einseitigkeiten verhindern die Ausbildung des ganzen Spektrums.

Was ist eigentlich normale Sexualität und wer sagt das?

Eine eigene Diskussion, die hier zu kurz kommen muss, aber sie sollte dennoch angerissen werden. Wer hat das Recht, wem zu sagen, was richtig und was falsch in der Sexualität ist? Man kann sicher sagen, dass hier objektive wissenschaftliche Kriterien besser sind, als politische Vorurteile, aber auch die Wissenschaft steht unter dem Einfluss gesellschaftlicher Entwicklungen, besonders eine Wissenschaft des Menschen, wie die Psychologie es ist.

Allgemein kann man dennoch sagen, dass eine stabile Beziehung auf Augenhöhe, in der es gelingt Leidenschaft, Respekt und Sorge zu integrieren als normale Sexualität gelten kann, was zugleich die Sexualität mit Schutzbefohlenen ausschließt, da diese abhängig sind. Bei uns stehen diesen Formen der Sexualität unter Strafe.

Auch wenn die psychologische Erforschung der Sexualität und Aggression und ihrer Bedeutung für Psyche und Gesellschaft durch Sigmund Freud im Westen begonnen wurde, so stellt der Psychoanalytiker Otto Kernberg doch fest, dass es weiterhin gerade im Westen konventionelle Mythen gibt:

„Hier betrete ich ein schwieriges Terrain. Oft ist zu hören, vor allem in konservativen psychoanalytischen Kreisen, dass die harten Zeiten, die die Psychoanalyse gerade durchmacht, damit zu tun haben, dass Freuds Entdeckungen für die konventionellen Ansichten der Menschen nach wie vor eine große Bedrohung darstellen. Ich glaube, dass die Sichtweise die ernsthaften Schwierigkeiten unterschätzt, in die sich die Psychoanalyse selbst gebracht hat; sie hat ihren Ruf als isolationistisch, elitär und voreingenommen gegenüber empirischer Forschung kritiklos hingenommen, ja zuweilen selbst befeuert. Doch ist die eingangs zitierte Sichtweise – ein hartnäckiges Festhalten der westlichen Welt an einigen konventionellen Mythen – durchaus zutreffend. Das betrifft

  • den Mythos von der sexuellen Unschuld des Kindes,
  • den Mythos, dass der Mensch von Grund auf gut ist, sowie
  • den Mythos, dass bei einer menschlichen Begegnung zumindest eine der beiden Parteien der anderen zu helfen bemüht ist.

Max Gitelson fasste dies in einfachen Worten zusammen: „Es gibt viele Menschen, die an die Psychoanalyse glauben, außer wenn es um Sex, Aggression und Übertragung geht.“[6]

Wenn Kernberg den Mythos von der sexuellen Unschuld des Kindes anspricht, so heißt das, dass es falsch ist, dass Kinder asexuelle Wesen sind, aber es heißt zugleich in keinem Fall, dass sie in irgend einer Weise sexuell zur Verfügung stehen dürfen. Sexuelle Übergriffe von Erwachsenen auf Kinder sorgen im Gegenteil dafür, dass es zu schweren Irritationen in ihrer Entwicklung kommt, mit oft tiefgreifenden Störungen, auch wenn die Täter ‚ganz lieb‘ waren und es in ihrem Selbstbild nicht böse meinten.

„In ihrem grundlegenden Werk „Kreativität und Perversion“ (1984) beschreibt Chasseguet-Smirgel die „perverse“ Lösung von Kindheitserlebnissen, die die traumatischen Implikationen, die Teil der gewöhnlichen menschlichen Entwicklung sind, in hohem Maße potenzieren. Ausgehend von der ödipalen Situation als universalem menschlichen Konflikt beschreibt Chasseguet-Smirgel zunächst das narzisstische Trauma des Kindes, von den intimen Beziehungen der Eltern ausgeschlossen zu sein und nicht in der Lage zu sein, mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil um den andersgeschlechtlichen Elternteil zu rivalisieren. Dieses Trauma wird durch die universale Verführbarkeit verstärkt, deren Ursprung in den unbewussten erotischen Strömungen liegt, die das Kind mit dem andersgeschlechtlichen Elternteil verbinden, sowie der Kastrationsangst als archaischer Ausdrucksform der unbewusst gefürchteten Bestrafung für die ödipalen Wünsche, zu denen Inzest und Mord gehören. Die außergewöhnlich starke Wirkung dieser Traumata im Falle schwerer Entwicklungspathologien mündet, so Chasseguet-Smirgel, in die „perverse Lösung“:

  • Verleugnung des Geschlechtsunterschiedes, um die Kastrationsangst abzuwehren;
  • Verleugnung des Altersunterschieds, um Inzest zu legitimieren; und
  • Verleugnung der privilegierten Funktionen der Genitalien.

Diese abwehrbedingte Verzerrungen führen dazu, dass nunmehr alle körperlichen Aspekte gleich sind: Es gibt keine Alters-, Geschlechts- und Organunterschiede. Diese universale Gleichwertigkeit zerstört jedes Gesetz und jede Ordnung, sie leistet einer mit Sexualität verdichteten Aggression sowie einer „analen“ Verwandlung der Objektbeziehungen Vorschub, in dem Sinne, dass die Beziehung zu einem Objekt eine völlig undifferenzierte, entwertende und ausstoßende Qualität enthält.“[7]

Beide Zitate müssen zusammen gesehen werden, das erst gibt uns ein Verständnis für das ganze Bild. Es ist die relativistische und manchmal auch falsch verstandene, pluralistische Auflösung aller Grenzen, die hier ein Problem darstellt. Das wird in linksliberalen Kreisen nicht gerne gehört, aber auch in konservativen Kreisen existiert das Problem und es täte uns gut, zu erforschen, wie ein Ausweg aussieht, der die Stärken und Schwächen beider Seiten benennt.

Toleranz kann jedoch auch eine beschönigende Bezeichnung für kaltes Desinteresse sein. Doppelmoral und Moralismus, eine betonte Übermoralisierung, gerne für eine kurze Zeit und in einem sehr eingeschränkten Gebiet, deren Interesse dann auch schnell wieder nachlässt, sind weitere Vorwürfe. Wofür steht der Westen? Wir gehen den Spuren nach und schauen, ob man eine Antwort finden kann, indem man die einzelnen Themen, auch die oft verdrängte Sexualität, aus verschiedenen Blickwinkeln immer wieder ein wenig anders betrachtet. Im besten Fall finden wir eine Deutung, die konstruktiv in die Zukunft weist.

Quellen:

  • [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Westliche_Welt
  • [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Homosexualit%C3%A4t_in_den_Vereinigten_Staaten
  • [3] Florian Illies, Liebe in Zeiten des Hasses, S.Fischer 2021
  • [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualit%C3%A4t_in_Deutschland
  • [5] https://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualit%C3%A4t_in_Deutschland#Gesellschaftliche_Situation
  • [6] Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S. 301
  • [7] Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression – Ein unzertrennliche Beziehung, Schattauer 2014, S. 325f