Einhegung des Ich

abstrakt gemischte Farben

Gemischt bilden sie diverse Muster. © Isengardt under cc

Durch die Zeiten wurde das Ich immer wieder eingehegt. Der Vertrag zwischen Gesellschaft und Ich lautete: Verhalte dich anständig, dann bekommst du Schutz und Anerkennung von der Gesellschaft. Anständig hieß, ein gewisser Triebaufschub, Aggression und Sexualität wurden gebändigt.

Es gab auch einen Preis dafür, gerade in religiösen Zeiten und Kulturen, ein besseres Leben im Jenseits. Manche halten das für den besten Trick der Weltgeschichte, aber so oder so, im Westen wurden die Religionen entzaubert, man bewertete das als Befreiung, da man sicher war, dass es so was wie Jenseits, Paradies und dergleichen nicht gibt, doch legten die Religionen den Menschen nicht nur Gebote und Verbote auf, sie gaben ihnen gleichzeitig Orientierung und Sinn.

Heute fragt man: Ein anständiger Mensch? Wofür? Was habe ich davon? Tatsächlich gibt es viele Situationen in den es fragwürdig erscheint, ob Fleiß und Gehorsam heute noch ausreichen, um gut durchs Leben zu kommen. Die Aussicht auf ein besseres Leben im Jenseits ist weg. Es gehört zu den seltsamen Aushängeschildern unserer naturwissenschaftlich geprägten Welt, damit klar zu kommen, dass wir irgendwo in einem riesigen Universums leben, das eine einzige Sinnwüste ist und um Sinnfindumng im kleinen hat man sich selbst zu kümmern. Social Media Profil und Sommerurlaub sind die Gegenmittel.

Da kann und muss das Ich, das sich dem Ich-Ideal unterworfen hat dann austoben und versuchen seine Einzigartigkeit darzustellen, wie die anderen Millionen User. Die Zahl derer, die sich wie Verlierer fühlen, wird dadurch gewaltig erhöht. Die alte Formel war, dass man sich zufrieden und angekommen fühlen konnte, wenn man so war, wie die anderen, die neue lautet, dass man das nur kann, wenn man die Konkurrenz überflügelt.

Volkstümliche Religionen und ihre esoterischen Linien

Es gab schon immer eine breite Variante der Religion fürs Volk, die Arten des Gehorsams vorschrieb, doch man fragte sich auch immer schon, ob das alles und diese Variante die einzige ist. Viele Religionen haben für diese Fragen noch eigene, esoterische Lehren, in die Berufene dann eingeführt wurden.

Die Idee die Extreme zu meiden ist jedoch nicht unbedingt mit dem Mittelmaß gleichzusetzen. Im Buddhismus ist diese Aufforderung zwar volkstümlich, aber zugleich heißt es, dass dies ein Weg ist, den sehr wenige gehen. Es geht nicht darum gehorsam zu sein, sondern die Polarität von Liebe und Hass, gut und böse, richtig und falsch zu überwinden. Das ist schon sehr esoterisch, im eigentlichen Sinne des Wortes, dass es auf einen engen Kreis von Menschen begrenzt ist. Entsprechend selten ist es natürlich auch im Osten.

Die Idee dahinter ist allerdings nicht lauwarm zu sein, sondern beide Seiten erst einmal anzuhören und verstehen zu wollen. Wir sind oft festgelegt und meinen dann, es sei schon besonders originell bei allem dagegen zu sein, doch das ist sehr vorhersehbar. Kennt man ein Thema, für oder gegen das jemand ist, kennt man oft auch schon alle anderen. Wenn man die besten Argumente beider Seiten hört, kann es vorkommen, dass man sich nicht entscheiden kann, weil man findet, beide Seiten hätten gute (oder schlechte) Argumente.

Das ist keine Entscheidungsschwäche, sondern die Fähigkeit die Spannung der Ungewissheit auszuhalten. Man weiß es gerade nicht, kennt sich noch nicht genug aus, vielleicht interessiert es einen auch nicht, sich da tiefer einzugraben. Aber das muss man ja auch nicht. Für manche ist das schwer zu ertragen. Die brauchen eine klare und feste Meinung und weil sie oft unsicherer sind, als sie selbst wissen, müssen alle anderen ihre Meinung teilen.

Was akademisch klingt, kennen wir von Diskussionen über Corona und den Russland/Ukraine Konflikt, da hat es tiefe Verwerfungen im engsten Umfeld gegeben. Selbst wenn man die Argumente beider Seiten nachvollziehen kann, kann man sich privat für eine der Seiten entscheiden, dreht aber nicht durch, wenn ein anderer Mensch aus dem nahen Umfeld sich anders entscheidet. Das ist eine der Schattenseiten der Unterwerfung unter das Ich-Ideal, man wird entweder vollkommen gleichgültig (außer, wenn die eigene Komfortzone angekratzt ist) oder intolerant. Wenn ich großartig bin, ist die Ablehnung eines Teilbereichs gleichbedeutend mit der Ablehnung meiner ganzen Person.

Die graugoldene Mitte schimmert für diese Menschen mehr ins Grau und erscheint ihnen völlig unattraktiv, aber wenn wir den Trend in Richtung Narzissmus wieder zurückdrehen oder überwinden wollen, brauchen wir einen neuen großen Identifikationsraum. Der Fortschrittsoptimismus der frühen 70er war ja etwas, was sich gut anfühlte. Nahezu alles was das Ich einhegt haben wir verworfen, aber wenn man begreift, dass Narzissmus die kompensatorische Antwort eines Ichs ist, was verunsichert ist, wissen wir auch, was uns fehlt. Gliedert man sich dann wieder in die graugoldene Mitte ein, triumphiert man vielleicht nicht über alle anderen, aber man hat es auch nicht mehr nötig.

Quellen:

  • [1] Wann kann Narziss ein Vorbild für Sie sein? WDR 5, Das philosophische Radio. 24.10.2022, https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/philosophisches-radio/isolde-charim-100.html