Krankenbett mit Frau

Kranksein im Bett in früheren Zeiten. Sicher stilisiert, aber doch auch als Auszeit erkennbar. © simpleinsomnia under cc

Über das Kranksein zu schreiben, heißt, immer nur bestimmte Aspekte, Gedankensplitter herausgreifen zu können. Zu umfassend ist das Thema.

Dennoch hoffe ich, dass die innere Beziehung zwischen einigen Bereichen hier und da sichtbar wird.

Die Grenze, die man nicht kennt

Es scheint nur auf den ersten Blick einfach zu sein, dann hört es sich in etwa so an: Man kommt in den meisten Fällen halbwegs gesund auf die Welt, wächst gesund auf, das ist der Normalzustand, aus dem einen dann hin und wieder die eine oder andere Krankheit herausreißt. Bis schwere Krankheiten einen treffen, vergehen in der Regel etliche Jahrzehnte, im Alter scheint das leider oft unvermeidlich. Doch bis dahin ist man, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, in der Regel gesund. Der gesunde Mensch, ist also der Normalfall. Wirklich?

In den Buch Krankheit als Weg von Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke ist eine Untersuchung von E. Winter aus der Jahr 1959 aufgeführt, in dem in Interviews mit 200 Gesunden folgende Beschwerden heraus kamen:

„Verstimmungen, Magenbeschwerden, Angstzustände, häufige Halsentzündungen, Schwindel, Ohnmacht, Schlaflosigkeit, Dysmenorrhoe, Obstipation, Schweißausbrüche, Herzschmerzen, Herzklopfen, Kopfschmerzen, Ekzeme, Globusgefühl, rheumatische Beschwerden.“[1]

In absteigenden Prozentanteilen, von 43,5 bis 5,5%.

Gut, könnte man sagen, 1959, ist ja nun schon sehr lange her, seit dem hat sich so viel verändert, dass man das nun wirklich nicht mehr vergleichen kann. Doch 2013 erschien ein Artikel in The Lancet, auf den in der Welt Bezug genommen wird:

„Demnach ist die Menschheit alles andere als kerngesund: Im Jahr 2013 hatte nur einer von 20 Erdenbürgern kein gesundheitliches Problem. Mehr als ein Drittel hat fünf und mehr Beschwerden. Die Zahl derer, die mehr als zehn Krankheiten mit sich herumtragen, stieg um 52 Prozent.“[2]

Führend sind Rückenschmerzen und Depressionen, es folgen Eisenmangel, Angsterkrankungen, Hörprobleme, Nackenschmerzen und Beschwerden des Bewegungsapparats. In Europa Stürze.

Aber trotzdem gibt es doch diese Grenze zwischen krank und gesund, oder? Nun, man hat sie nie gefunden oder befriedigend definieren können. Subjektive Kriterien haben den Nachteil, dass man sich kerngesund fühlen kann, doch der Körper ist schon voll mit Krebs. Objektive haben den Nachteil, dass die Untersuchungen immer wieder zum Vorschein bringen können, man habe nichts, aber man sich hundeelend fühlen kann. Eine Mischung klingt gut, aber wie soll die aussehen? Es bleibt ein Rest von Willkür.

Kranksein

So wenig, wie es die schroffe Unterteilung zwischen krank und gesund in sinnvoller Weise gibt – für den Hausgebrauch schon – so wenig gibt es die eine Art des Krankseins. Im Kranksein laufen dann mehrere Linien zusammen, die man guten Gewissens als psychosomatisch oder biopsychosozial bezeichnen darf. Gemeint ist das Zusammenspiel. Ein Sandkorn im Auge muss man nicht als psychosomatisch bezeichnen, aber schon diese minimale Ursache hat psychische Auswirkungen und wird als außerordentlich störend erlebt.

Kranksein hat eine gesellschaftliche Folge, etwa, indem man bei der Arbeit ausfällt. Aber Kranksein hat auch noch eine kulturelle Komponente. Ich weiß gar nicht, ob diese Disposition in ‚der deutschen Seele‘ in besonderer Weise angelegt ist, zumindest ist hier viel zu finden. Thomas Manns Der Zauberberg ist ein vielschichtiges Buch. Der Aufhänger ist die Geschichte des jungen Hans Castorp und seiner Reise in ein Lungensanatorium in Davos und gleich zu Anfang erfahren wir, dass hier auf dem Zauberberg die Zeit so sonderbar anders vergeht. Mit dem Überschreiten der geografischen und Höhengrenze, treten wir gleichzeitig in eine ganz seltsame Zeitzone ein.

Hier oben ist das Leben von eigenen Rhythmen bestimmt, die sich um das Wetter aber vor allem auch um den Alltag im Sanatorium und das Kranksein, die Tuberkulose dreht. Und natürlich um die Irrungen und Wirrungen der großen Themen, wie Weltanschauungen, Liebe und menschlichen Charakterzügen. Die vielleicht im Kranksein noch mal deutlicher, regressiver hervortreten?

Doch nicht nur auf dem Zauberberg ist Kranksein die Grenzüberschreitung zur Anderswelt, das gilt für andere Institutionen auch. Für den Arztbesuch und das Krankenhaus. Wenn der Tod der große Gleichmacher ist, dann ist die Krankheit ein mittelgroßer. Denn, egal wer man ist, spätestens im Krankenhaus ist man in aller erster Linie Patient. Ein seltsames und wie man immer wieder lesen kann an sich irrationales Ritual. Wer ins Krankenhaus kommt, bekommt ein Bett zugewiesen. In der Regel wird man auch seiner normalen Kleidung beraubt und hat ein Engelhemdchen zu tragen oder eben den krankenhaustypischen Funktionslook: Leggins, Joggingklamotten, Schlappen.

Auf den de luxe Stationen, der Reichen und Schönen wird mehr Exklusivheit suggeriert, der Fernseher ist breiter, das Essen besser, die Zimmer wie im Sterne Hotel, der Arzt gerne der Chefarzt. Doch letztlich ist man auch hier primär krank.

Von der Kur zur Reha – und das Internet

Einbrüche in diese Anderswelt gibt es dennoch. Die Kur, das war so ein merkwürdiges Zwischenreich. Hier trafen sich dereinst Vorsorge und Nachsorge. Zur Kur ging man, man bekam sie vom Arzt verschrieben, damit man nicht krank wird. Oder nicht wieder krank wird, auch nach einer Krankheit, zur Regeneration. Oft mit Tanztee und Kurschatten, man kam mal raus, sah was anderes und konnte sich verlieben oder flirten. Auch weil soziale Schranken aufgehoben waren oder anders gewichtet wurden.

Es gab und gibt auch Profipatienten, die den anderen das Spiel erklären. Sie sind immer wieder im Krankenhaus und in der Reha, aus diversen Gründen. Die klassische Kur gibt es heute nicht mehr. An ihre Stelle ist die Reha getreten und damit ein nach besten Kriterien durchoptimiertes Programm, das einem hilft, schnell wieder Schritte zurück ins Leben zu machen. Straff organisiert, mit einem strengen Stundenplan, Teilnahme verpflichtend, sonst steigt einem die Krankenkasse aufs Dach. Da ist man abends geschafft. Der Einbruch der Anderswelt wird reduziert, man kommt dem immer näher, was man aus dem normalen Leben ohnehin kennt, andauernd im Dienst zu sein, nun auch in der Reha.

Die Kur war anders, eine Bastion der Anderswelt, des Außeralltäglichen, was ansonsten in den Bereich des religiösen Rituals und der Kunst gehört. Das ist auch eines der Probleme, wir brauchen diese anderen Bereiche, diese Auszeiten, diese Brüche mit der Normalität. Noch ein wenig anders geworden ist es durch Smartphone und Internet. Manche führen ihre Beziehungen so und arbeiten im Home Office, da wird beim Aufenthalt in Krankenhaus oder Reha die Distanz zum Gewohnten, der eigenen Blase mit der man verbunden ist, immer geringer. Raucherecke, Zimmernachbar oder Speisesaal kommen dagegen kaum noch an. Der Einbruch des seltsam Anderen der Krankheit in die Normalität wird immer geringer. Das ist auf der einen Seite sicher erwünscht, aber vielleicht ein Verlust, der uns jetzt noch gar nicht bewusst ist. Oder sehen wir bereits seine Symptome?

Der Arzt

Ich weiß nicht, ob die Beziehung der Deutschen zu ihren Ärzten normal ist. Zum Arzt zu gehen ist irgendwie ein deutsches Hobby. Weltweit belegen wir Platz 5, in Europa geht man in der Slowakei und Ungarn noch häufiger zum Arzt. Die regionale Über- oder Unterversorgung ist offenbar nicht der Grund für die Frequenz der Arztbesuche.

Seit längerer Zeit ist bekannt, dass in Deutschland sehr viele Operationen durchgeführt werden, auch sehr viele fragwürdige bis überflüssige, der Grund ist, dass man mit ihnen das meiste Geld verdienen kann, was ohnehin der immer stärker dominierende Aspekt im gesamten Medizinsystem ist.

Doch das Bild vieler Menschen in Deutschland von ‚ihrem Arzt‚ ist ein anderes. Es gab und gibt jede Menge Arztserien in Deutschland. Diese Bilder prägen zu einem nicht geringen Teil die Einstellung. Früher war der Arzt eine Respektsperson, man machte und unterließ, was er einem auftrug. Vielleicht tat die Gott in Weiß Pose den Ärzten selbst nicht gut, seit einigen Jahren wird der Arzt für immer mehr Menschen zu einer Art Partner, doch bisweilen dreht sich hier der Spieß schon um, weil immer mehr Menschen mit Hilfe des Internets selbst ihre Symptome diagnostizieren und das Ergebnis ist für alle Beteiligten nicht immer erfreulich. Den Selbstdiagnostikern fehlt die Erfahrung und die Distanz. Die eigenverantwortliche Einbindung des Patienten in seinen Genesungsprozess, vor allem, bei chronischen oder schweren Erkrankungen ist hingegen sehr hilfreich. Das alles wird sich neu ausbalancieren.

Ein bisschen wird die Anderswelt durch Patienten gefördert und durchbrochen, die aus sozialen Gründen zum Arzt gehen, weil sie keine Angehörigen haben oder in dauernder hypochondrischer Sorge leben. Der Arzt ist dann oft der einzige Mensch, der ihnen zuhört, man sollte sich vorstellen können, dass es hier bessere Lösungen gibt.