Entwicklungsstufen bringen etwas Ordnung ins Spiel
Wenngleich die Frage nach Verstand oder Gefühl in ihrer Absolutheit falsch gestellt ist, so ist der Eindruck vorhanden, dass es immer wieder bestimmte Situationen gibt, in denen einer der beiden Aspekte den anderen überragt. Die Entwicklungspsychologie ist dem nachgegangen. Manche Forscher haben dabei bestimmte Aspekte der Psyche betrachtet, die Kognition (Piaget), die Moral (Kohlberg, Gilligan), die Bedürfnisse (Maslow), andere haben eher die Gesamtpersönlichkeit erforscht, vor allem jene Psychoanalytiker, die die Entwicklung von Kindern beobachtet haben.
Wie sich aus dem oben Gesagten ergibt, sind Kinder zu Beginn ihres Lebens in der Lage Affekte zu äußern, die Sprache und das rationale Denken beherrschen sie noch nicht. Menschen sind hier also dominant emotionale oder affektive Wesen. Das ändert sich sehr bald, weil es zum einen rationale, aber vorsprachliche Muster gibt, die Kinder lernen, durch Imitation, Wiederholungen, auch wenn all das noch nicht zu einem reifen, rational abwägenden Ganzen geronnen ist.
Kinder werden bedürftig und daher auch narzisstisch geboren, aber es ist uns ebenfalls angeboren früh im Leben zu kooperieren. Zug um Zug und in einem rasenden Tempo wird die Welt und der Aktionsradius des Kindes erweitert, in immer neuen Entwicklungsstufen und Weltbildern. Es ist vermutlich nicht falsch, zu behaupten, dass die Kinder anfangs noch immer überwiegend Egoisten sind, aber irgendwann sind sie in der Lage, dass was ihnen von außen als Grenze und Verbot begegnet zu verarbeiten.
In der Trotzphase spitzt sich das zu, was für die Eltern in der Regel weniger schön ist – die Radikalverweigerung des Kindes – ist für das Kind selbst ein wohl eher unbewusstes Austesten der eigenen Möglichkeiten und ein Spiel mit den Abstrakta – der Wirkung des Nein – der rationalen Welt. Das Kind geht ‚all in‘ und scheitert, aber nur, um auch daraus wieder sofort zu lernen und zu einem egoistischen Teamplayer zu werden. Zum ersten Mal in der Entwicklung dieses Kindes ist die Rationalität eine relevante Größe. Das Kind beginnt zu handeln, unterliegt aber eine weiteres mal, erfährt wieder seine Grenzen und erkennt die Bedeutung von Regeln und Rollen.
Das Kind ist nicht geknickt oder gebrochen, es kann sich relativ leicht an die neu verstandenen Regeln anpassen und da Kinder eben nicht nur egoistisch sind, sondern früh kooperieren, wie Tomasello nachweisen konnte, tut es das gerne. Ein typisches Verhalten ist, für die Eltern früh am Morgen den Tisch zu decken, um ihnen einen Gefallen zu tun. Kinder suchen also etwas, wobei sie helfen können. Damit sind sie aus dem Egozentrismus ausgebrochen und haben sich in ein System eingefügt, von dem sie profitieren und das durchaus auch mit Spaß. Sie bekommen Schutz und Anerkennung, wenn alles gut läuft. Und in der Welt der Regeln und Rollen dominiert die Rationalität.
Die dominiert immer noch, wenn das inzwischen ältere Kind beginnt die Rollen zu hinterfragen. Warum soll man sich eigentlich immer fügen und tun, was von einem verlangt wird. Die Tür zu den eigenen Träumen, Möglichkeiten und Fragen darüber, was wäre, wenn … wird geöffnet, es ist eine rationale Welt, aber sie ist nicht dröge, sondern schillernd und saftig und da schon längst mit den Emotionen verbacken, eben auch eine Welt der Visionen und Freiheiten, die sich großartig anfühlt.
Oft kommt es auf diesem Weg zu einem Unterdrücken der Emotionen, nicht in ihrer Gesamtheit, aber zum Teil. Was unterdrückt wird, richtet sich nach der jeweiligen Kultur. Freud ist dafür bekannt geworden, dass er die sexuelle Komponente aufdeckte, in späteren Jahrzehnten trat die neurotische Struktur eher in den Hintergrund und die Dominanz der Aggressionen wurde erkannt. Am Ende der Entwicklung unseres Weltbildes steht in der Regel ein Mensch, der es schafft das Ich und die Gesellschaft, sowie in sich die rationalen und emotionalen Anteile so zum Ausgleich zu bringen, dass sie sich unterm Strich annähernd in einem dynamischen Gleichgewicht einpendeln.
Das Kleingedruckte bei Stufentheorien
Die ganzen Stufentheorien, die wir kennen, sind sehr interessant und bilden einen Orientierungsrahmen, der einem in der Tat oft helfen kann, aber die Lebensrealität ist in der Regel komplexer und je entwickelter ein Mensch ist, umso weniger lässt er sich in ein Schema pressen.
Dazu kommt, dass Entwicklungsstufen zwar ein dramatisch unterschätzter und ideologisch oft bekämpfter Aspekt sind, auf der anderen Seite aber eben doch nicht alles sind. Die allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Umstände, der Zeitgeist, das Einkommen, das Milieu, all das spielt eine Rolle. Besonders wichtig auf dieser kollektiven Seite ist der Blick auf Massenregressionen, bei denen die an sich höher entwickelten Individuen wie von einem Strudel erfasst werden, dem sie in aller Regel nicht entgehen können.
Regressionen gibt es auch auf der individuellen Seite. Sie sind einfach der Rückgriff auf vorhergehende Muster der Entwicklung, die man im Begriff ist, zu überwinden oder sogar schon überwunden hat, auf die man dann jedoch zurück fällt, etwa, wenn man aktuell mit großem Stress konfrontiert ist. Doch noch andere Faktoren beeinflussen eine idealtypische Entwicklung. Wie die Objektbeziehungen sind, die man verinnerlicht hat, ob man verliebt oder traumatisiert ist, welches Geschlecht und Temperament man hat, welche Talente, so dass am Ende die Stufen sehr viele verschiedene Möglichkeiten vorfindet sie konkret zu leben. Man kann vorher nicht sagen, wie man konkret sein muss, um eine bestimmte Stufe erreicht zu haben.
Es gibt von Stufe zu Stufe typische Mischungsverhältnisse von Verstand oder Gefühl, aber eben auch immer wieder Einzelfälle, in denen vieles bunt gemischt erscheint, einfach deshalb, weil die Gesamtpsyche aus einzelnen Entwicklungslinien besteht, die außer Kognition und Emotion, noch viele weitere Aspekte enthalten, wie ein Wertesystem, ästhetische, spirituelle, sexuelle, kommunikative Entwicklungslinien und je nach dem, wie genau man hinschaut, findet man weitere. Auf all diesen Linien kann man unterschiedlich weit entwickelt sein.
In den meisten Entwicklungslinien finden wir Anteile von des Denkens und Fühlens, wenn wir uns zum Beispiel unser ästhetisches Empfinden anschauen. Auch hier führt die Frage nach Verstand oder Gefühl nicht weiter, da uns beides begegnet.
Gibt es weitere Bausteine?
Eine größere Unklarheit liegt noch in der Frage, ob Emotionen und Denken die einzigen Module sind. Ob Moral, Ästhetik oder Sexualität, stets sind Denken und Fühlen beteiligt, so viel dürfte klar sein. Aber ist es in allen Fällen nur die Mischung aus Denken und Fühlen?
Was ist mit der Spiritualität? In der Meditation versucht man das Denken und Fühlen gleichermaßen auf Distanz zu halten. Nach einiger Übung klappt das auch. Diese innere Position, von der aus man die Gedanken und Gefühle wieder loslassen kann, wird bei jedem mal etwas gefestigter. Das könnte durchaus eine dritte Instanz sein. Man trifft immer wieder mal, wenngleich sehr selten auf Menschen mit einer ausgeprägten spirituellen Entwicklung. Aber so wie die Säugtiere irgendwann Affekte ausdrücken und lesen konnten und der der Mensch irgendwann zu denken begann und dann sogar über das Denken nachzudenken, so kann auch Spiritualität unter Umständen gerade entstehen. Fluktuierend, so dass wir sehr entwickelte Individuen sehen, aber auch solche, die weniger oder gar nicht damit in Kontakt kommen.
Manches erweckt den Anschein, als ob sich damit noch ein Modul herabsenkt (oder aus der anderen Richtung: emergiert). Das Gefühl ist älter, als der Verstand. Aber der Verstand verhindert das Fühlen nicht, im Gegenteil des gibt neue sekundäre und tertiäre Emotionen, die überhaupt erst durch die Denkfähigkeit entstehen. Bei der Spiritualität kann das ähnlich sein. Bei der Einübung distanziert man sich vom Denken und Fühlen, aber beides ist noch möglich und beides kann sogar eine neue Qualität gewinnen.
Verstand oder Gefühl? Was treibt uns Menschen an? Immer beide, in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen, durch unterschiedliche Entwicklungslinien. Eventuell wird sogar die Tür zu einer ganz neuen Sphäre aufgestoßen, wenn sich spirituelle Erfahrungen breiter niederschlagen.