Das wichtigste: Die Langstrecke

Manche Rahmen sind eng, vor sterilem Hintergrund. © XoMEoX under cc

Der wichtigste Punkt ist aber an die Quelle der Anspannung zu kommen und das ist die eigene Persönlichkeit. Bevor man da allerlei verändern will, ist es wichtig sich erst mal zu verstehen. In der Regel meint man, sich bestens zu kennen, wenn man das aber benennen, sich also beschreiben soll, schafft man das nicht immer – die Identitätsdiffusion.

Doch diese ist kein Schicksal. Wie ausgeführt besteht eine dauernde Anspannung und Hochspannung aus der Mischung von Temperament, den verinnerlichten Objektbeziehungen und den Alltagsanforderungen und die letzten beiden kann man verändern. Für eine tiefgreifende Veränderung ist die Erfahrung anderer Objektbeziehungen notwendig, der beste Weg dahin ist die Psychotherapie. Dann greift eines ins andere, denn wenn die Objektbeziehungen sich verändern fällt alles, was man in Ansätzen schon geübt hat, wesentlich leichter. Strukturierung und Konfrontation kann man in eigener Regie ins Leben einfließen lassen, ebenso die Außenreize so reduzieren und verändern, dass man sich besser fühlt, weil man es sich selbst erlauben kann, sich besser zu fühlen. Was brauche und will ich wirklich in meinem Leben? Die Frage wird irgendwann relevant, während man es bis dahin eher gewohnt war, auf das zu reagieren, was einem das Leben so anbot und nicht selten: womit es einen überfallen hat.

Neben der Therapie lernen wir immer mehr, dass es diverse einfache Methoden gibt, um Menschen zu stabilisieren. Wem die Begegnung mit Menschen noch zu viel ist, kann es mit Tieren versuchen und wen auch das noch zu sehr belastet, der kann seinen Zugang über die Welt der Pflanzen finden, die unglaubliche viele positive Effekte kombinieren. All das sind Wege aus der Ich-Schwäche.

Und das ist längst nicht alles. Musik und Tanz haben großartige Effekte, das Schreiben, die Meditation kann manchmal schon allein ein Gamechanger sein und die Aufgabe der nächsten Jahre wird sein, diese Ansätze vernünftig zu gewichten und vor allem zu individualisieren. Was dem einen wunderbar hilft, ist Gift für den anderen und das sollte man nicht dem blinden Ausprobieren überlassen.

Wie bei Depressionen und bei chronischen Schmerzen gilt es zunächst mal die Abwärtsspiralen zu stoppen, bei denen man durch Spannungen, ihre Entladungen, ihre Katastrophisierungen und Selbstschädigungen nur immer tiefer in den Sumpf zieht. Hier ist es von Vorteil, wenn man schnell und pragmatisch vorgeht, aber gleichzeitig ein Profil des betroffenen Menschen erstellt. Sei es, dass dieser nun depressiv ist, eine Angststörung hat, Hypochonder ist, unter einer Borderline-Störung oder sonst etwas leidet wichtig ist, dass man gleichzeitig ein Bündel an Maßnahmen hat, die diesem Menschen helfen können. Im besten Fall, indem sie aus der Krise eine Situation machen, in der man nicht einfach wieder nur funktioniert, wie vorher, etwas, was in vielen Fällen ohnehin nicht klappt, sondern sogar weiter kommt. Weil Krisensituationen immer auch Situationen der Offenheit und Möglichkeiten des Wachstums sind. Wenn alles wie am Schnürchen läuft sieht man keinen Grund sein Leben zu ändern. Wenn alles in Trümmern liegt, sieht das schon deutlich anders aus.

Jetzt mal ehrlich

Wenn man dauernde Anspannung und Hochspannung erlebt, ist man im konstanten Stressmodus. Stress nicht im Sinne von ‚Boah, so viel zu tun heute‘, sondern im Sinne einer existenziellen Bedrohung. Wenn man den Staffelstab der Langstrecke weiter gibt, dann geht es am Ende der dieser Kette darum die Geschichte des eigenen Lebens selbst weiter zu schreiben. Nicht im Sinne der Phantasie und der unrealistischen Wunschvorstellungen. Aber gerade dann: Warum stehen wir eigentlich so unter Spannung? Die Menschen werden gereizter, aggressiver. Das vor wenigen Tagen in der Zeit:

„Rund 18 Millionen Menschen in Deutschland haben eine psychische Erkrankung, das zeigen repräsentative Stichproben. Das sind mehr als doppelt so viele Betroffene wie Menschen mit Diabetes, zehnmal so viele, wie in den vergangenen fünf Jahren Krebsdiagnosen erhielten, mehr als zehnmal so viele, wie es Rheumapatienten gibt.

Trotzdem bleiben psychische Erkrankungen ein Tabu. Eine Umfrage des Bundesarbeitsministeriums zeigt, dass nur die Hälfte der Menschen ihren Freundinnen und Freunden von einer Diagnose erzählen würde. Auf der Arbeit würden höchstens 20 Prozent darüber sprechen, und auch nur mit ausgewählten Personen.“[1]

Wenn laut statista 91% der Deutschen auch in Coronazeiten mit ihrem Leben ziemlich bis sehr zufrieden sind, aber gleichzeitig 21% psychisch krank, dann ergibt nicht nur das eine gewisse Schieflage. Man will sich nichts vormachen und tut es doch längst. Temperament, Objektbeziehungen und Alltag sind die Ursachen für die Spannungen, der Alltag und seine Anforderungen gehört eben auch dazu.

Zu lernen, dass nicht alles schrecklich ist, dass nicht alles zur Katastrophe eskaliert, ist der eine Punkt. Gerade im Angesicht einer psychischen Erkrankung, die nachlässt, mit der man sich arrangieren kann, bei der der Schraubstock gelöst wird, kann man ungeheuer dankbar und glücklich sein, wenn man an vermeintlichen Normalitäten teilhaben kann: Bahn fahren, einkaufen, essen. Um von Beruf und Beziehung noch gar nicht zu reden.

Aber gerade wenn man sich ehrlich machen will, kann der Blick auf unseren Alltag, auf unser Lebensmodell nicht ausgespart bleiben. Vieles in unserem Leben ist idiotisch, wenn man aus den Rhythmen der Natur fällt, von seiner Arbeit und Umgebung entfremdet ist und Beziehungen oft marginalisiert werden. Ist es schön oder schlimm, dass noch immer knapp 80 % das irgendwie durchhalten?

Ist man wirklich ein am und im Leben gescheiterter Mensch, weil oder wenn man man vor immer mehr Irrsinn kapituliert? Dauernde Anspannung und Hochspannung zwingen uns den Blick nach innen zu richten. Nur die Geschichte eines Menschen, der einfach nicht mehr mithalten konnte zu erzählen, ist oft nicht die ganze Geschichte. Der Blick von außen, auf biografische Eckdaten und gesellschaftlich geforderte Leistungsnachweise drücken ja nicht das Empfinden aus, was man hat.

Die eine, wahre Geschichte des eigenen Lebens gibt es nicht. Wahr ist, dass die Mitwelt mein Leben immer auch bewerten wird, aber nur ich kann mein Leben leben und im besten Fall merken, wie es sich anfühlt. Auch eine klassische Biografie kann sich wunderbar und richtig anfühlen, aber ebenso gibt es Menschen, die von außen betrachtet alles haben und zutiefst unglücklich sind, während anderen so gut wie alles fehlt, nur das Glück nicht.

Seinen Platz im Leben zu finden, dem Leben Sinn zu geben, sich erlauben, sich an vielen Kleinigkeiten zu erfreuen, das bringt eine ganz neue Art der Spannung ins Leben. Spannend darf es ruhig sein, das Leben, alles zu reduzieren und herunter zu fahren ist die richtige Option bei Menschen, für die alles zu viel ist. Freude haben und sich selbst etwas gönnen und sich selbst etwas zutrauen, ist dann das, was danach kommen kann, wenn es nicht nur darum geht, wieder zu funktionieren.

Wenn der Rahmen zu eng ist

Spannend, ja sogar hoch spannend darf unser Leben ruhig sein, wenn es nicht überfordernd ist. Eigentlich ist Psychosomatik ein schöner Begriff für die wechselseitige Beeinflussbarkeit und Durchlässigkeit der ohnehin nur künstlichen Trennung von innen und außen. Aber andererseits riecht er auch nach Krankheit, ist oft Symptomen vorbehalten.

Wir setzen viel darauf, dass sich alles Wesentliche in unserem Leben draußen, also irgendwie in und für die Welt sichtbar abspielt und das was es da zu entdecken gibt, muss in wenige Jahre gepresst und möglichst geteilt werden. Es ist ja noch schöner, wenn die anderen neidisch werden. Das ist ziemlich stressig. Wir sollten uns trauen, zu denken, dass dieser Rahmen, oder soll man Käfig sagen, deutlich zu eng ist.

Der Philosoph und Publizist Wolfram Eilenberger sagte vor wenigen Tagen im philosophischen Radio, am Beispiel der Philosophin, radikalen Linken und Mystikerin Simone Weil, dass alle, die eine echte mystische Erfahrung hatten, die Suche nach den psychischen Ursachen für diese Erfahrung vollkommen ablehnen und als komplett unangemessen empfinden. Die innere Welt, die wir doch noch sehr wenig kennen, in der sich das abspielt, ist gigantisch groß und umfassend. All das auf ein bisschen Hirnaktivität zu reduzieren und gar auch fehlgeleitete Neurotransmitter ist ein Griff in die falsche Kiste. Wir können die subjektive Wucht einer solchen Erfahrung nur ermessen, wenn wir ähnliches erlebt haben, nur müssen wir neu lernen, psychische Probleme, spirituelle Krisen und Durchbrüche zu unterscheiden. Die Mittel dazu haben wir, die Möglichkeit dass sich eine unerfüllende bis pathologische dauernde Anspannung und Hochspannung in ein hoch spannendes Leben verwandelt ist real. Das kann äußerlich durchaus sehr ruhig verlaufen.

Quellen