
Ein Stimmungsbild. © Martin Anders under cc
Wenn wir Depressionen besser verstehen haben wir effektivere Möglichkeiten der Früherkennung und Hilfe.
Depressionen sind nach Angststörungen die häufigsten psychischen Erkrankungen, weltweit stark verbreitet und obendrein gefährlich. Auch volkswirtschaftlich wird ihr Einfluss immer größer, weil Krankschreibungen aufgrund von Depressionen zwar nicht sehr häufig sind (wenngleich es mehr werden), aber dafür oft lange dauern. In unserer Gesellschaft ist der wirtschaftliche Schaden oft ein stärkeres Argument, damit sich etwas ändert (oder alles bleibt, wie es ist), als das persönliche Leid.
Damit wir Depressionen besser verstehen, ist es glaube ich ganz gut festzuhalten, was Depressionen nicht sind, da ich immer wieder bemerke, dass es hier viele falsche Vorstellungen gibt.
Depression heißt nicht, ein bisschen traurig zu sein
Oft wird gedacht, depressive Menschen seien irgendwie traurig oder mies drauf, womöglich deshalb, weil gerade irgendwas Schlimmes passiert ist: Ein Angehöriger ist gestorben, man hat seine Arbeit verloren oder die Beziehung ist zerbrochen. Das sind natürlich gravierende Ereignisse, die unter Umständen sogar zu Depressionen führen können, aber erst einmal sind solche Ereignisse traurig, schockierend und manchmal traumatisch. Die Trauer um etwas ist Trauer und keine Depression. Die Idee, dass man möglichst schnell wieder auf die Beine kommen muss, ist in meinen Augen eine Schnapsidee, psychische Dellen wollen verarbeitet werden, das braucht Zeit. Auch Zeit zu trauern.
Dabei muss man sich nicht abkapseln und ausklinken, aber jeder Mensch verarbeitet anders, der eine braucht Abwechslung, andere Ruhe und Zeit zu sich zu kommen. Aber depressive Menschen sind nicht irgendwie ein bisschen traurig. Es kann sein, dass eine unangemessen erscheinende und anhaltende Traurigkeit einen Hinweis auf eine Depression gibt, aber das muss man dann näher prüfen.
Depression betrifft nicht vorwiegend Leute, die mal etwas Pause brauchen, weil sie ausgepowert sind
Es gibt die erstaunlich verbreitete Vorstellung, Depressionen seien Zustände der Erschöpfung nach langer und/oder intensiver Tätigkeit, bei der man psychisch und/oder physisch völlig ausgebrannt ist. Das betrifft vor allem den Burnout, der neuerdings an eigenes Krankheitsbild unter einer sperrigen Rubrik anerkannt ist, aber mit Depressionen allenfalls hier und da überlappt. Der Burnout ist keinesfalls der Klassiker oder Paradefall der Depression, sondern eine seltene Randepisode der Depression.
Depression heißt nicht, dass sich jemand hängen lässt
Manchmal hört man vorwurfsvoll, dass da jemand ‚auf Psyche macht‘, wenn er oder sie psychisch erkrankt ist. ‚Reiß dich mal zusammen‘ ist im Zusammenhang mit Depressionen ein no go, da depressive Menschen genau das tun und zwar rund um die Uhr und oft schon zu lange. Sie kämpfen wie Spitzensportler, aber für sie ist manchmal das Aufstehen am Morgen oft schon eine Überwindung. Nicht, weil sie keine Lust haben und lieber im Bett liegen bleiben, sondern, weil sie schlicht nicht können. Antriebsschwäche ist eines der kardinalen Symptome einer fortgeschrittenen Depression. Aber Antriebsschwäche ist nicht irgendwie nicht so top motiviert zu sein, sondern nicht zu wissen, ob man den Weg ins Badezimmer wirklich schafft. Und der ist ja erst der Anfang eines Tages der aus dickem, zähen, grauen Nebel besteht.
Das schlimmste Symptom der Depression: Die Gefühllosigkeit
Damit wir Depressionen besser verstehen, um sie bei uns selbst und anderen besser erkennen und helfen zu können, ist es gut die richtigen Symptome zu kennen und nachvollziehen zu können.
Stellen Sie sich eine gesellige Runde von vier bis sechs Menschen vor, die um einen Tisch sitzen und streichen Sie sofort wieder das gesellig. Nicht, weil die Menschen nicht nett sind oder einander nicht mögen, sondern weil sie sich nichts zu sagen haben. Das tun sie dann auch: Nichts sagen. Vielleicht hätten sie sich auch was zu sagen, man weiß es nicht. Sie sitzen einfach da, essen eine Kleinigkeit und trinken Kaffee. Schweigend. Man isst ja auch. Jeder schaut auf seinen Teller. Nicht weil ihnen jemand verboten hätte, mit einander zu reden. Nicht weil riesiger Ärger herrscht. Spannung ist schon irgendwie da, wie eigentlich immer, wenn Menschen aufeinander treffen, aber es schafft niemand das Eis zu brechen. Was gäbe es auch zu erzählen? Man kennt sich ja. Da bleibt man im Allgemeinen: „Ach, dat is ja alles nix mehr.“ Das Schweigen wird kurz durchbrochen, um sich sogleich wieder wie eine klamme Decke über die Szenerie zu legen. Keiner erwidert etwas. Wozu auch?
Garnieren Sie diese Szene mit einer beige-braunen Inneneinrichtung, zwischen funktional und sehr sauber. Alles muss sauber sein. Eine Wanduhr tickt, ziemlich laut. Normalerweise würde man sie nicht hören, aber außer dem spitzen Klang einer Tasse oder Gabel auf Porzellan durchbricht selten etwas das resignierte Anschweigen. Das dauert und ist beklemmend. Irgendwann, wenn man angemessen lange nichts zu sagen fand, wird die Spannung erneut kurz aufgelöst. „Ich glaub‘ ich räum mal ab.“ Endlich, man konnte spülen, endlich etwas Wärme … vom Spülwasser.
So etwas kann ein Nährboden von Depression und zugleich ihr Ausdruck sein. Und das geht schon morgens los, nach einer häufig viel zu kurzen Nacht, in der man wieder mal keinen Schlaf fand, früh und gerädert erwacht, um 4:18. Fürs Aufstehen noch zu früh, aber der Schlaf wird auch an diesem zu frühen Morgen nicht mehr kommen. Dafür kreisen vielleicht die immer gleichen Gedanken bereits, man kennt sie. Sie führen auch dieses Mal zu keinem Ziel, die Plagegeister scheinen nie zu schlafen. Man denkt wieder drüber nach, ergebnislos, wie immer. Beim nächsten Mal wieder es genau so sein, aber abstellen kann man es nicht.
4:19. Der Feind, die Uhr. Manche haben das Gefühl, dass das Leben immer schneller vergeht, erschreckend schnell, das ist eines der Probleme, das depressive Menschen in aller Regel nicht haben. Bei Ihnen ist es in schlimmen Fällen genau anders herum, sie zerrinnt nicht, sondern fließt zäh und grau, wie erkaltende Lava oder Honig, der sich seinen Weg durch Asche sucht und diese mitnimmt. Man fühlt sich nicht wohl im Bett, schafft es aber auch nicht aufzustehen. Müde, gerädert, aber schlaf– und antriebslos, wie um alles in der Welt soll man diesen Tag nur rum kriegen. Wobei Tag … die Minuten, die Viertelminuten sind die Größenordnung der Depression. Jede Viertelminute will einzeln begrüßt und verabschiedet werden.
Sie kennen das, wenn Sie fiebrig eine Nachricht vom neuen Schwarm erwarten und alle paar Sekunden auf das erlösende Ping hoffen. In dieser Szene steckt unheimlich viel Hoffnung, Erwartung, Erregung, Ungeduld. Streichen Sie auch das alles und behalten Sie das Gefühl des Wartens. Die Erlösung besteht darin, dass die nächste Viertelminute einfach nur vorbei geht, wobei am Horizont bereits die endlose Armee aus weiteren grauen und einförmigen Viertelminuten erahnbar ist, die nächste ist sofort da, kalt, emotionslos, zäh.
In der Depression wird oft gar nichts gefühlt. Diese Gefühllosigkeit, quält viele depressive Menschen mehr als alles andere. Phasen der mehr oder minder grundlosen Trauer gibt auch, das sind die eher guten Zeiten. Man könnte die Zeit ja irgendwie nutzen, ja, wenn man könnte. Und wofür? Alles erscheint wie der hoffnungsarme Versuch mit etwas Aktivität ein paar Viertelminuten nicht einzeln empfangen zu müssen, sondern im Dutzend zu verabschieden. Sofern Aktivität gelingt und man nicht einfach keine Kraft findet aufzustehen, um 4:19:42. Eine Viertelminute ist bereit langsam das Feld zu räumen, die nächste wartet schon auf den schweigenden Übergang.
Das ist Depression, eines ihrer vielen Gesichter, vielleicht das schlimmste.
Weitere Leitsymptome
Schlecky Silberstein beschreibt sie so:
„Der geschätzte David Foster Wallace hat es mal mit ‚Es ist, als ob jeder Zelle Deines Körpers so schlecht wäre, dass sie kotzen will‘ ganz gut zusammengefasst. Das wäre eine schwere Depression, bei einer mittelgradigen ist es nur jede zweite Zelle, was auch nicht viel angenehmer ist. Dazu kommen in der Regel Panikattacken aus heiterem Himmel, Schlaflosigkeit und das berüchtigte Gedankenkarussell, das sich kaum beschreiben lässt. Gedanken über die eigene Situation rasen so schnell und unstrukturiert im Kreis, dass man förmlich merkt, wie das Gehirn jeden Tag oberhalb der Belastungsgrenze kocht. In der Folge kann der Kopf irgendwann nichts mehr. Gleichzeitig will man trotz gefühltem Hirntod funktionieren. Aber der Stress, eine stinknormale soziale Situation zu überstehen, ist unaussprechlich und irgendwann ist alles wie Treibsand.“[1]
Störungen der Vitalfunktionen, kann man es technisch nennen, praktisch heißt das, dass man nicht einschlafen kann oder zu früh erwacht, oft keinen Hunger hat und sich lustlos irgendwas hinein zwängt (aber auch Fressattacken können vorkommen). Die Verdauung kann gestört sein, die Sexualität auch, man ist lustlos auf ganzer Linie. Seltener können auch einzelne Bereiche ins Gegenteil kippen, so dass man eben zu viel isst oder Sex hat, aber das sind die Ausnahmen. In der Regel ist bei der Depression alles herunter gefahren, weshalb auch die Bewältigung des Alltags so schwer ist. Was für alle anderen die Normalität[link] ist und im Grunde automatisch funktioniert, ist für depressive Menschen mit einer Hürde davor ausgestattet. Wenn es gut läuft. Wenn es schlecht läuft, steht die Eiger Nordwand im Weg. Unendlich steil, kalt und abweisend.