Asperger oder Borderline? Nicht wenige Betroffene begeben sich im Laufe ihres Lebens durch einen Dschungel von Verdachtsdiagnosen. Auch die Unterscheidung Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und Asperger-Syndrom* stößt bei den vor allem weiblichen Betroffenen, welche sich am Rande des Autismus-Spektrums befinden, sowie auch zunehmend in der klinischen Forschungswelt auf besonderes Interesse hinsichtlich der diagnostischen Abgrenzung. So erhielten offenbar nicht wenige Menschen mit Asperger-Syndrom nach 1970 die Diagnose Borderline-Störung, weil die klinische Einordnung für diese Subgruppe noch unzureichend war. Beide Symptomkomplexe weisen gewisse Ähnlichkeiten auf. Darüber hinaus werden jedoch im klinischen Kontext auch Bezüge zur differentialdiagnostischen Abgrenzung genannt.
In unserem Artikel werden wir keine entscheidungsführende Argumentation liefern, an deren Ende man zu einem endgültigen Fazit gelangen könnte. Unser Ansinnen ist es lediglich, gedankliche, nicht erschöpfende Anregungen für einen weiterführenden Diskurs zu geben.
Asperger oder Borderline: Was denn jetzt?!
Jüngere Forschungsansätze zeigen, dass es offenbar in der Gruppe der Borderline-Betroffenen eine Subgruppe mit autistischen Zügen zu geben scheint. Möglicherweise existiert diesbezüglich also eine klinisch bedeutsame Komorbidität. Die Forschergruppe um die Neuropsychologin Katia Nanchen (2016) fand, dass fast die Hälfte aller BPS-Patienten den Cut-off-Wert beim Autism Spectrum Quotient (AQ) überschritten. In dieser Subgruppe fanden sich niedrige Werte für kognitive Empathie sowie höhere Alexithymie-Werte, also ein stärkeres Defizit in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Emotionen.
Bei Studien, welche einen Querschnitt erfassen, ist es selbstredend schwerer auszumachen, ob und welcher Symptomkomplex aus welchem folgt. Haben sich aus dem Unverständnis, mit dem ein Asperger-Betroffener sich von klein auf in der Welt konfrontiert sieht, problematische Borderline-Verhaltensweisen entwickelt? Inwiefern spielen negative, schmerzhafte Erfahrungen in der Kindheit und Jugend eine Rolle? Könnte hinter beiden Ausprägungen speziell bei diesen Betroffenen ein und dasselbe psychologische Konstrukt der mentalen Hocheffizienz stehen? Eine Art emotionale Überforderung aufgrund der ständigen Reizüberflutung und den stets aktiven Gedankenautobahnen im Kopf, man fühlt sich minderwertig und sozial ausgestoßen und missverstanden, was dann zu selbstschädigendem Verhalten führen könnte.
Es stellt sich damit aus klinischer Perspektive die Frage, ob eine möglicherweise subsyndromal ausgeprägte Variante des Autismus im Sinne eines Persönlichkeitsmusters (Tebartz van Elst, 2016) Basisstruktur für eine sich daraus psychoreaktiv entwickelnde Borderline-Persönlichkeitsstörung sein könnte (Tebartz van Elst et al., 2013).
Nanchen et al. (2016)
Welche Gemeinsamkeiten haben beide Symptomkomplexe? Worin unterscheiden sie sich?
Borderline und Asperger: Probleme im sozialen Bereich
Sowohl bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung als auch beim Asperger-Syndrom bestehen Probleme im zwischenmenschlichen Bereich.
Eine veränderte Theory of Mind steht im Mittelpunkt des Asperger-Syndroms. Vereinfacht gesagt bezeichnet die ToM die Fähigkeit, sich selbst und anderen mentale Zustände zuzuschreiben. Zum Beispiel: Wie empfindet jemand und welche Handlungen gehen wahrscheinlich daraus hervor?
In manchen Studien zeigt sich nun, dass BPS- und von Autismus-Betroffene ähnliche Unterschiede in der ToM aufweisen. Demgegenüber gibt es aber auch Studien, bei denen BPS-Betroffene über eine hohe, aber exzessiv-inakkurate ToM (Hyper-Mentalisierung) zu verfügen scheinen. Diesbezüglich ist folglich noch weitere Forschungsarbeit zur Aufklärung vonnöten, auch um eventuelle Subgruppen zu finden.
BPS und Asperger: Von Overwhelming bis zur Selbstschädigung
Neben den Schwierigkeiten im Bereich der sozialen Interaktion, welche bis hin zur Unfähigkeit führen können, Freundschaften oder Partnerschaften aufrechtzuerhalten, kann auch die Stärke negativer Emotionen wie z. B. Wut sowohl bei der BPS als auch beim Asperger-Syndrom »overwhelming« sein und nahezu in einen emotionalen Sturm übergehen.
Bei beiden Gruppierungen können in Folge der Überforderung von Reizen bzw. aufgrund von negativen sozialen Interaktionen Impulsivität und (auto)aggressive Verhaltensweisen auftreten. Auch Substanzmissbrauch, etwa zur Verringerung der Ängste, kommt bei beiden Gruppen vor. Das Magazin »Spectrum« schreibt über den autistischen Burnout:
Like many aspects of autism, burnout varies greatly from person to person. Some autistic people experience it as an overwhelming sense of physical exhaustion. They may have more difficulty managing their emotions than usual and be prone to outbursts of sadness or anger. Burnout may manifest as intense anxiety or contribute to depression or suicidal behavior. It may involve an increase in autism traits such as repetitive behaviors, increased sensitivity to sensory input or difficulty with change.
SARAH DEWEERDT, Spectrum
BPS und Asperger: Gefühl, in der Welt fremd zu sein
Ferner kann es sowohl beim Asperger-Syndrom als auch bei der BPS das Gefühl geben, nicht in die Welt zu passen. Eine Form von Fremdartigkeitserleben, so als würde man nicht zu den anderen gehören und blicke wie durch Glas auf andere Menschen. Aus dem Unverständnis gegenüber der Welt kann eine enorme Verzweiflung erwachsen und auch ein dissoziatives Erleben mit dem Ergebnis, dass Denk- und Verhaltensmuster sowie das Gefühlserleben und die Wahrnehmung der eigenen Person wie zerfahren wirken. Wer bin ich eigentlich? Wieso fühle und bin ich ständig so extrem? Warum ecke ich immerzu an? Wieso verstehe ich und verstehen mich die anderen nicht?
Daraus könnte eine höhere Fokussierung auf sich selbst resultieren ebenso eine selbstwertschützende Abgrenzung zu anderen mit unter Umständen rigider Fremdbeurteilung – sowohl bei BPS als auch beim Asperger-Syndrom. Nicht umsonst ist eine der Differentialdiagnosen zum diagnostizierten Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter neben der BPS auch die Narzisstische Persönlichkeitsstörung.
BPS und Asperger: Minderwertigkeitsgefühle und Inkonsistenz
Insbesondere viele weibliche Betroffene am Rande des autistischen Spektrums, so weiß man, sind um soziale Anpassung bemüht. Sie versuchen von Kindheit an, die Verhaltensweisen ihrer Mitmenschen zu verstehen und zu imitieren. Sie maskieren sozusagen. Aus diesem Grund sind die Unsichtbaren am Ende des Spektrums lange Zeit klinisch nicht in den Fokus gerückt und flogen sozusagen unter dem diagnostischen Radar. Weibliche Asperger-Betroffene können mit der Zeit nahezu Chamäleon-artig ihr Verhalten an verschiedene soziale Situationen anpassen, um nicht aufzufallen. Ein solches Verhalten kann durchaus die Identitätsbildung erschweren und zu der Ausprägung von Unsicherheiten führen, etwa weil man sich immer wieder ungenügend fühlt. Sowohl das Minderwertigkeitserleben als auch eine mögliche Andersartigkeit in Erscheinungsbild und Auftreten können ebenso Facetten der BPS sein.
Borderline oder Asperger: der Versuch einer Abgrenzung
Kennzeichnend für die BPS sind unter anderem starke Stimmungsschwankungen, weshalb man die BPS auch als Emotional-Instabile Persönlichkeitsstörung bezeichnet. Borderline-Betroffene haben eine große Angst vor dem Verlassen werden, deshalb ziehen sie andere Menschen häufig ran oder stoßen sie wahlweise aus Selbstschutzgründen weg. Ihr emotionales Erleben und impulsives Verhalten kann stark von diesen Ängsten und einem Gefühl der Leere bestimmt sein. Sie führen oft intensive, aber instabile Beziehungen, die von starken Emotionen bestimmt sind.
In Zusammenhang mit dem Asperger-Syndrom dürften Stimmungsschwankungen nicht derart stark vordergründig sein. Ungeachtet dessen können diese auch hin und wieder auftreten. So kann z. B. eine veränderte Abfolge im Tagesablauf, eine Überforderung aufgrund von Reizen sowie auch eine Verzweiflung, weil man sozial mit anderen aneckt, durchaus einen imposanten Gefühlsausbruch entfachen, der dem Empfinden eines Borderline-Betroffenen gleicht.
Obwohl sich viele Menschen im Autismus-Spektrum soziale Beziehungen wünschen und sich phasenweise darum bemühen, haben diese Beziehungen zumeist eine weniger starke emotional abhängige Charakteristik.
Ferner könnte der Bedarf einer stärkeren Tagesstruktur sowie die ritualisierten Handlungsweisen und stereotypen Verhaltensmuster beim Asperger-Syndrom ebenfalls differentialdiagnostisch zur BPS dienlich sein, genauso wie das Vorhandensein von Spezialinteressen, das mitunter ausgeprägtere rationale Denken sowie die stark konkretisierende Sprache mit zumeist ungewöhnlicher Sprachmelodie und der Verwendung andersartiger Wörter. Nicht wenige haben außergewöhnliche Hobbys wie das Sammeln von Businesskarten oder dem Bau imposanter Lego-Konstruktionen etc.
Motorische Unwägbarkeiten können stärker in Zusammenhang mit dem Autismus-Spektrum auftreten. Manche der Betroffenen gelten regelrecht als »clumsy« und verfügen über eine Unbeholfenheit in Geschick und Auftreten. Sie wirken oftmals irgendwie andersartig.
BPS und ASS: Typische Persönlichkeitseigenschaften?
In Rahmen einer Dissertation an der Charité – Universitätsmedizin Berlin (Strunz, 2015) wurden Persönlichkeitseigenschaften bei Betroffenen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) im Vergleich zu unter anderem Borderline-Betroffenen untersucht. Personen mit ASS erreichten im Vergleich signifikant niedrigere Werte in den Bereichen für Extraversion (waren also introvertierter) sowie Offenheit für neue Erfahrungen. Diesbezüglich scheinen sie weniger aufgeschlossen zu sein. Demgegenüber hatten sie höhere Werte in den Bereichen Gehemmtheit und Zwanghaftigkeit sowie Gewissenhaftigkeit (Ordnungsliebe etc.). Darüber hinaus hatten sie niedrigere Werte hinsichtlich dissozialer Verhaltensweisen. Erfragt wurden bei dieser Skala z. B. die affektive Labilität, Verärgerung, Misstrauen etc.
Asperger oder/und Borderline? Sorgfältige Anamnese.
Diese Gegenüberstellungen sind selbstredend nicht erschöpfend. Alle diagnostischen Kriterien hier aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen, zumal es in diesem Artikel nicht um eine individuelle diagnostische Abklärung gehen soll. Es sind lediglich Gruppenaussagen und auf den Einzelfall nicht 1:1 beziehbar. Nicht zuletzt ist auch die Retrospektive bei der Anamnese für eine klinische Urteilsbildung wichtig. Inwiefern zeigten sich autistische Auffälligkeiten schon als Kind? Außerdem: Worin unterscheiden sich die Motive für die jeweiligen Verhaltensweisen? Liegt bei den Selbstverletzungen beispielsweise eine Art Selbsthass zugrunde oder eine Überforderung im Sinne eines Meltdowns? Gerade in Zusammenhang mit Mobbing-Erfahrungen in der Kindheit, welchen viele Borderline-Betroffene, aber auch Asperger-Betroffene ausgesetzt waren, können durchaus dysfunktionale Verhaltensweisen entstehen, die eine differentialdiagnostische Abgrenzung erschweren. Bei jedem Menschen gibt es unterschiedliche Abstufungen, Grauzonen und Überlappungen, die in der individuellen klinischen Diagnostik zu berücksichtigen sind. Ob Asperger oder/und (?) Borderline ist vor allem eine Frage der sorgfältigen klinischen Diagnostik mittels z. B. Eigen- und Fremdanamnese (Eltern, Geschwister etc.), diagnostischer Testung und präziser Verhaltensbeobachtung im diagnostischen Kontext.
Im nächsten Teil unserer Reihe zum Leben mit Borderline geht es um therapeutische Ansatzpunkte bei der BPS mit der Betonung der Stärken: Teil 4.
*In der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels gültigen Fassung des ICD-10 GM 2015 wird das Asperger-Syndrom noch als Klassifikation benannt, weshalb wir diese Bezeichnung verwenden.