Es gibt Formen der Gruppenregression, die uns willkommen sind, weil wir dabei entspannen können. © Filip Pticek under cc

Regressionen der Masse und Gruppen berühren das Thema der Gruppen- und Massenpsychologie. Ein leider noch immer zu wenig gewürdigtes Gebiet, in dem aber alles in allem dieselben Wirkzusammenhänge aktiviert sind, wie in der Individualpsychologie.

Macht Angst die Menschen gefügig? Der Frage wollen wir uns am Ende widmen, weil sie aktuell in der Corona-Diskussion für manche eine Rolle spielt, in der der Bundesregierung und ihren Beratern mitunter Angstmacherei vorgeworfen wird. Der Glaube an den Nutzen der Angst scheint dort zum Teil verbreitet zu sein. Mir geht es nicht darum, dieses Verhalten zu skandalisieren, sondern möglichst sachlich zu kritisieren, weil ich glaube, dass alles darauf hindeutet, dass diese Idee zum größten Teil falsch ist. Die Kritik muss jedoch vorbereitet werden, damit sie nachvollziehbar ist.

Intuitiv mag sie es durchaus schon sein. Bestimmte Androhungen von Konsequenzen haben eine nachweisbare Wirkung. Überzieht man es jedoch mit den Drohungen, generiert man eher Trotz, Widerstand und aggressives Misstrauen. Aber wann ist die Grenze überschritten und welche Mechanismen wirken hier? Das wollen wir erläutern.

Die wichtige Rolle des Über-Ichs

Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Wächst das Kind in einem Umfeld verlässlicher und emotional moderater Objektbeziehungen auf, so ist das vielleicht die wichtigste Grundlage, die man für das Leben haben kann. Dominieren Spitzenaffekte die Objektbeziehungen des Kindes, so ist das für das Leben verheerend. Der Einfluss von Spitzenaffekten ist der Hauptgrund für das Entstehen schwerer Persönlichkeitsstörungen.

Dabei wird, je nach Beginn und Häufigkeit der erlebten Spitzenaffekte, auch die normale Ausbildung des Über-Ichs verhindert oder verzerrt. Das normale Über-Ich, Gewissen oder verinnerlichte Wertesystem besteht aus drei Stufen: Einer frühen, verfolgenden, die schon im ersten, besonders aber zweiten Lebensjahr gebildet wird. Abgelöst wird sie von einer zweiten idealen Schicht, bei der das Kind merkt, dass es selbst etwas tun kann um Mama eine Freude zu machen. Aus dem verfolgten Kind der ersten Phase, wird das ideale und grandiose der zweiten. Mit etwa 4 bis 6 Jahren erscheint eine dritte, realistische Phase, die die ersten beiden ausbalanciert.

Das Über-Ich bleibt aber Zeit des Lebens dynamisch und mit dem Alter von etwa 5 bis 10 Jahren kommt das Kind in die sogenannte Latenzphase, in dem es sich an bestimmten, für diese Phase typischen Werten orientiert. Das Weltbild dieser Phase ist klar in Gut und Böse unterteilt und demzufolge muss man sich entscheiden, in welches Lager man gehört. Die Werte sind eindeutig, haben eine hohe Ähnlichkeit mit dem Kitsch und Ambivalenzen können in ihm noch nicht verarbeitet werden.

Bei der ersten Stufe von Massenregressionen begegnet uns diese Moral der Latenzphase wieder, nun in der Gestalt von erwachsenen Menschen, die normalerweise durchaus Ambivalenzen, Zwischenstufen, Dialektik und Graustufen ertragen und einordnen können. Nur unter dem Einfluss der Massen- oder Großgruppenregression eben nicht mehr.

Was passiert bei Regressionen der Masse und Gruppen psychologisch?

Das ist eigentlich ganz gut nachzuvollziehen, ohne zu tief in die recht komplizierte Sprache eintauchen zu müssen. Sie und Ihr Lebenspartner (oder einzelne Familienmitglieder der Herkunftsfamilie) sind, hoffentlich, eigenständige Menschen. Einige Seiten, Einstellungen, Herangehensweisen ans Leben, die andere uns präsentieren sind abweichend von unseren eigenen. Das kann die Quelle für Dauerstreit werden oder aber, man erkennt für sich, dass die Erlebenswelt des anderen zwar – wenn man seinen Partner mal kennenlernt – von meiner verschieden ist, aber dennoch, kann man auch so leben, denken und empfinden, wie er oder sie es tut. Immerhin war das mal so attraktiv, dass man sich in den anderen sogar verliebt hat.

Was da im besten Fall und recht häufig geschieht, ist, dass die Wertefundamente, die beide mit in die Partnerschaft bringen zu einer neuen gemeinsamen Größe zusammenwachsen, die in Teilen eben nur dieses Paar betrifft.

Ein tolle Möglichkeit zur Freiheit, da man hier die Chance hat, es so zu machen, wie beide Partner es wollen, die vom Alltag über die Wertvorstellungen, bis zur Sexualität nur einander Rechenschaft schulden. Jeder bringt jeweils auch eine eigene Geschichte mit in die Partnerschaft, doch es kann gelingen, sich einen gemeinsamen Raum der Privatheit zu erobern, der kein fader Kompromiss ist, sondern dem Paar ganz neue Möglichkeiten und Freiheiten bietet, die es außerhalb dieser Konstellation gar nicht gibt.

So entsteht ein gemeinsames Über-Ich des Paares, das hier im Ideal zu einer Synthese des Besten aus beiden Welten verschmelzen kann. Durch dieses wird geregelt, wie man mit einander umgeht, wo die jeweiligen Freiheiten und Grenzen liegen, jenseits derer der andere verletzt wäre. Es kann ein Raum sein, in dem gesetzt ist, dass man den anderen grundsätzlich wertschätzt und so weiter. Die Gründung einer eigenen, gemeinsamen Welt, einer ‚Revolution zu zweit‘, weswegen, wenn es dann ernst wird, im Falle einer verbindlichen Hochzeit so viele ödipale Verbote aktiviert werden.

Das Über-Ich ist der am meisten nach außen, in die soziale Welt hinein orientierte Teil des Selbst und so kann es nicht nur auf einen Partner projiziert und dadurch gestärkt werden, sondern auch auf andere Gruppen oder Organisationen. Etwa auf die Arbeit, eine Partei, NGO oder eine religiösen Gruppe. Dies klappt dann gut und wird als befriedigend empfunden, wenn man selbst ein integriertes Ich hat, sich mit den Zielen der Arbeit oder der Firma einigermaßen identifizieren kann und wenn die Vorgesetzten gute Führungskräfte sind.

Das Über-Ich kann sich aber auch in einem Umfeld befinden, in dem die Führung schwach oder von Pathologien durchzogen ist, gemeinsame Ziele weggefallen oder nur noch Lippenbekenntnisse sind. In einem Umfeld, in dem diese Ziele eben noch die Menschen verbanden, tritt nun auf einmal ein Vakuum an Orientierung auf. Dies kann durch einen Führungswechsel, durch Erfolglosigkeit, durch traumatische Ereignisse passieren oder weil sich die Zeiten eben geändert haben.

In einem Vakuum der Orientierung, in dem nichts mehr klar ist, etwa, was man denn jetzt noch machen soll und wofür, entsteht sofort ein Klima des wechselseitigen, angsterfüllten, paranoiden Misstrauens. Wie geht es weiter? Was soll ich tun? Dafür sucht man Antworten. Ist die Regression einmal eingetreten, verläuft sie nach dem immer gleichen Muster. Das eben noch unter einer gemeinsamen Führung, einem Ziel oder Ideal mit anderen verbundene Über-Ich sucht nun nach neuer Orientierung und wenn kein neues Ziel oder Ideal vorhanden ist, nimmt man den kleinsten gemeinsamen Nenner der in einer Gruppe, Großgruppe oder Masse zu finden ist.

Das ist schon in der Familie – in der man Herkunft und Alltag teilt – nicht immer leicht und manchmal kommt es hier zu erbitterten Streits, es ist in einer, heute auf Freiwilligkeit und Liebe gründenden Partnerschaft nicht leicht. Damit sind wir aber auch schon im Herzen des Problems, denn mit den meisten Menschen unserer Umgebung haben wir – außer in kurz oder langfristig strukturierenden Systemen: alle arbeiten in der gleichen Firma, alle wollen zu dem gleichen Konzert, alle vertreten die Interessen einer NGO – kaum etwas gemeinsam und was dann wirklich alle verbindet, sind nicht tiefe, reflexive Einsichten, dass wir doch zu aller erst alle Menschen sind, sondern kulturelle Klischees. Auch hier wird das Über-Ich projiziert und zwar auf den intellektuell und moralisch kleinsten gemeinsamen Nenner. Eins mit allen, aber vereint im Banalen.

Wer kommt bei milden Regressionen an die Macht?

Dieser kleinste gemeinsame Nenner hat große Ähnlichkeit mit der kindlichen Welt der Latenzperiode. In der Psychoanalyse ist damit jene Zeitspanne gemeint, in der sich das ödipale Über-Ich (die dritte Stufe des Über-Ich) bildet, bis zur psychodynamischen Neuorganisation zu Beginn der Pubertät, betrifft also ein Zeitfenster vom etwa 5. bis zum 10. Lebensjahr. Eine Zeit mit einem Weltbild, das wesentlich von Vereinfachungen – oder im Falle der Kinder, von noch Unentwickeltem – bis zum Kitsch vorherrscht. Dieser ist definiert als:

„Ansprechende, behagliche, beruhigende, sentimentale und überladene Ausdrucksformen des kulturell dominanten Stils, der mit konventionellen Symbolen des Reichtums, Glücks, der märchenhaften Phantasterei oder der verklärten Kindheit überfrachtet ist.“[1]

Dies ist die erste Stufe der Regression, eine noch vergleichsweise gutartige:

„Ein erstes wichtiges Merkmal des Kindes im Latenzalter ist die Unflexibilität und Starrheit seines Über-Ichs und dessen ungemein hohe Abhängigkeit von vereinfachten konventionellen Moralvorstellungen. Das Moralsystem des Latenzkindes bestätigt die elterliche Autorität, der es vertraut, und ist durch eine von jeglicher Ambiguität freie Trennung zwischen Gut und Böse (guten und bösen Taten wie auch Menschen) charakterisiert, die durch Transformation des Sadismus in (über-ich-integrierte) berechtigte Empörung, die Freude an moralisch gerechtfertigter Aggression, die Anpassung an eine soziale Peer-Umwelt, die eine erste Erfahrung fester, einfacher, stabiler Gruppennormen vermittelt (einschließlich der Normen akzeptabler Unterhaltung), und die unzweideutige Dissoziation von (entwerteter) analer Sexualität und zärtlicher Liebe (zu den ödipalen Eltern). Es ist die beruhigende Moral eines hinreichend gut betreuten Kindes, das sich nach einer Missetat mit seinen vorübergehend zornigen Eltern wieder versöhnt, bevor es zu Bett geht. Allgemein formuliert, haben wir es mit einer Moral kurzer, zeitlich begrenzter Phasen von Fehlverhalten, Schuldgefühlen, Bestrafung und Vergebung zu tun. Das Kind ist jedoch „im Bilde“, was die genitale Sexualität und ihre – wenn auch ferne – Erfüllung in der Zukunft angeht.

Gleichzeitig hegt das Latenzkind auch Wunschphantasien über Unabhängigkeit und Macht, die mit der Illusion einhergehen, von den Eltern unabhängig zu sein. Es interessiert sich für Abenteuergeschichten mit Helden und Idealen, die ihm Identifizierungsmodelle für die Zukunft aufzeigen und zudem seine Bedürfnisse befriedigen, die Triebwelt durch reale und phantasierte Beherrschung der realen Umwelt unter Kontrolle zu bringen; das Latenzkind findet Ersatzbefriedigungen für aggressive und sexuelle Selbstbestätigung. Die „Beobachtung“ des Erwachsenenlebens in der Realität und anhand von Kulturerzeugnissen ist eine neue Errungenschaft. Illusionen der Unabhängigkeit und Macht werden befriedigt, wenn das Kind mit einem Gefühl der Überlegenheit dem vorhersagbaren Leben der „komischen“ Erwachsenen zusieht, während durch die Identifizierung mit „Supermann“ oder „Superfrau“ – wagemutige Helden, die gefährliche Monster vernichten – gleichzeitig Phantasien einer narzisstischen Bestätigung agiert werden.“[2]

Kernberg führt später aus, dass wir dieses selbstgefällige Bescheidwissen auch in der Massenunterhaltung wieder finden. Die Vermischung von Unterhaltung und ernsteren Inhalten, eitle Kommentatoren und so weiter geben dem Zuschauer das Gefühl, in einer an sich heilen und guten Welt zu leben, die alles in allem in Ordnung ist und in der er gut unterhalten wird. Irgendwer passt schon auf ihn auf und beschützt ihn. Die sanfte Form der Regression, eine, in die Kinderwelt.

Die Wahl trifft in dieser regressiven Situation auf einen mittelmäßigen narzisstischen Anführer, der die Stimmung aufnimmt, Klischees verbreitet, im wesentlichen gutartig ist und von sich aus das Bedürfnis hat, geliebt zu werden. Ein Kumpeltyp, der „einer von uns“ ist, der oft großmütig verspricht, was er nicht immer halten kann, einen moderaten Moralismus verbreitet und weil er geliebt werden will, im hohen Maße davon abhängig ist, dass er tatsächlich beliebt ist und daher zu Entscheidungen und Zugeständnissen bereit ist, die nicht immer angemessen sind und der dadurch korrupt wird, dass er niemanden vor den Kopf stoßen will.

Im Zuge von Regressionen bilden sich verschieden Lager und regressive Gruppen, wie Wilfred Bion erforschte. Die seltenste Form ist die Idealisierung eines Paares, die wir daher weglassen. Weitaus häufiger ist der regressive Zerfall in eine Abhängigkeitsgruppe einerseits und eine Kampf- und Fluchtgruppe andererseits. Je nach dem, welcher Typus in der Gruppe überwiegt, werden andere Führertypen ausgewählt. Die Abhängigkeitsgruppe wählt bevorzugt einen infantilen und narzisstischen, aber manchmal auch psychopathischen, während die Kampf- und Fluchtgruppe einen paranoiden Anführer wählt.

Die regressive Abhängigkeitsgruppe möchte hören und glauben, dass die Welt doch noch immer heil, unaggressiv und ein schöner Ort ist, an dem es im Wesentlichen allen gut geht. Dass Klischees über solche Anführer, die Massenunterhaltung und die allgemeine Stimmung dauernd ventiliert werden, sorgt dafür, dass der Druck hin zu leichten Regressionen groß ist, da ihre Inhalte überall vorhanden sind: in Kinofilmen, Serien, Talk-Shows, den Nachrichten und so weiter. Eine behagliche Welt, die man versteht und in der man sich amüsieren kann und ein gutes Gefühl daraus zieht, dass man sie versteht.

Der Ausweg aus der (zwischenzeitlichen Regression in die) Kinderwelt ist aber Erwachsen zu werden, reifer zu werden und Ambivalenzen tolerieren zu lernen. Er besteht nicht darin, vom zwischenzeitlich ungezogenen Kind, das aber wieder mit gutem Gefühl, nach der Versöhnung mit den Eltern ins Bett geht, zu einem notorisch ungezogenen Kind zu werden, was nur noch trotzt und schreit.

Doch, wie gesagt, diese Regression ist gutartig, die Kinder wollen nur spielen und eben gut unterhalten werden. Unklar ist, ob diese regressive Ebene selbst einen Schutz vor weiteren, tieferen Regressionen darstellt oder gerade ein Sprungbrett dorthin ist. In regressive Welten kann man zur Entspannung eintauchen, da die Verschmelzung des Über-Ich mit dem aller anderen dazu führt, dass die individuelle Verantwortung sinkt. In einem ritualisierten Rahmen, eines Konzerts oder einer Sportveranstaltung kann man sein anstrengendes individuelles Sosein an der Garderobe mit abgeben und wenn alles vorbei ist, man für zwei Stunden jubeln, weinen, fluchen, fremde Menschen umarmen konnte oder sich mit allen, die auch hier sind eins weiß, geht man wieder nach Hause und ist am anderen Tag der verantwortliche Mensch, der man zuvor auch war.

Wer kommt bei tiefen Regressionen an die Macht?

Der Einfluss der Massenmedien ist bei Regressionen der Gesellschaft erheblich. © Khalid Albaih under cc

Die gutartige Regression kann jedoch weiter fortschreiten, wobei das Über-Ich noch mehr abgebaut wird. Wir befinden uns dann in der Welt der regressiven Kampf- und Fluchtgruppe, die durch Misstrauen geprägt ist und in der, dem entsprechend öfter, ein paranoider Anführer an die Macht kommt, der verfolgend, verbietend, rivalisierend und Gewalt androhend ist, wenn man nicht genau das macht und sagt, was seinen Einstellungen und Vorgaben entspricht. Dies ist zweite Stufe der Regression, die stärker von Aggressionen durchsetzt ist.

Die Stimmung ist hier nicht mehr gutartig, man hat nicht das Gefühl in einer heilen Welt zu leben, sondern in Gefahr zu sein und ständig aufpassen zu müssen. Eine Mischung aus Angst, Misstrauen und Aggression macht sich breit. Wurde bei der gutartigen narzisstischen Regression der ersten Stufe noch jeder lächelnd ignoriert, der die große Party störte, wird hier eher jeder misstrauisch beäugt. Menschen, die versuchen eine ausgleichende, moderate oder ambivalente Position der Mitte einzunehmen, passen schon nicht gut in das Weltbild der regressiven Stufe davor. Das kindlich moderierende Element leugnet Aggressionen und möchte sich und andere am Ende versichern, dass sich unterm Strich doch alle lieb haben und wir alle Menschen sind und irgendwie dasselbe wollen.

Hier nun, in dieser fortgeschrittenen Regression ist jeder, der von der genauen Linie abweicht ein Feind, ein potentieller Verräter und der beste Schutz vor Verrat scheint die Ausweitung der Kontrolle, am besten in den privaten Raum und auf die Gedanken zu sein. Oder, dass man seinerseits zum Verräter wird und dem anderen zuvor kommt. Linientreue ist das A und O, wer nicht für uns ist, ist gegen uns und es erscheint auf einmal rational, die potentiellen Aggressoren von morgen schon im Vorfeld zu beseitigen. In der von Massenregressionen der zweiten Stufe durchsetzten Logik von Freund und Feind ist das folgerichtig. Um selbst nicht verfolgt zu werden, verfolgt man andere. So können aggressive Mobs entstehen als Großorganisation ein paranoider Überwachungsstaat. Hier wird Aggression nicht geleugnet, sondern agiert. Nicht für kurze Zeit, sondern als gefühlter Lebenshintergrund: Der Feind ist überall. Paranoia dominiert in der Regel über den (gutartigen) Narzissmus, auch wenn während aller Stufen der Regression, zwischen Narzissmus und Paranoia Oszillationen, Sprünge hin und her, stattfinden. Mit den genannten Schwerpunkten.

Die dritte Stufe der Regression

Die dritte Stufe der Regression erscheint zunächst ein wenig seltsam. Denn die aggressive Komponente der paranoiden zweiten Stufe scheint hier wieder etwas in den Hintergund zu treten. Ein anderes Ideal tritt in den Vordergrund, das einer phantasierten, allversorgenden großen Mutter, die unbegrenzt geben kann und gibt und daher eher belohnend als bestrafend erlebt wird.

Seltsam ist diese Stufe, weil der Fortschritt der Regression nicht unmittelbar erkannt wird. Wenn die nette Party, mit an sich guten Menschen, in behaglicher Umgebung der ersten Stufe, in die misstrauische und aggressive zweite Stufe übergeht, ist die Verschärfung der Kampf- und Fluchtgruppe unmittelbar zu erkennen. Doch die weitere Regression wirkt irgendwie doch nett. So allumsorgend und bedürfnislos, fast etwas paradiesisch.

Doch es ist das illusionäre Paradies eines Babys, das sich mit der Welt und ihren aggressiven Komponenten noch nicht abgeben kann. Welt existiert noch nicht, sondern eine symbiotische Einheit mit der Mutter und diese Illusion der guten Mutter schützt das Kind vor tatsächlich anwesenden Aggressionen: Umweltreize, die für das Kind störend, aversiv und angstauslösend sind. Die Illusion der heilen Welt und der allversorgenden Mutter wird durch eine radikale Abspaltung negativer Impulse vor der archaischen Aggression gegen die versagende Mutter geschützt, das Bild der nur guten Mutter wird aufrecht erhalten oder gegründet.

Bezogen auf Regressionen der Masse und Gruppen bedeutet das, dass man nur vollkommen eins mit dem Anführer sein muss und alles ist in Ordnung. Der Anführer und sein Volk verschmelzen zu einer regressiven Einheit und es gibt nichts mehr, was wichtiger wäre, als das Wohl und Leben des Anführers, denn er und das Volk sind eins. Das kann man nicht spielen oder inszenieren, so muss man als Persönlichkeit sein. Narzisstische und paranoide Elemente sind hier zusammengeflossen, noch oder wieder ungetrennt, dazu kommen die Elemente Sadismus und ich-syntone Aggression, was dem Syndrom des malignen Narzissmus entspricht.

Unter diesen Bedingungen, finden wir den wütenden, zerstörerischen Mob, aber auch die organisierte Dehumanisierung mit Massenmord in den Straf- und Konzentrationslagern. Wenn das Leben und Schicksal des Anführers mit dem Volk verschmilzt, erscheint es plötzlich rational mit dem Führer in den ewigen Kampf des Faschismus zu ziehen. Auf dieser Stufe der Regression gibt es nur die Alternativen des totalen Triumphs oder Untergangs. Es scheint der wichtigste Punkt des eigenen Lebens zu sein, sich hier vollkommen in den Dienst der ohnehin gefühlten Einheit mit dem Führer oder der großen, allumsorgenden Mutter der Säuglingswelt, vor jeder Moral zu stellen. Eine Welt weitestreichender Verschmelzung und damit auch weitestreichender Entindividualisierung.

Ein charismatischer und sadistischer Anführer, der so hemmungslos und brutal ist und jederzeit bereit ist alles aufs Spiel zu setzten, ist nicht leicht zu finden, mit Hitler und Stalin fanden sich zeitgleich zwei, die sich und ihr Volk in einem regressiven Taumel wechselseitig anfeuerten.

Die Führung und ihre Gefolgschaft – Weniger eine Einbahnstraße als man denkt

Bion spricht von einem Rollensog, das heißt, ist der Anführer erst einmal gewählt, kann er nicht willkürlich tun und lassen, was er will, sondern muss die Erwartungen der Gefolgschaft auch erfüllen. Wie man sehen kann gibt es in der Masse dieselben Stufen der Regression, wie im Individuum und wie im Anführer. Stets geht es um das Gleichgewicht von Narzissmus und Paranoia und den Verlust desselben, das sodann, wenn es nicht wieder hergestellt werden kann, auf eine niedrigere moralische Organisationsstufe absinkt.

Das heißt, der Anführer der gutartigen narzisstischen Regression der ersten Stufe kann schon deshalb besonders gut ein mittelmäßig begabter narzisstischer Mensch sein, weil dieser die beruhigenden Klischees, die diese regressive Masse hören will, besonders gut vertreten kann: Sie entsprechen seiner eigenen inneren Einstellung. Wir müssen nur das – vermeintlich – verlorene Gefühl alle eine große, an sich von Missgunst und Aggressionen freie Familien zu sein, wieder zurück gewinnen und alles ist in Ordnung. Begegnungsfeste dieser und jeder Art schaffen es einen Abgrund zu überwinden, der darin liegt, dass man den anderen einfach nicht ausreichend kennt. Lernt man sich kennen, erkennt man, dass alle dasselbe wollen, so die wohlmeinend optimale, aber oft naive Version.

Der Anführer der Kampf- und Fluchtgruppe muss ebenfalls liefern, was seine Gruppe will. Er muss misstrauisch und aggressiv sein, strafen und verbieten. Ein Anführer, der zwar auch gönnen kann, aber vor allem jeden Fehltritt ahndet. Auch hier muss eine entsprechende charakterologische Disposition vorhanden sein. Wer anderen vor allem gefallen will, kann diese Rolle nicht einnehmen.

Anführer der dritten Stufe der Regression werden auch ‚Urheber der Illusion‘ genannt, ich führte oben aus, dass es um die lllusion der allumfasseden Versorgung und der regressiven Einheit geht.

Wir haben manchmal sehr primitive Bilder des Verhältnisses einer Situation von Führung und Gefolgschaft entwickelt. Oft sehen diese so aus, dass der oder die Anführer, sei es ein Staatschef, ein Konzernchef, ein Vorgesetzter, ein Intendant, Dirigent oder Trainer vorgeben, was zu tun ist. Weil der eben der Chef ist und weiß, wie es geht oder gehen müsste.

Jede menschliche Beziehungen ist aber immer von zwei Seiten abhängig. Dabei ist die Größe der Gruppe wesentlich, ein Team, gleich welcher Art mit drei oder fünf Mitgliedern, ist dabei psychodynamisch anders aufgestellt, als das mittelgroße Unternehmen mit 100 Mitarbeitern, ein Weltkonzern mit 20.000 Mitarbeiter oder gar eine Religionsgemeinschaft, eine politische Bewegung oder ein Staat mit möglicherweise vielen Millionen Mitgliedern oder Anhängern.

Je kleiner die Gruppe, umso entscheidender das direkte Feedback für den Führer. Umso größer muss auch dessen Sachkompetenz sein, die nahe am Thema liegt. Wer ein kleines Team führt und ein aktiver Teil ist, sollte schon überdurchschnittlich gut sein, sonst wird er als Anführer nicht akzeptiert. Je größer eine Bewegung, umso mehr verschieben sich die Anforderungen in den administrativen Bereich. Schon der Fußballtrainer muss nicht der beste Spieler sein, aber er muss gute Spieler erkennen und passend einsetzen können.

Schön, wenn der Führer eines Weltkonzerns, das was dieser produziert oder anbietet selbst noch von der Pike auf gelernt hat. Doch Multikonzerne stellen so gut wie alles her, so dass der Führer dies gar nicht beherrschen kann. Der Chef mittelgroßer Unternehmen geht manchmal durch den Betrieb oder schüttelt jedem die Hand, bei einem Staat ist das nicht möglich. Doch je größer der Konzern oder die Organisation, umso mehr wird organisatorische Kompetenz benötigt.

Dennoch ist der einzelne Mensch, bei aller realen Asymmetrie nicht nur Rädchen im System, auch wenn man immer austauschbarer wird, je größer das System ist. Ein Sportverein kann vielleicht den Abgang eines Topstars kaum kompensieren, ein großer Krankenhauskomplex wird es verschmerzen, wenn eine Koryphäe in Rente geht.

Aber schon die Verhältnisse von Topstar zu Trainer, zu Manager zeigt, dass die Kräfteverhältnisse auf mehreren Schultern lasten und schnell wird klar, dass der beste Stürmer ohne gute Vorlagen auch nichts ausrichten kann. Auch eine so dominante Figur wie ein Dirigent braucht die Unterstützung des Orchesters und dort ebenfalls einflussreiche Personen, wie die wunderschöne Geschichte von Rainer Küchl, dem Chef der ersten Geigen der Wiener Philharmoniker zeigt.

Nun gibt man Menschen in hierarchisch niedrigen Positionen gerne zu verstehen, dass sie jederzeit ersetzbar sind. So hält man sie klein, der Nächste wartet schon, heißt es offen oder hinter vorgehaltener Hand. Das stimmt oft nur bedingt, denn viele Arbeitszweige finden kaum noch Nachwuchs und so hat es sich längst etabliert ein Heer von Fremdarbeitern und einen grauen Markt zu dulden. Die Rumänen oder Bulgaren in der Fleischindustrie oder als Erntehelfer, die Polinnen in der häuslichen Dauerpflege. Auch Reinigungskräfte sind oft Menschen mit Migrationshintergrund.

Also alles sehr einseitig verteilt? Einerseits durchaus. Andererseits sind auch Chefs in einem hohen Maße vom Feedback und der Stimmung abhängig. Sie möchten nicht als Trottel dastehen, die den Karren vor die Wand gefahren haben, das tut ihnen und ihrem Ansehen nicht gut. Aber entscheidender ist etwas anderes, nämlich die psychische Disposition des Anführers und seine Interaktion. Sie möchten geliebt werden, können neidisch sein, sind argwöhnisch und brauchen ihre Untergebenen mehr, als allgemein bekannt ist und sind daher auch mehr als man meint bereit, ihren Kurs zu korrigieren und anzupassen.

Beides nicht zu unterschätzen: Der Anführer und die Masse, die er braucht

Anführer und Gefolgschaft bilden eine psychodynamische Einheit, deren Verhältnis nicht das einer Einbahnstraße ist. © clibou under cc

Vamik Volkan, Psychiater und Psychoanalytiker, sowie namhafter Friedens- und Konfliktforscher, schreibt zur Rolle des Anführers und seiner psychischen Disposition:

„Ein Grund, warum in Geschichts- und Politikwissenschaften die Persönlichkeit eines politischen Führers in ihrer Bedeutung unterschätzt wird – während es innerhalb der Bevölkerung durchaus ein Interesse dafür gibt – mag an der Dominanz sogenannter „rationaler Handlungsmodelle“ in der Innen- und Außenpolitik liegen […], die die Entscheidungsfindung eines Politikers nur von logischen Überlegungen und unabhängig von psychologischen Faktoren geleitet sehen. Ursprünglich geht diese Vorstellung auf August L. von Rochaus (1835) Konzept der „Realpolitik“ zurück. Es waren immer rationale Handlungsmodelle, die unter den verschiedensten Bezeichnungen das politische Denken des 20. Jahrhunderts, insbesondere jedoch die heiße Phase des Kalten Kriegs geprägt haben und die nach wie vor darüber entscheiden, wie wir das Verhältnis verfeindeter Gruppen sowie die Beziehungen zwischen Großgruppen und ihren Führern analysieren. Neben einer Reihe von Arbeitshypothesen basieren diese Modelle auf einer rationalen Kosten-Nutzen-Rechnung.

Politische Entscheidungen und Propaganda in Innen- und Außenpolitik gehen natürlich mit der rationalen Verarbeitung einer Fülle von Daten und Informationen einher – dazu zählt auch, was auf Seiten des politischen Führers als nationales Interesse oder Wille des Volkes dient, wie das Bild äußerer Feinde gezeichnet wird und mit welchen innenpolitischen Opposition er es zu tun hat. In der Tat mag es zahlreiche Situationen geben, in denen sich angesichts kaum vorhandener Alternativen und einer genau umrissenen Datenlage die vorhandenen Probleme ohne störenden Einfluss psychologischer Faktoren lösen lassen. Die innere Ausgeglichenheit des Entscheidungsträgers kann rationale Handlungsmodelle als Erklärung für die jeweils getroffenen Entscheidungen als ausreichend erscheinen lassen, sodass wenig Anlass besteht, nach verborgenen psychologischen Variablen zu suchen. Müssen politische Entscheidungen jedoch unter besonders komplexen und stressreichen Bedingungen für den Führer oder seine (d.h. nationale, ethnische) Großgruppe getroffen werden, greifen rationale Handlungsmodelle als befriedigende Erklärungskonzepte oftmals zu kurz. In diesen Fällen kann die Persönlichkeit bzw. Persönlichkeitsorganisation des politischen Führers ausschlaggebend dafür sein, inwieweit bestimmte politische oder diplomatische Entwicklungen in Gang gesetzt oder aber gestoppt werden.“[3]

Das ist der eine Aspekt. Der andere stammt von Gunnar Heinsohn, der unter anderem Wirtschaftswissenschaftler, Gewaltforscher und Sozialpädagoge ist und auf die Kurzformel zusammengefasst werden kann, dass noch der schlimmste Hetzer die Masse braucht, die ihm folgt und die auch (Thema des Youth Bulge) entsprechen jung und groß sein muss, bezogen auf den Anteil an der Gesamtbevölkerung. Die hormonell nervösen jungen Männer sind eher bereit bei einer Regression ihre Aggressionen in Form von Gewalt zu agieren, als alte Bevölkerungen, wie etwa unsere. Zwischen 15 und 29 Jahren soll sich der bedrohliche Wert befinden.

Was macht Menschen zu guten Anführern?

Otto Kernberg führt fünf Faktoren an: 1. Intelligenz. 2. Aufrichtigkeit und Unbestechlichkeit. 3. Die Fähigkeit zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Objektbeziehungen. 4. Ein gesunder Narzissmus. 5 Eine gesunde paranoide Einstellung.[4]

Gerade die letzten beiden Punkte mögen überraschen, denn Narzissmus und Paranoia klingen für unsere Ohren schnell pathologisch. Dass es auch eine gesunde Variante von ihnen gibt, ist oft nicht klar. Kurz gesagt, ist gesunder Narzissmus die Fähigkeit zu einer Selbstliebe, die den Führer in die Lage versetzt vom Lob der anderen nicht übermäßig abhängig zu sein. Eine gesunde paranoide Einstellung schützt den Anführer davor, verschlafen und naiv zersetzende Bewegungen und Intrigen zu verkennen.

Auch wenn ein Anführer diese Eigenschaften mitbringt, ist er ständig in der Gefahr, dass vor allem die letztgenannten Aspekte aus der Balance geraten und ein Pol den anderen überragt. Es kann sein, dass im Anführer selbst ein Ungleichgewicht dieser Kräfte vorhanden ist und er etwas zu narzisstisch oder paranoid daher kommt. Es kann aber auch sein, dass aus diversen Gründen die Stimmung und Psychodynamik der Anhängerschaft sich ändert. Man darf diesen relevanten Punkt nicht verkennen.

Ein Anführer muss es aushalten, nicht von allen gemocht zu werden, was schwieriger ist, als man denkt. Er muss sogar die Fähigkeit besitzen ein wenig Angst auslösen zu können, ohne es sadistisch zu genießen, ein Tyrann zu sein. Mit anderen Worten, sollte ein Anführer die Fähigkeit haben, ausgewogen und besonnen, auch unpopuläre Maßnahmen, die nicht auf Zustimmung von allen stoßen, treffen zu können, ohne dabei einem Egotrip zu folgen und zu zu glauben, alles besser zu wissen. In dem Fall sammelt er nur Ja-Sager um sich und schafft sich seine eigene Blase, eine Gefahr vor allem des narzisstischen Anführers, der Widerspruch und konstruktive Kritik nicht verarbeiten und ertragen kann.

Ein Chef, vielleicht mehr noch ein politischer Anführer muss sicher ein Stück weit narzisstisch sein, vielleicht sogar übertrieben, damit er die Position der Nummer 1 ausreichend genießen kann, wie Volkan in seinem oben zitierten Text weiter ausführt. Der Narzissmus kann seiner Meinung nach in Charisma transformiert werden, diese so schillernde Eigenschaft die Stimmung des Volkes oder der Gesellschaft aufzunehmen und in öffentlichen Auftritten zu treffen und die persönliche Aura, irgendwie faszinierend zu wirken. Der charismatische Führer kann viel Gutes bewirken, aber Volkan skizziert die Ambivanlenz, wenn er warnt:

„Er kann jedoch auch Schreckliches in Gang setzen, insbesondere wenn sich die Großgruppe der der politische Führer angehört, in einem Zustand der Regression befindet und Vergeltung als rechtmäßige Reaktion auf aktuell erlittene Traumata und/oder gewählte Traumata ansieht. Wenn ein narzisstischer Führer ein gewähltes Trauma reaktiviert und schürt und eine Atmosphäre der Viktimisierung schafft, in der es zum Zeitkollaps kommt, sollte die Möglichkeit einer destruktiven Entwicklung in Betracht gezogen werden. Wenn sich innerhalb einer Großgruppe ein allgemeines Gefühl von Opfertum breit macht, kann der Wunsch nach Vergeltung entstehen. Es ist sehr zweifelhaft, dass ein zukünftiger politischer Führer eine Psychoanalyse machen wird, bevor er an die Macht kommt. Auf der anderen Seite sollte Psychoanalytiker, die politische Prozesse und die Interaktion zwischen Führern und ihren Anhängern ernsthaft beobachten und untersuchen, auf die Gefahrensignale hinweisen, die destruktive narzisstische Führer erkennen lassen.“[5]

Das Gleichgewicht zwischen den Teilen der Gesellschaft, in der Psychodynamik zwischen Anführer und Gesellschaft, aber auch in der Psyche des Anführers geht immer wieder mal verloren und das ist kein größeres Problem, solange er oder sie über die Fähigkeit verfügt, dieses Gleichgewicht zwischen narzisstischen und paranoiden Anteilen wieder herzustellen. Gelingt es ihm nicht, entsteht die Gefahr einer Regression der Gesellschaft.

Regressionen sind – und so sind sie ja auch definiert – ein Zurückfallen auf eine Stufe der moralischen Kindheit. Im Grunde also eine ebenfalls stufenweise Umkehr der normalgesunden Entwicklung des Kindes. Gute Anführer sollten bestrebt sein Regressionen in der Gesellschaft zu vermeiden, sie aber mindestens auf die Regression der ersten, gutartig narzisstischen Stufe zu beschränken. Das ist aber bereits ein Ritt auf der Rasierklinge, wie wir erkennen können, wenn wir unsere eigene, vor allem westdeutsche Vergangenheit reflektierend anschauen.

Wir haben bereits öfter ausgeführt, dass die Menschen in den 1970ern bis Ende der 80er innerlich von einem Fortschrittsoptimismus durchdrungen waren, der äußerlich gar nicht formuliert werden musste. Dass die nächste Generation es mal besser haben würde, schien gesetzt, dies war das stille aber kräftige Band, was die Gesellschaft zusammenhielt. Nach der Umstellung auf den Euro habe ich zum ersten mal bewusst wahrgenommen, dass das stille Grundgefühl, dass es demnächst allen besser gehen wird, kollektiv gewichen ist und uns statt dessen erklärt wurde, wohl weil uns erklärt werden musste, dass es uns so gut wie nie zuvor geht. Wer sich allerdings wirklich gut fühlt, den muss man davon nicht erst mit viel Aufwand überzeugen. Man merkt das gewöhnlich selbst und wer das nicht merkt, dem geht es eben nicht gut.

Das, wenn auch stille, so doch gemeinsame Ziel einer erreichbaren besseren Welt ist uns abhanden gekommen und ich führte aus, worin die Gefahr liegt, wenn Ziele abhanden kommen. Die Orientierung geht verloren und die Gefahr einer Regression, wächst und nach meiner Beobachtung sind wir seit Jahrzehnten inmitten einer Regression.

Macht Angst die Menschen gefügig?

Macht Angst die Menschen gefügig? Ein klein wenig ja, wir sahen, dass eine guter Anführer auch in der Lage sein muss Angst auszulösen, was nichts anderes heißt, als dass er nicht um jeden Preis geliebt werden will. Kann man dem Anführer ungestraft auf der Nase herum tanzen, so verliert er seine Autorität. Straft er willkürlich und exzessiv, so löst er Regressionen in der Gruppe aus, auf die ich oben ausführlicher einging. Letztlich müssen Sanktionen von den meisten rational nachvollzogen werden können.

Das wiederum hängt auch von dem Zustand breiter Teile des Bevölkerung zusammen. Auch dieses Gleichgewicht ist dynamisch, was heißt, dass es ständig und immer wieder aus der Balance gerät. Das allein ist also nicht schlimm, das kennt man aus der eigenen Partnerschaft, entscheidend ist auch hier, ob und dass ein neues Gleichgewicht justiert werden kann.

Die Machtverhältnisse von Führung und Gefolgschaft sind weniger asymmetrisch verteilt, als man meint. Ob Angestellte oder Bürger eines Staates, sie können sich komplett verweigern, in dem sie innerlich kündigen, was in beiden Fällen heißt, man funktioniert nur noch im Modus ‚Dienst nach Vorschrift‘, hält innerlich den Mittelfinger hoch und tut keinen Deut mehr als man muss. Ob Staat oder Firma, beide sind vom freiwilligen Engagement ihrer Bürger und Mitglieder – etwas mehr zu tun als nötig – abhängig, sonst läuft schnell gar nichts mehr.

Die Führung kann darauf exzessiv reagieren und zum paranoiden Terror- und Überwachungsstaat werden, aber das fördert nur die Regression und das sind keine Staaten in denen man freiwillig leben möchte. Dann regiert sie durch Terror und Angst, zerstört sich dabei aber oft selbst. Freie Staaten wählen ihre Anführer selbst, es kann dabei durchaus vorkommen, dass sie solche wählen, die die Möglichkeit freier Wahlen einschränken bis abschaffen.

Angst vor realistischen Folgen aufzuzeigen, ist ein Instrument auch gesunder Formen der Macht. Die Angstmacherei aber zu sehr zu nutzen oder zu strapazieren, ist ein Spiel mit dem Feuer, zumal in einer Gesellschaft in der Regression. Regressionen der Masse und Gruppen sind eine reale und große Gefahr für die Gesellschaft, damit sollte man nicht spielen, zumal man diese Prozesse keineswegs so gut kontrollieren kann, wie man meint. Es muss verstanden werden, dass gute Erklärungen die eine Seite der Medaille sind, gut geeignet, für die differenzierten und weniger der Regression unterworfenen Teile der Bevölkerung. Man darf bei all dem aber nicht verkennen, dass Teile der Bevölkerung Argumenten und rationalen Erklärungen gar nicht mehr zugänglich sind oder sie in pseudorationaler, letztlich aber paranoider Weise (eine fortgeschrittene Form der Regression), jede Kritik und Erklärung gleich gut finden, weil die Prämissen in einer Regression fest stehen und die Begründungen gesucht werden. Anders als in der Wissenschaft, wo – idealerweise – die Prämissen oder Hypothesen einer Prüfung unterzogen werden.

Die Appelle an uns alle, die man in jüngster Zeit hört, sind an sich nicht falsch, weil sie an den mündigen Bürger appellieren. Wenn dies nur machtstrategisch gemeint ist, aber nicht ernst, wird auch das bemerkt werden und die Spaltung des Landes und die Sprachlosigkeit zwischen einzelnen Gruppen wird noch größer werden. Die Regressionen der Masse und Gruppen werden dann effektiv gestoppt, wenn das erwachsene Individuum angesprochen und tatsächlich strategisch und nicht nur im taktischen Bedarfsfall gefördert wird. Man darf nicht nur so tun, als ob man dann und wann mal den Bürger ernst nimmt und den mündigen Bürger will. Eine Gesellschaft besteht nicht aus zu lobenden und zu strafenden Kindern, eine Infantilisierung der Bevölkerung ist dasselbe wie ein regredierte Bevölkerung, es geht um Kooperation auf Augenhöhe, da die zu stemmenden Krisen in der nächsten Zeit nicht weniger werden.

Quellen:

  • [1] Otto F. Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Klett-Cotta 1998, S. 290
  • [2] Otto F. Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Klett-Cotta 1998, S. 290f
  • [3] Vamik D. Volkan, Großgruppen und ihre politischen Führer mit narzisstischer Persönlichkeitsorganisation, in: Otto F Kernberg (Herausgeber), Hans P Hartmann (Herausgeber), Narzissmus: Grundlagen – Störungsbilder – Therapie, Schattauer 2009, S. 205f
  • [4] Otto F. Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Klett-Cotta 1998, S. 153
  • [5] Vamik D. Volkan, Großgruppen und ihre politischen Führer mit narzisstischer Persönlichkeitsorganisation, in: Otto F Kernberg (Herausgeber), Hans P Hartmann (Herausgeber), Narzissmus: Grundlagen – Störungsbilder – Therapie, Schattauer 2009, S. 225