Schärfegrad 3b (noch etwas schärfer): Die andere Meinung

Es gibt keinen Schärfegrad, der nicht noch zu steigern wäre. Was halten Sie aus? © Ozzy Delaney under cc

Wir zeichnen hier große Schritte nach. Der von Schärfegrad 2 zu 3b besteht darin, dass man hier nicht mehr versucht Gründe dafür zu finden, warum die eigene Meinung richtig ist, sondern begriffen hat, dass man vor allem weiter kommt, wenn man sich aufmacht und mit aller Kraft versucht herauszufinden, was an der eigenen Meinung, Einstellung und Vorstellung von Welt nicht stimmen könnte.

Natürlich wird man Gründe dafür haben, dass man so denkt, wie man es gerade tut und es ist gut, wenn man diese nennen kann. Aber es geht eben darum, den nächsten Schritt zu machen und der ist nicht die Verteidigung der eigenen Position, sondern diese aktiv und indem man Kritik anderer an sich heran lässt, infrage zu stellen. Was könnte falsch sein, an meiner Überzeugung?

Nüchtern betrachtet ist das die Prüfung einer These. Wer professionell damit zu tun hat, kann das oft auch so entspannt sehen. Man stellt die These auf, prüft dann, ob was dran ist, wenn nicht, verwirft man die These und sucht eine neue. Aber nicht jeder ist Profi und arbeitet in diesem Bereich seines Fachgebietes und geht so nüchtern an die Sache heran. Denn eine These zu haben, heißt eben auch eine Behauptung aufzustellen und im Alltag oft, eine bestimmte Überzeugung zu haben. Auch diese hat man nicht grundlos.

Es kann aber auch passieren, dass man als Profi von einer These nicht gut ablassen kann. Verständlich wird das etwa dann, wenn man forschend eine Idee verfolgt, meint, man wäre auf der richtigen Spur und auf einmal stimmen irgendwelche Daten nicht mehr überein. Nun hat man aber vielleicht schon zwei Jahre Lebenszeit investiert und bald einen Abgabetermin. Die Versuchung ist da, die Werte mal eben zu ‚korrigieren‘ und nicht die eigene These, bei der vielleicht bis dahin alles stimmte. Weil eben Zeit, Arbeit und vielleicht Herzblut drin stecken.

Dass man bei Alltagsüberzeugungen weniger entspannt ist, kann durchaus auch dem Profi passieren, der es in einer Wissenschaft spielend schafft, die eigenen Thesen emotionslos zu revidieren, wenn etwas nicht stimmt. Die Freude, nun doch immerhin schon mal zu wissen, was nicht stimmt, stünde ja zur Verfügung. Aber unser Leben und Chrarakter ist nicht immer leichtgängig und das macht das, was ich anfangs Thesen nannte, mitunter so brisant. Es sind eben nicht nur irgendwelche abstrakten Ideen darüber, was welchen Einfluss etwas auf die Vermehrung von Fröschen hat, sondern manchmal müssen wir auch mit unseren tiefsten Überzeugungen über die Welt so umgehen und sie als vorläufige Hypothesen ansehen.

Gleichzeitig ist es für unsere psychische Stabilität aber wichtig, stabile Überzeugungen zu haben, die sich eben nicht täglich ändern, sondern verlässlich sind. Wer ständig an allem zweifelt gehört eher der paranoiden Gruppe an. Beides geht in dem Moment zusammen, indem man seine besten Argumente, aufgrund derer man überzeugt ist, dass die Welt so funktioniert, wie man es eben annimmt. mit den besten Gegenargumenten konfrontiert und wenn man im lichte intellektueller Redlichkeit noch immer überzeugt bleiben kann, ist alles in Ordnung. Es zeigt aber gleichzeitig, wieso man so in Rage geraten kann, wenn jemand ganz anders denkt, empfindet und lebt, als wird es tun, Er zeigt damit nämlich, dass es eben auch anders geht. Eine Herausforderung, weil man die eigene Sicht- und Lebensweise in aller Regel ja doch für die beste und erstrebenswerteste hält, sofern man das Glück hatte, sein Leben halbwegs frei gestalten zu können.

Schafft man es aber, sich der Kritik an den eigenen Überzeugungen zu stellen und sie dankbar anzunehmen, ist man einen großen Schritt weiter. Was theoretisch einfach klingt, ist praktisch oft ungeheuer schwer umzusetzen, weil dem eben unsere fundamentalen Überzeugungen entgegen stehen, die hier verhandelt werden könnten. Auch wenn diese revidiert werden, ist man einen großen Schritt weiter, aber zugleich desorientiert und schutzlos, seiner tiefsten Überzeugungen beraubt. Wenn das nicht stimmt, ja was stimmt denn dann überhaupt? Was soll ich denn jetzt (noch) glauben?

Schärfegrad 4 (sehr scharf): Der immer größere Kontext

Wir überschätzen uns oft. Das betrifft häufig jene, die meinen, sie seien jederzeit bereit alles infrage zu stellen, würden überhaupt kein Weltbild und keinen privilegierten Interpretationsmodus besitzen. Kritik und Zweifel seien hingegen ihr ständiger Antrieb, vor Weltbildern hätten sie immer schon gewarnt und sie selbst würden die Dinge, Menschen und die Geschehnisse der Welt insgesamt schon seit Jahren anschauen, wie sie nun mal sind.

Auch so eine Einstellung kann man haben und mit ihr durchs Leben kommen, sollte sich nur nicht vormachen, dahinter stünden keine Überzeugungen und kein Weltbild. Denn man kann ja ganz einfach fragen, wie sie denn so ist, die Welt und das was in ihr passiert. Menschen, die glauben, sie würden die Dinge einfach sehen, wie sie sind, in der Regel der Überzeugung, man brauchen dabei einfach nur hinzuschauen, sehen könne man es an jeder Ecke, wenn man sich nicht den Blick vernebeln und die Ohren voll labern lässt. Diesen Punkt kann man platter oder intelligenter vertreten, aber er hakt immer an einer Stelle.

Man kann keinen ‚Blick von Nirgendwo‘ einnehmen, es gibt keine letzte objektive Warte, kein Außerhalb, von dem aus man auf ‚die Welt‘ blicken kann. Auch nicht auf die Gesamtheit dessen, was in ihr stattfinden. Fragt man jemanden wie sie denn nun sei, die Welt und schafft es jemand dabei weder auszuweichen („Sieht man doch.“) oder in Floskeln abzugleiten („Nicht gut, aber auch nicht schlecht.“), so wird die Schilderung immer ein selektiver Blick sein. Der kann schlichter, aber auch brillant sein, er kann jedoch nur ein Teil des Ganzen sein. Dieser Teil kann richtig sein, in dem Sinne, dass er recht gut erklären kann, was man sieht. Aber auch andere Sichtweisen können in dem Sinne richtig sein. Die eine konsistente Erklärung schließt ja die andere nicht aus.

Wie funktioniert sie denn nun, die Welt? Nach den Regeln der Physik? Der Biologie? Der Macht? Nach Gottes Willen? Der Mathematik? Der Wahrscheinlichkeit? Oder doch von allem etwas, noch vermischt mit Psychologie, Soziologie und Philosophie? Aber wo ist der Übergang? Wer ist zuständig, wenn es um das Bewusstsein von Menschen geht? Die Philosophie des Geistes, die Neurobiologie, die Psychoanalyse, der Behaviorismus, die Kognitionspsychologie, die Evolutionsbiologie, die Systemtheorie, die Anthropologie oder noch ganz andere Disziplinen? Alle ein bisschen? Aber wo ist der eine nicht mehr zuständig, dafür aber der andere, wo verläuft die Grenze? Wir wissen es nicht. Niemand weiß es, jeder hat so seine individuelle Mixtur. Prima, wenn man damit gut durchs Leben kommt, aber mehr heißt das auch nicht, schon gar nicht, dass man recht hat.

Manche glauben, weil der Mensch ein willkürliches Wesen ist und vermutlich sein muss, sei es eben wichtig zur Objektivität durchzudringen. Messen muss man und alles ist in Ordnung, denn das ist objektiv, oder? Doch Messvorrichtungen muss man ’sagen‘, was sie messen sollen. Ob das Gewicht, die Länge oder Neutronen. Die Hauptwörter, die Intelligenz oder den Neurotizismus. Die Messgeräte sind dabei sehr unterschiedlich und natürlich wiederum nur selektiv. Und wie justiert man vor, was wirklich wichtig ist? Das ist wieder theoretisch. Eine letztendliche Objektivierung gibt es nicht. Auch nicht hinten herum, indem man sagt, die Summe der subjektiven Einstellungen seien Teil der objektiven Welt, weil in keiner Weise klar ist, was diese Summe denn nun sein soll. Addiert man einfach nur und bildet einen Mittelwert? Wie kommt man an die Einstellungen von jemanden, der sich doch selbst nur zum Teil kennen kann, der Rest liegt ja im Unbewussten? Und wie, nach welchen Regeln, setzt man dann alle Messwerte am Ende des Tages zusammen? Mal ist der Einfluss des Großvaters größer, mal jener der Harnsäure oder des Einkommens, kommt eben auf die Fragestellung an.

Vielleicht sagt Rainer Maria Rilke es am besten:

Ich lebe mein Leben

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.[2]

Wir sind zu einer dynamischen Lösung übergegangen, die ganz gut funktioniert, im Alltag wie in der Wissenschaft. Wir haben Näherungen für Zuständigkeiten entwickelt. Wenn die Heizung defekt ist, rufen wir nicht den Zahnarzt. Das klappt auch ganz gut, im Alltag, grob gesehen auch in der Wissenschaft, aber eben nicht immer, da wir keine letztendlichen Zuständigkeiten zuordnen können. Und so ungefähr, das reicht eben nicht, wenn man präzise argumentieren will und auch das ist es, was wir alle üben sollten.

Könnte nicht alles ganz anders sein?

Das ist die Stunde derer, die sich ganz radikal fragen, ob nicht ausnahmslos alles anders sein könnte, als wir denken. Wir befinden uns immer noch auf Schärfegrad 4.

Klar, könnte alles anders sein, aber was soll das genau heißen? Grundsätzliche Überlegungen dazu gibt es reichlich, von der alten Frage, ob man nun eigentlich wach ist oder doch schläft und nur träumt, wach zu sein. Oder sind wir nur der Traum eines malignen Dämons? Oder ein Gehirn im Tank, dem man die Welt die es kannte per Supercomputer simulierend vorgaukelt? Ein philosophischer Zombie der ohne Bewusstsein agiert, ohne das jedoch zu merken? Die schönen Matrix-Filme spielen mit diesen Ideen.

Nehmen wir mal an, es sei so, die Welt wäre völlig anders, als wir denken. Wie wäre sie denn dann? Indem man das formuliert, formuliert man ja schon wieder seine Lieblingsidee. Etwa, dass es dahinter eine Welt der Ideen gibt oder reine Mathematik. Aber was hieße das nun bezogen auf die Welt, die wir täglich erleben? Denn, wir erleben ja eine.

Die Zweifler wollen sich hingegen nicht festlegen und beharren darauf, dass es aber doch sein könnte, dass, auch wenn man nicht weiß wie, es zumindest doch nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Welt ganz anders sein könnte. Man kann sich auch auf diesen Gedanken einlassen, nur was genau fangen wir dann damit an, wenn alles derart vage bleibt?

Es kann natürlich sein, dass im nächsten Moment das Vorhang zerreißt und sich der Blick auf das was dahinter ist offenbart. Dann erkennt jeder wie es ist. Oder erblindet oder wird irre, man weiß es nicht. Aber bis dahin? Was folgt für mich genau jetzt daraus? Wie sollte ich mich vorbereiten und vor allem, auf was, wenn doch alles anders ist? Wie anders ist es denn? Sind unten und oben vertauscht oder enthüllt der bösartige Gott sein Antlitz? Oder ist doch alles nur eine Simulation des Supercomputers, eine große Fernsehshow? Auf was genau soll ich mich denn nun vorbereiten? Einfach darauf, dass alles ganz anders ist, als ich denke, kann ich mich nicht vorbereiten, selbst wenn ich wollte. Weil das komplett inhaltsleer ist, oder anders gesagt, alle Möglichkeiten enthält.

Man kann uns täuschen, aber wenn man ohnehin nichts dagegen tun kann, braucht uns auch das auch nicht zu jucken. Denn außer der konstanten Möglichkeit, dass alles anders sein könnte, ist die Welt nun mal aktuell so wie immer. Wie sie in der letzten Zeit eben war. Auch die Illusion, wenn sie denn eine ist, folgt ja bestimmten Regeln. Jetzt, seit der Covid-19 Pandemie ist ja schon einiges anders, aber es gibt immer noch Regen. Stifte fallen noch immer zu Boden und nicht an die Decke. Mein Lieblingsbuch ist noch immer das gleiche und 3 + 2 sind noch immer 5.

Dem absolut übermächtigen Anderen kann seine Macht über uns recht einfach entzogen werden. Der maligne Gott, der mit und macht, was er will, den es nicht juckt, ob wir Beten oder Sündigen, der uns einfach in jedem Moment zeigen kann, wie sehr wir ihm ausgeliefert sind, er braucht uns nicht zu jucken, denn wer sich auf kein Spiel einlässt, dem brauchen wir nicht zu folgen. Wir könnten diesem Gott nichts recht machen, denn er ist ja gerade dadurch definiert, dass er sich nicht dafür interessiert. Wir könnten ihm und jedem anderen prinzipiell bösartigen Wesen gar nicht dienen, denn es allenfalls dafür uns zu verwirren oder zu quälen, daher ist es gleichgültig was wir tun. Vielleicht kommt die Quittung, aber solange ist die Welt die wir ja schon kennen, jene, in der wir uns bewegen.

Soll heißen, je radikaler die Andersartigkeit zu sein scheint, die man annimmt, umso weniger folgt aus ihr. Fragen Sie mal jemanden, mit einer steilen These, was das nun für ihn konkret bedeutet. Was denn für ihn daraus folgt, im Bezug auf seine Arbeit, seine Beziehungen, Lieblingsmusik oder das, was er gerne so isst oder die Rentenvorsorge. Eigentlich nichts, und erstaunlicherweise oft umso weniger, je radikaler die Skepsis zu sein scheint.

Die meisten denken auch nicht, dass wirklich alles anders sein könnte, sondern sie denken, die Welt wäre schon irgendwie so, wie sie im Großen und Ganzen scheint, aber da gäben es noch eine Art doppelten Boden und dann doch vieles nicht so, wie es uns vorkäme. Irgendwie wären wir alle ferngesteuert, konditioniert oder manipuliert. Dem sind wir in: Sind wir alle manipuliert? nachgegangen.